»Ich bin immer noch der einzige Innovative auf der ganzen Welt«

Mode, Möbel, Raumanzüge: Pierre Cardin arbeitet seit mehr als 60 Jahren am Design der Zukunft. Ein Gespräch mit dem größten Futuristen der Gegenwart.

Der Altmeister Pierre Cardin, 1922 in Venedig geboren, lernt in den Pariser Couture-Salons von Jeanne Paquin und Christian Dior. 1953 präsentiert er seine erste Haute-Couture-Damenkollektion. Er erfindet »Prêt-à-porter«-Mode, entwirft Möbel und als erster Modedesigner eine Herrenlinie und Weltraumanzüge. 1981 übernimmt er das legendäre Etablissement »Maxim’s de Paris«. Als einziger Couturier ist er Mitglied der französischen Akademie der Schönen Künste.

SZ-Magazin: Herr Cardin, Sie galten immer schon als Visionär. Kann man das auch noch mit 85 sein?
Pierre Cardin:
Aber natürlich! Gerade erst habe ich einen Anzug entworfen, der sich aufblasen lässt. Die Arme und die Beine sind in Luftkissen gehüllt. Das schützt vor Wärme und Kälte! Das gab es bislang noch nie! (Cardin steht auf, geht zu seiner riesigen Regalwand, kommt mit einem Bildband wieder und zeigt Bilder von Models, deren Hosen am Knöchel kreisförmig abschließen.) Vor langer Zeit habe ich schon gesagt, dass die Menschen eines Tages auf den Gehsteigen rollen werden! Sie meinen Inlineskater?
Ja, klar! Und ich habe es schon 1967 vorausgesehen.

Im selben Jahr mixten Sie auch neue Materialien wie Plastik und Vinyl mit Jersey zu straßen- und weltraumtauglichen Kombinationen. Haben Sie den Futurismus erfunden?
Nein, das glaube ich nicht. (Cardin läuft erneut zu den Regalen und zieht verschiedene Bücher und Magazine heraus. Papierstapel fallen herab. Er kommt zurück und setzt sich.) Die ganze Epoche damals so um 1960 war futuristisch. Schauen Sie!

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Aber lange nicht so futuristisch, wie Ihre Kollektionen waren!
Geduld! Sie werden sie schon noch sehen. (Cardin blättert weiter, bis zu den Bildern seiner Kollektion »Cosmocorps«.) Und jetzt schauen Sie mal: Das war Cardin damals. Vor 40 Jahren.

Overalls aus Plastik und hautenge, metallisch glänzende Bodysuits – also haben Sie doch den Futurismus in der Mode erfunden.
Das war eben meine Mode. Hier: Das ganze Buch handelt nur von Cardin. Schauen Sie die Stiefel an! Die waren elegant und knalleng. Meine Stiefel! Nicht diese Männerstiefel, die es heute gibt, diese Cowboystiefel. Damals trug man Ihre eleganten ScienceFiction-Stiefel und heute Cowboystiefel.

Heißt das, Futurismus war nur eine Erscheinung des letzten Jahrhunderts?
Die Zukunft ist immer erst morgen.

Was ist heute visionär?
Meine Modelle sind es, ohne dass ich es beabsichtigen würde. Meine ganzen Entwürfe sind sehr avantgardistisch. Und deshalb noch nicht modern. Das ist ein wichtiger Punkt, das Moderne kommt dann später! Das ist wie mit »Le Palais Bulles«. Das Haus, in dem ich wohne und das ich mitgestaltet habe: ein Palast, der aus 25 Kugeln besteht, in dem es keine Ecken und Kanten gibt. (Cardin läuft erneut zum Regal und zieht Bilder seines Hauses hervor.)

»Le Palais Bulles« war eigentlich ein Experiment des Architekten Antti Lovag und des Fabrikanten Pierre Bernard. Welche Vorstellung des Wohnens wollten Sie denn damit verwirklichen?
Das Runde ist praktisch die Urform der Existenz. Wenn Sie uns zu Beginn unseres Lebens im Mikroskop betrachten, sind wir alle ganz rund! Im Runden fühlt man sich immer wohl! Man ist nie eingeengt! Die Welt ist rund!
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Pierre Cardin vergisst eine Frage und redet über Träume und praktisches Design.

Warum sind solche Häuser heutzutage nicht häufiger zu sehen, wenn sie Ihrer Meinung nach so visionär waren?
Das ist doch logisch: Es gibt immer einen, der die Idee zuerst verwirklicht. Danach wird sie von mehreren imitiert und letztlich zur Norm.

Es ist aber immer noch nicht üblich, runde Häuser zu bauen.
Warum soll das nicht normal sein? Ich lebe darin! Das funktioniert sehr, sehr gut! Man fühlt sich wie im Weltall.

Haben Science-Fiction-Romane und -Filme Sie zu diesem Palast inspiriert?
Wissen Sie, das war damals überall! In der Presse und so. Und natürlich hat mich mein Traum inspiriert.

Welcher Traum?
Na, dass man eines Tages auf dem Mond spazieren gehen könne!

Träumen Sie noch immer davon?
Nein. (Cardin läuft wieder herum.)

Herr Cardin?
Ja?

Wovon träumen Sie heute?
Ich kann Ihnen doch nicht meine Träume erzählen. Träume kommen und gehen. (Cardin kommt mit Bildern von Astronauten zurück.) Schauen Sie mal: Diese Anzüge sind von mir. Neil Armstrong trug so einen. Und ich bin auch schon darin herumgelaufen. So läuft man darin! (Cardin hebt die Arme in die Waagrechte und rudert ein wenig. Dabei zieht er die Knie nach oben.) Ich wusste schon immer, dass man eines Tages auf dem Mond laufen würde.

Muss Design praktisch sein?
Design ist nie praktisch. Am Anfang ist es zumindest nichts für den Alltag. Erst nach 20, 30 Jahren wird zum Beispiel die Mode, die zu Beginn Kunst ist, tragbar. Die Proportionen ändern sich. Ich habe zum ersten Mal auf der Welt Möbel entworfen, die nach allen Seiten hin offen sind! Das war visionär und praktisch!

Sie nannten sie »Utilitäre Skulpturen«, weil sie wie Kunstobjekte wirkten, aber auch eine Funktion hatten. Dennoch haben sich diese Möbel genauso wenig durchgesetzt wie »Le Palais Bulles«.
Weil die Designer nicht mehr innovativ sind, so wie es früher Courrège und Paco Rabanne waren. Heute kann ich nirgends mehr Kreativität entdecken!

Gibt es denn heute keine Kollegen mehr, deren Ideen Sie schätzen?
Vielleicht existieren sie noch, ich weiß nur nicht, wo. Aber ich bin nicht da, um andere zu kritisieren. Stellen Sie also keine Fragen, die mich dazu bringen sollen, andere zu kritisieren! Es langweilt mich.

Sie jedoch wurden von anderen oft kritisiert. Man hat Ihnen vorgeworfen, Ihren Namen kommerzialisiert, seinen Wert verscherbelt zu haben.
Ich verkaufe Sachen, die meinen Namen tragen, aber nicht seinen Wert! Mein Name wurde berühmt, zu einer Marke! Zu einem Etikett – sogar in China! Und das war mein Ziel, als ich 20 war. Da fing meine wunderbare Karriere an. Ich war auch ein sehr hübscher junger Mann. (Cardin steht auf und kommt mit einem Stapel Zeitschriften zurück.) Als ich in Paris ankam – schauen Sie, wie elegant ich war! Wie der junge Jean-Paul Belmondo. Und diese Fotos sind schon 60 Jahre alt. Das ist unglaublich, oder? Überhaupt nicht aus der Mode gekommen. Das war Avantgarde. Und die großen Journalisten liebten mich schon damals. Cardin auf allen Titeln!

Da wir gerade darüber sprachen, dass Ihre Entwürfe irgendwann sehr kommerziell wurden…
London Times Magazine! Der Krieg in Korea, und auf demselben Cover wird die neue Kollektion von Pierre Cardin angekündigt! Auf der ersten Seite!

Mit dem Erfolg wurde Ihre Arbeit dann auch kommerzieller.
Ja, ich hatte schließlich auch das Gespür dafür, meinen Namen zu vermarkten. Verdirbt Geld die Ideen? Ich träume ja nicht vom Geld, aber während ich träume, verdiene ich Geld. Um das Geld ging es mir nie.

Haben Sie eigentlich einen guten Anlageberater?
Was bringt es denn, sein Geld anzulegen! Geld macht unglücklich, wenn man es zur Bank bringt und spart. Freude kann man nicht kaufen und man bekommt sie nicht geschenkt. Ich könnte jetzt schließlich bald sterben. Sehr reich sterben. Also was bringt es schon, reich zu sein?

Haben Sie das Design demokratisiert oder banali…
Ich habe das Design demokratisiert! Genau! Ich habe meinen Namen demokratisiert.

Haben Sie ihn nicht vielleicht eher banalisiert?
Banalisiert?

Ja, banalisiert. Haben Sie das Design banalisiert?
Aber ich bin doch immer noch der einzige Innovative auf der ganzen Welt! Alle kopieren mich. Ich demokratisiere, die anderen banalisieren. Alle machen jetzt das, was ich vor 40, 50 Jahren schon gemacht habe. Aber es gibt einen großen Unterschied: Die Marke »Pierre Cardin« gehört allein mir. Ich bin der einzige Modeschöpfer, der die Rechte an seiner Marke nicht verkauft hat. Alle anderen haben ihre Financiers und so weiter. So schlecht war mein Konzept also nicht!

Tragen Sie eigentlich selbst »Pierre Cardin«-Socken?
Ja, selbstverständlich! Auch Unterwäsche! Und warum soll es entwürdigend sein, Klopapier mit seinem Namen darauf verkauft zu haben? Sie kennen all die Vermögenden, die unheimlich viel Geld haben. Wenn Sie wüssten, woher das stammt, wären Sie sehr erstaunt. Wohingegen ich stolz darauf sein kann, an der Qualität meiner Entwürfe gearbeitet zu haben. Das ist ein großer Unterschied.

Gab es jemals einen Entwurf, an dem Sie gescheitert sind?
Nein. Mir gelang immer alles.

Also blicken Sie sehr gern zurück?
Nein, nein. Ich habe zwar nichts dagegen, aber ich schaue viel lieber nach vorn. Ich bin Botschafter, ich bin in der Akademie der Schönen Künste, niemand sonst aus der Industrie oder der Modewelt ist in der Akademie!

Haben Sie denn noch weitere Projekte und Pläne für die Zukunft?
Hören Sie: Ich baue noch Hotels, ich entwerfe Bäckereien und Konditoreien. Ich habe noch Lust zu arbeiten!

Und das tun Sie immer noch ohne Computer. Warum ist denn gerade einer wie Sie, den die Raumfahrt stark fasziniert, so altmodisch?
Das interessiert mich eben einfach nicht. Ich brauche so etwas nicht, um modern zu sein: Ich habe vor zwei Monaten den amerikanischen internationalen Preis für Mode bekommen. Das ist immer noch der beste internationale Preis für Mode auf der ganzen Welt. In New York.

Herzlichen Glückwunsch. Haben Sie eigentlich ein Handy?
Ja, aber das benutze ich nie.

Waren Sie schon mal im Internet?
Ich brauche das nicht, um zu arbeiten. Und da ich immer arbeiten möchte, wäre das nur Zeitverschwendung. Ich habe auch sonntags immer schon gearbeitet. Die anderen gingen spazieren und ich arbeitete. Das ist mein Sport und meine Leidenschaft. Ich muss nicht Fahrrad fahren. Ich gehe alle Treppen zu Fuß und räume sehr oft um. Ich bin wirklich fit.

Herr Cardin, Sie sind 85 und gestalten die Zukunft. Haben Sie manchmal Angst vor Ihrer Zukunft?
Nein. Weshalb denn auch? Wissen Sie, wenn man 450 Angestellte hat und ihre Gehaltszahlungen organisiert, immer ohne Finanzberater, bereitet das manchmal Sorge. Aber ich selbst bin sehr genügsam, nur um die anderen muss ich mich kümmern. Wirklich Angst habe ich nie gehabt.