Die Gewissensfrage

»Mein einziger und geschätzter Mitbewohner hat eine Freundin, die mit ›langweilig‹ recht genau beschrieben ist. In letzter Zeit erzählt er mir immer mal wieder von Zweifeln an seiner Beziehung. Ich fange dann ganz schnell an abzuwaschen oder das Gewürzregal abzustauben, um mich vor einem Kommentar zu drücken. Eigentlich würde ich meinem Mitbewohner gern stecken, dass es meiner Ansicht nach Frauen gibt, mit denen er mehr teilen könnte. Aber nur weil ich die Frau unglaublich öde finde, habe ich doch nicht das Recht, seine Zweifel zu nähren, oder?« CHRISTOPH R., Regensburg

Kennen Sie das Traveling Salesman-Problem in der Optimierungsforschung? Dabei versucht man, für einen Handlungsreisenden eine optimale Reihenfolge der Besuchsorte mit möglichst kurzer Route festzulegen. Was zunächst einfach klingt, scheitert an der Vielzahl der Varianten: Bei zehn Städten gibt es mehr als 180 000 Möglichkeiten, bei zwanzig jedoch bereits über 120 Billiarden; es entstehen schnell Rechenmengen, die selbst Großrechner überfordern und praxisnahe Herangehensweisen nötig machen.

So ähnlich will es mir hier scheinen. Zunächst sehe ich widerstreitende Pflichten: Die Pflicht, einem Freund zu helfen, die Verpflichtung zur Aufrichtigkeit sowie den Respekt vor der Privatsphäre anderer. Das wären wir gewohnt, doch damit sind die Variablen nicht erschöpft: Dem einem Freund ist mehr geholfen, wenn man ihm auf die Sprünge hilft, einem anderen, wenn man die Beziehung kittet. Dies liegt auch an subjektiven Bewertungen: Wie öde ist die Freundin wirklich? Wie viel Umtriebigkeit schätzt er? Was nimmt er auf sich, um nicht allein zu sein? Wie wichtig ist ihm das Urteil seiner Freunde? Dann die Unsicherheiten der Kommunikation: Berichtet der Mitbewohner von kleinen Schlaglöchern auf dem Weg ins Glück oder von einem unüberwindlichen Abgrund? Plaudert er nur oder sucht er in Wahrheit einen Rat?

Ebenso wie beim Handlungsreisenden verhindern auch hier die vielen Variablen eine Patentlösung; man kann sich nur mehr annähern: Indem man auf den Mitbewohner eingeht und versucht, sein Anliegen genauer zu erkennen. Am Ende kann dann eine klare Aussage stehen oder aber der freundschaftliche Mantel des Schweigens. Als Ergebnis einer theoretischen Überlegung zu beschließen, weiter wortwörtlich darüber hinweg-zuwischen oder seinen Senf dazuzugeben, scheint mir dagegen so sinnvoll wie die Städte dem Alphabet nach anzufahren.

Meistgelesen diese Woche:

Illustration: Jens Bonnke