»Seit geraumer Zeit hat mein Nachbar bevorzugt zwischen zwei und fünf Uhr nachts direkt über mir so laut Sex, dass ich meistens davon aufwache und schlecht wieder einschlafen kann. Bei lauter Musik würde ich nicht zögern, aber kann man einem Nachbarn sagen, dass er zu lauten Sex hat? Oder ob er ihn mitten in der Nacht freundlicherweise in die Küche verlegen könnte?« Nina S., Berlin
Ihre Frage passt insofern gut hierher in eine Moralkolumne, als sie verschiedene Aspekte der Moral aufgreift und verbindet. Auf der einen Seite die gegenseitige Rücksicht, auf der anderen Seite das, was man »Sexualmoral« nennt.
Sexualität umschreibt man oft mit »Intimität«, und das zu Recht, weil es etwas ist, das dem Kern des Menschen, dem Innersten, Lateinisch »intimus«, nahekommt. Es beinhaltet engen körperlichen Kontakt und ist mit der existenziellen Frage der Fortpflanzung verbunden. Und die meisten Menschen wollen Sex eher intim, in trauter Abgeschiedenheit, und nicht in der Öffentlichkeit ausüben.
Das sollte aber nicht verdrängen, dass es sich dabei um etwas Natürliches und – zumindest solange einvernehmlich unter Erwachsenen – moralisch Unbedenkliches handelt, das zudem Freude bereitet. Also nichts, dessen man sich schämen müsste, im Gegenteil. Auch wenn es über Jahrhunderte oft hieß und von mancher Seite noch heißt, das sei »unsittlich« oder »unanständig«.
Weil es sich um etwas Intimes handelt, sollte man sich nicht ungefragt in anderer Leute Sexualleben einmischen, aber umgekehrt auch nicht aus falscher Scham zögern, es anzusprechen, wenn sich deren Sexualleben ungebeten zu sehr ins eigene Leben einmischt.
Die Fixierung aufeinander lässt bei der Sexualität oft die Umwelt vergessen. Das wünscht man denjenigen von Herzen, befreit sie aber nicht davon, Rücksicht zu nehmen. Die man notfalls auch einfordern muss. Und auch wenn man zunächst aus Rücksicht zögern würde, etwas zu sagen, sollte man es umgekehrt aus Rücksicht eigentlich gerade tun. Denn wenn Ihr Nachbar mit seiner Lautstärke bis zu Ihnen durchdringt, bedeutet das zugleich, dass Sie zumindest akustisch bei seinem Sex dabei sind. Was für viele der Idee der Intimität entgegensteht.
Lesehinweise:
Philipp Balzer, Klaus Peter Rippe: Philosophie und Sex. Zeitgenössische Beiträge, dtv München 2000
Alan Soble: Philosophy of Sex and Love. Paragon House, St. Paul, 2nd ed. 2008
Raja Halwani, Alan Soble, Sarah Hoffman, Jacob Held (eds.), The Philosophy of Sex. Contemporary Readings, Rowman & Littlefield Publishers, Lanham, 7th ed. 2017
Halwani, Raja: Sex and Sexuality, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2018 Edition), Edward N. Zalta (ed.)
(online abrufbar)
Alan Soble: Philosophy of Sexuality, Internet Encyclopedia of Philosophy
(online abrufbar)