»Die Frage beschäftigt mich seit Langem: In den für mich relevanten Themen stimme ich mit einer sehr kleinen Partei überein. Was ist aus moralischer Sicht sinnvoller: diese Partei zu wählen, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern wird? Oder eine größere Partei, deren Ansichten ich nur zu 75 Prozent zustimme, die aber sicher ins Parlament kommt und somit etwas bewirken kann?« Lina F., München
Zu Ihrer Frage des taktischen Wählens gibt es in den USA zwei konkrete Fälle. Bei der Präsidentschaftswahl 2000, die George W. Bush mit – zweifelhaften – 537 Stimmen Vorsprung in Florida gegen Al Gore gewann, trat Ralph Nader für die Grüne Partei an und gewann zirka 2,7 Prozent der Stimmen, davon in Florida 97 488. Umfragen zufolge hätten ohne seine Kandidatur deutlich mehr seiner Wähler für Al Gore gestimmt als für Bush. Al Gore wäre also Präsident geworden, und die Welt sähe heute anders aus. Das müssen sich meines Erachtens auch die vorhalten lassen, die Al Gore gegenüber Bush bevorzugt hätten, aber für Nader gestimmt haben, obwohl sie wussten, dass der keine Chance hat.
Bei der Präsidentschaftswahl 2016 sind viele Anhänger der Demokraten oder Gegner von Donald Trump nicht zur Wahl gegangen, weil sie Hillary Clinton ablehnten und deshalb nicht wählen wollten. Sie halte ich für den Wahlsieg Trumps für mitverantwortlich, mögen sie dem auch noch so sehr widersprechen.
Im Grunde spiegelt sich hier Max Webers Unterscheidung zwischen »Gesinnungsethik« und »Verantwortungsethik« in der Politik. Der Gesinnungsethiker hält an seinen Prinzipien fest, ohne sich um die Folgen zu kümmern, während der Verantwortungsethiker die Folgen seines Handelns bedenkt und notfalls auch zu Mitteln greift, die seiner Gesinnung widersprechen.
In der Politik hat Handeln aber Folgen. Als Wähler sind Sie auch Politiker und für die Folgen Ihres Tuns verantwortlich. Denjenigen, die sich dabei allein auf ihre Gesinnung berufen, werfe ich vor, die Gesellschaft auf dem Altar ihrer moralischen Überzeugung zu opfern. Deshalb halte ich taktisches Wählen und gegebenenfalls das Wählen des aus persönlicher Sicht geringeren Übels für sinnvoll – und in politisch schwierigen Zeiten sogar für ethisch geboten.
Literatur:
Max Weber, Politik als Beruf
Vortrag am 28. Januar 1919 vor dem „Freistudentischen Bund. Landesverband Bayern“ im Kunstsaal der Münchner Buchhandlung Steinicke (damals Adalbertstr. 15), Reclam Verlag, Stuttgart 1992, dort S. 65ff. insbesondere 70ff.
Jason Brennan: The Ethics of Voting,
Princeton University Press, Princeton and Oxford, 2011/2012
Olivia Goldhill: Ethicists say voting with your heart, without a care about the consequences, is actually immoral, Quartz, 26.6.2016 (online verfügbar)
(Übernommen von der Washington Post am 5.10.2016 und vom The Guardian am 2.10.2016)
Aradhna Krishna, Tatiana Sokolova: How to vote for president when you don’t like the candidates, The Conversation, 30.9.2016 (online verfügbar)
Eine andere Auffassung als hier vertritt der Philosoph Dieter Thomä in einem Beitrag für den Deutschlandfunk Kultur vom 23.9.2017:
Dieter Thomä: Wer taktisch wählt, handelt unverantwortlich, Deutschlandfunk Kultur, 23.9.2017 (online verfügbar)
Die Zahlen zur US-Wahl in Florida stammen vom Florida Department of State Division of Elections
und von der Federal Election Commission