Um diese Frage sollte ich einen Riesenbogen machen. Sie bringt mich in eine schwere Zwickmühle. Im Grunde kann nämlich kaum Zweifel bestehen, dass es richtig ist, die Fahrt nachträglich zu bezahlen.
Falls ich in meiner Stammbuchhandlung durch Zufall etwa Epiktets Handbüchlein der Moral, Garcia Marquez’ Hundert Jahre Einsamkeit oder etwas von Thomas Bernhard zum ersten Mal in die Hand bekäme, zu lesen begönne und daraufhin so im Buch versunken wäre, dass ich gedankenverloren ohne zu zahlen nach Hause ginge, selbstverständlich käme ich so bald als möglich zurück und begliche meine Schuld. Wie ich es auch in meiner Lieblingskneipe tue, wenn mir am nächsten Tag einfällt, dass der Deckel noch offen steht – auch wenn es außer mir niemand mehr weiß. Man hat etwas bekommen, dafür zahlt man, und wenn man vergessen hat zu zahlen, zahlt man danach. So einfach. Und es fällt mir kein schlagendes Argument ein, warum es bei der Bahn grundsätzlich anders sein sollte. Allerdings ist es der schlimmste Bärendienst, den man der Moral erweisen kann, Ansprüche zu erheben, die die Menschen überfordern. Die gegen das moralische Gefühl verstoßen und deshalb die Moral, statt sie ins Leben hineinzutragen und dort zu verankern, wirklichkeitsfremd abgehoben erscheinen lassen; sie ddurch umgekehrt aus dem Leben hinauskatapultieren. Ja, die Pflicht fordert nachzustempeln, aber dies von Ihnen aus moralischer Sicht zu verlangen, ginge sehr weit, mir persönlich zu weit. »Die völlige Angemessenheit des Willens aber zum moralischen Gesetze ist Heiligkeit, eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins, fähig ist«, schreibt Kant. Heilig sind wir alle nicht. Deshalb fände ich es wider besseres Wissen als ausreichend… Ach, ich hätte doch einen Bogen um die Frage machen sollen.
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Marc Herold (Illustration)