Die Gewissensfrage

Darf man seinen beiden Kindern den gleichen Erbteil vermachen, obwohl eines der beiden wegen einer Krankheit seit Jahren finanziell unterstützt wird?


»Wie wohl alle Eltern sind wir in unserem Testament ursprünglich von einer gerechten gleichgewichtigen Erbaufteilung zwischen unseren beiden Kindern ausgegangen. Leider sind wir aber seit Jahren gezwungen, eines unserer inzwischen erwachsenen Kinder in erheblichem Maße wegen einer unverschuldeten Krankheit finanziell zu unterstützen. Kann es trotzdem bei der 50/50-Erbaufteilung bleiben, oder sollten wir als Ausgleich das bisher nicht unterstützte Kind mit einem größeren Erbteil bedenken?« Martina K., Oldenburg

Bei Erben und Vererben lohnt zunächst immer der Blick ins Gesetz. Dort wird Ihnen in relativ weiten Grenzen ausdrücklich freigestellt zu bestimmen, ob und wie weit Sie wollen, dass vorherige Zuwendungen an einen Ihrer Erben auf sein Erbe angerechnet werden oder nicht. Das leitet über zur Überlegung, was eine gerechte Lösung ist, und bei der sehe ich zwei mögliche Betrachtungsweisen: Ich will sie einmal »Individualmodell« und »Familienmodell« nennen. Beim Individualmodell betrachtet man die Kinder primär als Individuen. Sie stehen zwar untereinander und mit Ihnen, den Eltern, in einem Verwandtschaftsverhältnis, aber eben als einzelne Menschen mit ihren jeweiligen Leben. Man würde sich zwar in Notfällen unterstützen und im gesetzlichen Rahmen, vielleicht auch darüber hinaus, Unterhalt gewähren, dies aber in begrenztem Umfang.

Beim Familienmodell hingegen rechnet man die beteiligten Personen als eine Gemeinschaft und sorgt innerhalb dieser Gemeinschaft füreinander.
Wenn einer Pech im Leben hat, und die anderen mehr Glück haben, gleicht man das aus. Unter Einbeziehung der Überlegung, dass der, der keine Unterstützung braucht und dessen Anteil geschmälert wird, das Glück hatte, nicht zu erkranken und keinen Schicksalsschlag zu erleiden. Im Allgemeinen wird man bei kleinen Kindern vom Familienmodell ausgehen, und je älter die Kinder werden, mehr und mehr zum Individualmodell übergehen. Wegmarken sind dabei meist - nicht verbindlich - die Volljährigkeit, der Abschluss der Ausbildung, die Gründung eigener Familien oder der Tod der Eltern.

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Was bedeutet das für Sie? Meiner Ansicht nach, dass Sie als Eltern und Erblasser auch aus moralischer Sicht frei in Ihrer Entscheidung sind, welche Betrachtungsweise Sie bevorzugen: Das Individualmodell spräche dafür, dem bisher nicht unterstützten Kind zum Ausgleich mehr zu vererben. Das Familienmodell dafür, die Unterstützung nicht zu berücksichtigen, die Kinder erben gleich. Beide Betrachtungsweisen sind möglich, ich würde keine von beiden per se als gerechter oder ungerechter ansehen, sondern jeweils als Ausdruck einer persönlichen - vermutlich auch kulturell geprägten - Einstellung zum Verhältnis von Individuum und Familie.


Die in der Frage beschriebene Problematik berührt eine Vielzahl rechtlicher Regelungen und eignet sich sehr gut dazu, mehr oder weniger das gesamte Erbe in Prozesskosten aufzubrauchen, was gar nicht so selten geschieht. Im Folgenden seien einige der in Frage kommenden Bestimmungen aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch genannt.

§ 2050 BGB Ausgleichungspflicht für Abkömmlinge als gesetzliche Erben
(1) Abkömmlinge, die als gesetzliche Erben zur Erbfolge gelangen, sind verpflichtet, dasjenige, was sie von dem Erblasser bei dessen Lebzeiten als Ausstattung erhalten haben, bei der Auseinandersetzung untereinander zur Ausgleichung zu bringen, soweit nicht der Erblasser bei der Zuwendung ein anderes angeordnet hat.
(2) Zuschüsse, die zu dem Zwecke gegeben worden sind, als Einkünfte verwendet zu werden, sowie Aufwendungen für die Vorbildung zu einem Beruf sind insoweit zur Ausgleichung zu bringen, als sie das den Vermögensverhältnissen des Erblassers entsprechende Maß überstiegen haben.
(3) Andere Zuwendungen unter Lebenden sind zur Ausgleichung zu bringen, wenn der Erblasser bei der Zuwendung die Ausgleichung angeordnet hat.

§ 2303 BGB Pflichtteilsberechtigte; Höhe des Pflichtteils
(1) Ist ein Abkömmling des Erblassers durch Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge ausgeschlossen, so kann er von dem Erben den Pflichtteil verlangen. Der Pflichtteil besteht in der Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils.

§ 2315 BGB Anrechnung von Zuwendungen auf den Pflichtteil
(1) Der Pflichtteilsberechtigte hat sich auf den Pflichtteil anrechnen zu lassen, was ihm von dem Erblasser durch Rechtsgeschäft unter Lebenden mit der Bestimmung zugewendet worden ist, dass es auf den Pflichtteil angerechnet werden soll.
(2) Der Wert der Zuwendung wird bei der Bestimmung des Pflichtteils dem Nachlass hinzugerechnet. Der Wert bestimmt sich nach der Zeit, zu welcher die Zuwendung erfolgt ist. (3) Ist der Pflichtteilsberechtigte ein Abkömmling des Erblassers, so findet die Vorschrift des § 2051 Abs. 1 entsprechende Anwendung.

§ 2325 BGB Pflichtteilsergänzungsanspruch bei Schenkungen
(1) Hat der Erblasser einem Dritten eine Schenkung gemacht, so kann der Pflichtteilsberechtigte als Ergänzung des Pflichtteils den Betrag verlangen, um den sich der Pflichtteil erhöht, wenn der verschenkte Gegenstand dem Nachlass hinzugerechnet wird.
(2) Eine verbrauchbare Sache kommt mit dem Wert in Ansatz, den sie zur Zeit der Schenkung hatte. Ein anderer Gegenstand kommt mit dem Wert in Ansatz, den er zur Zeit des Erbfalls hat; hatte er zur Zeit der Schenkung einen geringeren Wert, so wird nur dieser in Ansatz gebracht.
(3) Die Schenkung wird innerhalb des ersten Jahres vor dem Erbfall in vollem Umfang, innerhalb jedes weiteren Jahres vor dem Erbfall um jeweils ein Zehntel weniger berücksichtigt. Sind zehn Jahre seit der Leistung des verschenkten Gegenstandes verstrichen, bleibt die Schenkung unberücksichtigt. Ist die Schenkung an den Ehegatten erfolgt, so beginnt die Frist nicht vor der Auflösung der Ehe.

§ 2330 BGB Anstandsschenkungen Die Vorschriften der §§ 2325 bis 2329 finden keine Anwendung auf Schenkungen, durch die einer sittlichen Pflicht oder einer auf den Anstand zu nehmenden Rücksicht entsprochen wird.

Außerdem interessant:
Jens Beckert, Unverdientes Vermögen – Soziologie des Erbrechts, Campus Verlag Frankfurt 2004

Illustration: Marc Herold