»Laufend klingeln bei uns im Erdgeschoss Zusteller, um Pakete für Leute, die in unserem Hochhaus wohnen, abzugeben. Zwar freuen wir uns, wenn umgekehrt jemand ein Paket für uns entgegennimmt, möchten aber nicht zu kostenlosen Dauermitarbeitern der Paketdienste werden. Ist es legitim, wenn wir nur noch Pakete von Mitbewohnern annehmen, die wir gut kennen?« Ruth F., Hamburg
Zu den Albträumen der Großstadt gehört es, zu einer Postfiliale gehen zu müssen, von denen es immer weniger mit umso längeren Schlangen gibt. Und bei manchen Versanddiensten müsste man, um an ein nicht zugestelltes Paket zu kommen, sogar ein entlegenes Gewerbegebiet aufsuchen. Ergo: Wem seine Mitmenschen nicht vollkommen egal sind, der sollte ihnen das ersparen.
Zudem sieht eine Strömung in der politischen Philosophie, der Kommunitarismus, in der Einbettung in die - unter anderem nachbarliche - Gemeinschaft sogar die Grundlage von Moral und Gerechtigkeit. Und auch wenn ich mich dieser Strömung nicht anschließen will, halte ich Hilfe unter Nachbarn für wertvoll, wegen ihrer Effekte, aber auch wegen ihres sozialen Gehalts.
Das ändert aber nichts daran, dass das Bestellen im Internet und die Zustellung nach Hause bei Berufstätigen, Studierenden oder anderen Menschen, die ihre vier Wände regelmäßig verlassen, auf einem vollkommen unzulänglichen Konzept beruhen: Zusteller versuchen, Pakete in voraussehbar leeren Wohnungen abzugeben. Und das für ein Entgelt, das ihr Auskommen oft kaum oder nicht sichert, erst recht nicht, wenn sie die Pakete nicht loswerden oder für wenige Cent viele Stockwerke erklimmen müssen. Das Ganze funktioniert nur, wenn nette Menschen wie Sie - oder Geschäfte in der Nachbarschaft - Pakete annehmen und damit kostenlos Zustellleistungen erbringen. Ihre Freundlichkeit subventioniert die Dumpingpreise der Internetversender und Paketdienste gegenüber Geschäften, die den Service bieten, Waren in der Umgebung vorzuhalten.
Vor allem aber entwertet man die Nachbarschaftshilfe, wenn man sie einseitig und übermäßig einfordert oder, noch schlimmer, zum Teil eines Geschäftsmodells macht. Geschäfte weigern sich zunehmend, Sendungen für Fremde anzunehmen, und auch Sie haben das Recht dazu.
Literatur:
Axel Honneth (Hrsg.) Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Campus Verlag, Frankfurt am Main 1993
Hartmut Rosa, Kommunitarismus, in: Marcus Düwell, Christoph Hübenthal, Micha H. Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 2002, S. 218-230
Bell, Daniel, "Communitarianism", The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2013 Edition), Edward N. Zalta (ed.)
Online abrufbar hier.
Einer der bekanntesten Vertreter des Kommunitarismus ist der Rechtsphilosoph Michael Sandel, der vor allem durch seine sehr sehenswerte Vorlesung "Justice in Harvard" bekannt wurde, die man hier online verfolgen kann:
Illustration: Serge Bloch