Leute, wollt ihr viel kürzer arbeiten bei gleichem Lohn?

Diese Frage stellte der Chef einer Bielefelder Firma seinen Mitarbeitern. Dass sie ja sagten, ist weniger überraschend als die Tatsache, dass das Modell funktioniert.

Der IT-Unternehmer Lasse Rheingans, 37, lebte einige Jahre in Australien und lernte dort flexiblere Arbeitsmodelle kennen. Ein solches hat er nun in Deutschland eingeführt.

Foto: Lasse Rheingans

Das Problem: Wir arbeiten zuviel.
Die Lösung: Der Fünf-Stunden-Arbeitstag.

Die Bielefelder IT-Firma Rheingans Digital Enabler hat als erstes deutsches Unternehmen den Fünf-Stunden-Arbeitstag eingeführt – bei gleichem Gehalt und Urlaubsanspruch.
Die Angestellten von Lasse Rheingans arbeiten seit letzten November nur noch von acht Uhr morgens bis 13 Uhr. Als Erfinder des Fünf-Stunden-Arbeitstags gilt Stephan Aarstol, der Gründer von Tower Paddle Boards, einem amerikanischen Hersteller von Standup-Paddelbrettern. Er verkürzte die Arbeitszeit, beteiligte seine Mitarbeiter mit fünf Prozent am Gewinn und verlangte im Gegenzug dafür doppelte Produktivität. Einfach war die Umstellung nicht, viele Mitarbeiter beklagten sich am Anfang über den hohen Druck, aber Aarstol freute sich über ein Umsatzwachstum von 40 Prozent im ersten Jahr. Seine Idee inspirierte auch Lasse Rheingans, der hier von seinen Erfahrungen mit dem neuen Arbeitszeitmodell berichtet.

SZ-Magazin: Wie kamen Sie auf die wahnsinnige Idee, Ihren Mitarbeitern den Fünf-Stunden-Tag bei voller Lohnfortzahlung anzubieten?
Lasse Rheingans: Ich arbeite seit fast 20 Jahren in der Digitalbranche, habe verschiedene Agenturen geleitet. Da hat man es viel mit Überstunden zu tun, mit ständiger Erreichbarkeit. Wenn man ein sozialer Mensch ist und Kinder hat wie ich, dann kriegt man das schnell nicht mehr unter einen Hut. Das sieht man auch an allen Statistiken, wie die Burnout-Raten explodieren, wie die psychischen Krankheiten zunehmen, wie sich die Leute kaputt arbeiten. Es gibt dafür ein Wort aus der Tierhaltung: nicht artgerecht.

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Wie Legebatterien, in denen die Hennen im Akkord Eier legen?
Ich habe irgendwann für mich entschieden: Ich stehe nicht jeden Tag auf, mache mich krumm, sehe meine Kinder nicht und opfere mein ganzes Leben für ein bisschen Geld. Ich verzichte lieber auf ein bisschen Geld, falls das überhaupt nötig ist, damit ich ein wenig runterschalten kann. Ich hatte ein Agentur zusammen mit anderen Leuten und etwa 50 Mitarbeitern, da habe ich irgendwann gesagt: Zwei Tage die Woche nehme ich mir nachmittags frei.

Und ihre Kollegen nahmen das einfach hin?
Das stieß überhaupt nicht auf Gegenliebe, die anderen haben das nicht verstanden. Das waren eben keine kreativen Menschen, sondern eher Controller, Bürokraten. Da musste ich erstmal auf einen Teil meines Gehalts verzichten, um denen entgegenzukommen. Ich habe aber dann nach einigen Monaten gesagt: Passt auf, Freunde, ich bin so fokussiert und so gut strukturiert, ich sehe überhaupt keinen Grund, warum ich auf mein Gehalt verzichten sollte, weil bei mir nichts liegen bleibt. Ich brenne für meinen Job. Jedenfalls habe ich dabei gemerkt: Es ist möglich, weniger zu arbeiten, dabei alle Projekte zu erledigen und noch etwas mehr Lebensqualität zu gewinnen. Ich habe zwar noch einige Jahre in der Agentur weitergearbeitet, aber schließlich haben die unterschiedlichen Werte dazu geführt, dass ich meine Anteile verkauft habe. Letzten Sommer saß ich ein paar Monate in meinem Garten und habe überlegt: Was machst du jetzt eigentlich? Was kannst du? Und wie willst du leben?

Und dann haben Sie sich entschieden, Digital Engabler zu übernehmen und dort den Fünf-Stunden-Tag einzuführen?
Erst mal habe ich im letzten November die Frage gestellt: Wollt ihr das ausprobieren?

Wollt ihr gerne weniger arbeiten und dafür genau so viel verdienen? Das scheint mir leicht zu beantworten.
Manche dachten: Macht der Typ jetzt einen Scherz? Manche wussten nicht, ob sie lachen oder weinen sollten. Aber unterm Strich kam heraus: Wir haben natürlich Bock, lass uns das versuchen.

Wie sieht das konkret aus? Ihre Mitarbeiter kommen um acht ins Büro und hören um eins auf?
Genau. Wir haben geguckt: Was sind denn die Zeitfresser bei der normalen Arbeit? Wenn man eigentlich am Arbeiten ist, aber plötzlich das Handy vibriert, WhatsApp irgendwas sagt, Twitter sich meldet, eine Email reinkommt. Oder wenn ein Kollege mit dir über das Fußballspiel vom letzten Wochenende reden will. Die Benachrichtigungsfunktionen haben wir alle ausgeschaltet, Emails checken wir nur noch zweimal am Tag. Aber ich kontrolliere das alles nicht. Wir haben nur gesagt: Das sind Störfaktoren, lasst uns so viele Faktoren wie möglich identifizieren.

Es fällt auf, dass es bei Ihnen in der Agentur extrem ruhig ist, fast meditativ.
Ja, es ist wirklich leise. Die Kollegen ziehen das durch und wollen sich auch gegenseitig nicht ablenken.

Störfaktoren beseitigen, Kommunikationsprozesse optimieren – was haben Sie sonst noch verändert?
Wir haben die Standardlänge unserer Meetings von einer Stunde auf eine Viertelstunde verkürzt. Wenn’s mal länger dauert, ist es okay, aber wenn man von vornherein sagt, wir haben jetzt eine Stunde Zeit, dann gibt’s erstmal eine Viertelstunde Smalltalk, bevor man überhaupt richtig einsteigt. Man braucht eine klare Zieldefinition für ein Meeting: Warum setzen wir uns zusammen? Was müssen wir entscheiden? Daraus folgt dann auch, wer überhaupt dabei sein muss. Bei Email-Verteilern werden ja oft viel zu viele Leute CC gesetzt. Auch bei Kundengesprächen sind alle extrem bemüht, zur Sache zu kommen. Und wir finden ständig Dinge raus, die wir noch besser machen können. Keiner der Mitarbeiter will zum alten Modell zurück.

»Meine Vision ist: Ich rette den deutschen Mittelstand. Weil der nämlich gar nicht weiß, dass er in zehn Jahren pleite geht.«

Hat das Modell auch Nachteile?
Man erzeugt erstmal Druck, weil man weniger Zeit hat. Da müssen manche Leute kämpfen, das ist kurz ein Nachteil. Für diesen Druck muss man Lösungen finden, über die man früher nicht nachgedacht hat. Das Positive ist, dass in Laufe dieses Prozesses organisatorische Missstände entlarvt werden, zum Beispiel fehlende Kompetenzen oder nicht geregelte Verantwortlichkeiten. Die sieht man in einem Fünf-Stunden-Tag wie in einem Vergrößerungsglas.

Wofür verwenden Sie und Ihre Mitarbeiter die zusätzliche Freizeit?
Die meisten erfüllen sich lang gehegte Wünsche. Der eine fährt endlich wieder Mountainbike, meine Projektleiterin nimmt Klavierstunden. Mein Eindruck ist, dass die Leute glücklicher sind. Ebenfalls positiv ist, dass ich so auch Mütter einstellen kann, die sonst oft nicht in die Jobs reinkommen, die sie eigentlich verdient hätten. Sechs meiner 13 Mitarbeiter sind Frauen.

Gibt es einen Grund, warum Sie sich nicht für flexible Arbeitszeiten entschieden haben?
Den einen Grund nennt Aarstol in seinem Buch: Wenn wir Abstimmungsphasen haben, müssen alle da sein. Außerdem zeigen Studien: Wenn man Leuten keinen festen Rahmen gibt, arbeiten sie doch wieder ständig und erholen sich nicht. Es gibt eine Firma hier in der Gegend, da haben sie die Stechuhr wieder eingeführt – um kontrollieren zu können, dass ihre Mitarbeiter auf keinen Fall mehr arbeiten, als sie sollen. Das finde ich cool.

Warum genau fünf Stunden? Warum nicht sechs Stunden oder die Viertagewoche?
Bei der Viertagewoche hätten wir ja auch wieder acht Stunden gearbeitet, da ist die Konzentration weg. Man kommt um acht, richtet sich erstmal ein, checkt die Nachrichten, das gleiche die letzte halbe Stunde, bevor man nachhause geht. Da hat man schon eine Stunde verloren, durch das Mittagstief hat man zwei Stunden verloren, durch den ganzen Smalltalk und die ineffizienten Prozesse verliert man den Rest, und am Ende arbeiten die Leute eh nicht länger als maximal fünf Stunden. Über eine Arbeitszeit von sechs Stunden habe ich nachgedacht, aber wenn man um acht ins Büro kommt, braucht man spätestens um eins Essen. Direkt nach dem Essen muss man dann erst wieder verdauen, das ist ein Produktivitäts-Tiefpunkt. Wenn wir mehr Freiräume geben möchten, ist 13 Uhr der perfekte Zeitpunkt, um mit der Arbeit aufzuhören.

Aber gehört der soziale Austausch mit den Kollegen nicht auch zum Büroalltag? Es kann doch nicht nur um pure Effizienz gehen.
Das ist auf jeden Fall ein Punkt, der schwierig ist im Fünf-Stunden-Tag. Ich habe gelesen, dass Aarstol den Fünf-Stunden-Tag deshalb inzwischen für die Hälfte des Jahres wieder abgeschafft hat. Im Sommer macht der fünf Stunden, damit sie alle surfen gehen können und im Winter wieder acht Stunden, wegen der sozialen Kontakte. Ich merke das auch. Mir ist es ein Bedürfnis, mit dem Team Zeit zu verbringen. Viele essen nach 13 Uhr gemeinsam zu Mittag. Mindestens zweimal in die Woche haben wir einen Kochclub, da kochen und essen wir alle zusammen.

Mit 13 Mitarbeitern sind sie eine recht kleine Firma. Ihr Modell wird sich so wohl kaum auf große Betriebe und andere Branchen übertragen lassen.
Dachte ich zunächst auch, aber mittlerweile sehe ich das anders. Wir leben in einer Zeit, in der viele Aufgaben wegfallen. Diese ganzen Doofmannsarbeiten werden wir in zehn Jahren durch die Digitalisierung eh nicht mehr haben. Wir werden hohe Kreativität und Eigenverantwortung benötigen, alle anderen Aufgaben werden von Computern und künstlicher Intelligenz erledigt. Meine Vision ist: Ich rette den deutschen Mittelstand. Weil der nämlich komplett blind ist und gar nicht weiß, dass er in den nächsten zehn Jahren pleite geht.

Wieso glauben Sie das?
Weil die alle so selbstgefällig sind. In Amerika sind die Firmen ja fünf Jahre weiter, was Digitalisierung und Kulturwandel angeht, aber gerade bei uns in der Region Bielefeld sind alle noch ziemlich träge. Die Firmen sind sehr wirtschaftsstark, denen geht es supergut, aber die arbeiten noch wie in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Wenn nun jemand käme, der wesentlich digitaler unterwegs ist, mit einer ganz anderen Geschwindigkeit und Flexibilität im Kopf, dann wären hier ganz viele Firmen plötzlich in arger Not. Die sehen das noch nicht, aber ich erkenne Anzeichen dafür.

Ein Pflegeheim im schwedischen Göteborg hat ein ähnliches Arbeitszeitmodell gerade wieder abgeschafft. Dort stiegen die Kosten um 20 Prozent, weil das Heim mehr Pfleger einstellen musste.
Aber die Pflegequalität und die Zufriedenheit der Pfleger waren wesentlich höher. Vielleicht sind wir noch nicht ganz so weit, aber die Richtung stimmt. Ich habe anfangs gesagt, das Modell ist auf keinen Fall auf den Gesundheitsbranche übertragbar. Mittlerweile denke ich, es ist auf viele Branchen übertragbar, einfach dadurch, dass sich alles ändert: In der Gesundheitsbranche haben wir plötzlich Blutanalysesysteme, die Blutwerte besser analysieren als Ärzte. Sensorik hat Einzug gehalten, die Pfleger alarmiert, wenn ein Patient aus dem Bett fällt. Wir haben bei Juristen das Thema, das IBM Watson Verträge inzwischen besser analysieren kann als ein Anwalt. Irgendwann stellt sich die Frage: Was passiert in diesem Bereichen? Was brauchen wir denn von einem Juristen?

Beschweren sich Kunden, dass Ihre Firma ab 13 Uhr nicht mehr erreichbar ist?
Das kommt vor. Es ist aber eher ein Thema für Neukunden, die noch nicht verstehen, dass das neue Modell auch für sie besser ist. Was will man denn von einer digitalen Agentur? Man will, dass sie immer top informiert ist. In einer traditionellen Agentur, in der Überstunden Alltag sind, haben die Leute doch gar keine Zeit mehr, sich über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Viele Kunden denken immer noch: Aber ich bezahle doch für 40 Stunden in der Woche. Da ist noch eine Transferleistung nötig, nämlich: Ihr bezahlt uns für Ergebnisse, nicht für die Zeit an sich.

Es ist nicht ohne Ironie, dass wir beide nun kurz nach 17 Uhr sprechen, wo doch Ihre Mitarbeiter schon um 13 Uhr Feierabend hatten! Für Sie selbst funktioniert der Fünf-Stunden-Arbeitstag noch nicht, oder?
Ja, das finde ich aber gar nicht schlimm. Mein Job als Geschäftsführer und umtriebiger Mensch ist es natürlich, mich um alles zu kümmern. Durch das neue Modell hat sich ja auch mein Arbeitsfeld verändert, weil nun viele Firmen auf mich zukommen und fragen, Mensch, wie können wir denn diesen Kulturwandel hinkriegen?

Stimmt es, dass Sie seit der Einführung des neuen Modells Hunderte von Bewerbungen bekommen haben?
Wir bekamen in den ersten Monaten 120 Initiativbewerbungen. Aber ehrlich gesagt war da auch viel Schrott dabei, zum Beispiel von einem Gabelstapelfahrer oder einem Fußballtrainer, die gesagt haben: Ich will weniger arbeiten, da bin ich doch bei euch genau richtig, oder?

Nächste Woche in der Lösungskolumne: Acht wissenschaftlich überprüfte Argumente, mit denen Sie Ihren Chef davon überzeugen können, Ihre Arbeitszeit auf 25 Stunden zu verkürzen.