Das beschämte, entschuldigende Lächeln, wenn als Erstes das zweite Gedeck abgeräumt wird: Daran erkennt man sie, die noch ungeübten Alleinesser. Liegt nicht auch immer etwas Vorwurfsvolles in dieser traurigen Geste des Kellners, eine soziale Missbilligung oder gar eine moralische?
Diesen Menschen sei gesagt: Es macht die Sache nicht einfacher, wenn man sich dabei fortwährend den Kopf der anderen zerbricht. Über seine gesellschaftliche Wirkung sollte man sich nicht ausgerechnet dann die meisten Gedanken machen, wenn man gerade keine Gesellschaft hat.
Geübte Alleinesser freuen sich, dass ohne das zweite Gedeck auf dem Tisch mehr Platz ist für ihre Zeitung. Und dass sie niemandem was abgeben müssen. Und dass sie mal eine halbe Stunde bei sich selbst sein können, viele haben in ihrem Job schon genug zu reden. Vor allem wissen geübte Alleinesser, dass einen Kellner nur interessiert, ob ein Alleinesser zur Stoßzeit einen Tisch blockiert, mit dem sich zur selben Zeit mehr Geld machen ließe.
Jedenfalls gilt das für amerikanische Kellner, und die USA sind ein Land mit sehr geübten Alleinessern. Ungefähr die Hälfte aller Mahlzeiten werden von erwachsenen Amerikanern auf diese Weise eingenommen, hieß es neulich in einer Studie des Marktforschungsunternehmens Hartman Group. Und ein beträchtlicher Teil davon, muss man aus eigener Erfahrung hinzufügen, in Restaurants. Dass es in Gesellschaft geselliger ist, mit Kollegen der Karriere dienlicher und zu Hause billiger und im Zweifel gesünder: Das kann ja alles sein. Aber manchmal geht es nicht anders, zum Beispiel auf Dienstreisen. Die USA sind nun aber auch das Land, das die bisher beste Lösung für das Problem hervorgebracht hat: das Dinner an der Bar. Das Bar-Menü ist in der Regel günstiger, oft sogar besser als das an den Tischen. Und wer an der Bar speist, statt dort nur zu trinken, macht sich auch nicht verdächtig, der gefürchtete Typ Mensch zu sein, der allein vor sich hin zechend auf Kontakt zu anderen aus ist. Die Bereitschaft der anderen, Kontakt aufzunehmen, steigt dann automatisch.
Wer wirklich keine Unterhaltung wünscht, kann immerhin lesen. Die meisten Alleinesser lesen, während sie auf ihr Essen warten, viele lesen auch währenddessen. Zum Beispiel ließe sich bei einem schönen Hamburger an der Bar nachlesen, dass Alleinesser deutlich weniger Kalorien zu sich nehmen als Leute, die über ihrem Geplauder mehr oder weniger unbemerkt die Teller und den Brotkorb leer mampfen. Der Grund ist die Ablenkung vom Eigentlichen, vom Essen. In dieser Hinsicht ersetzt der Fernseher über der Bar allerdings fast das tiefe Gespräch (vgl. Hetherington et al.: »Situational effects on meal intake: A comparison of eating alone and eating with others.« In: Physiology & Behavior 88 (2006), 498ff.)
Irgendetwas, was nach Wissenschaft, also Ernst und Arbeit aussieht, ist übrigens ein idealer Begleiter beim Essen. Das stand neulich in einer schönen Studie im Journal of Consumer Research, die damit ihrerseits gut zu jeder Suppe passte: Wir fühlen uns, stand da, wohler, wenn wir in der Öffentlichkeit bei zweckdienlicheren Dingen beobachtet werden als beim reinen Genuss. Wer sich also schämt, allein zu essen, sollte Lektüre mitnehmen, die den Umsitzenden signalisiert: Ich muss das hier weggelesen bekommen, ich habe keine Zeit, mit jemandem beim Kauen Belanglosigkeiten zu besprechen.
Immer wieder kann man beim Essen allerdings lesen, es sei indiskutabel, beim Essen ins Mobiltelefon zu starren. Vielleicht werden sich da die Ansichten noch ändern. Für jetzt gilt: Eleganter ist es, beim Essen eine renommierte Zeitung zu lesen. Und noch besser, weil kleiner im Format: das Magazin einer renommierten Zeitung.
Foto: David Brandon Geeting