Vor einigen Jahren habe ich mich dagegen entschieden, mir Gedanken über gesunde Ernährung zu machen. Ich wollte nicht zum »Sachbearbeiter meiner eigenen Lebenserhaltung« werden – so fasst der umstrittene Philosoph Robert Pfaller den Hang des modernen Menschen zu Selbstgeißelung und Kontollsucht zusammen. Wozu diese Entscheidung geführt hat, ist jedoch paradox: Ich wehre mich mit fast genauso großer Zwanghaftigkeit gegen Gesundheitstrends, mit der andere sie befolgen. Und ich glaube, dass dafür genauso viel Zeit draufgeht, wie draufgehen würde, wenn ich jeden Morgen die ideale Nährstoffzusammensetzung für einen Grünkohl-Smoothie abwiegen würde. Außerdem scheine ich die Beschäftigung mit dem Thema auf fremde Körper ausgelagert zu haben. Wenn ich in Berlin bei einer bestimmten Café-Kette anstehe, achte ich genau darauf, was in der Schlange vor mir bestellt wird. Ganze Lebensläufe spielen sich vor meinem geistigen Auge ab: Der Banker, der Sojamilch nimmt, verwechselt seine psychosomatischen Magenschmerzen mit Intoleranzen (deshalb weder Laktose noch Hafer) – vielleicht war er aber auch die vergangenen fünf Jahre in Asien und hat deshalb die Debatten über die »riskanten Nebenwirkungen« der »Wunderbohne« nicht mitbekommen. Americano ohne Milch: Angst vor Kalorien. Chai Latte: Die Person kriegt zu viele Selfhealing-Videos auf Instagram angezeigt, der vorige Urlaub fand in Bali oder Bad Meinberg statt. Bestellt jemand eines dieser saisonalen, mit Aromen versetzten Heißgetränke, hat derjenige auch Duftkerzen von Ikea zu Hause und guckt am liebsten Qualitätsserien über das britische Königshaus. Fällt die Wahl auf Kokos, sind die Duftkerzen etwas teurer. Bei jemandem, der Matcha bestellt, stehen die Chancen gut, dass es sich um die gelangweilte, reiche Gattin eines Galeristen oder eines Immobilienmaklers handelt und sie in spätestens zwei Jahren mit der Sekretärin ihres Mannes durchbrennt – vielleicht hat da aber auch einfach nur jemand zu viel Shirin David gehört. Die Bestellung von Kuhmilch, von »normaler Milch«, grenzt jedes Mal an Thrill. Als würde da gleich jemand zur Mittagszeit einen Belvedere auf Eis exen.
Ich bin nicht stolz auf diese Unterstellungen. Es sind Zuordnungen, die ich für unterkomplex halte und die nichts mit meinen Erfahrungen zu tun haben, eher mit an Ernährung aufgehängten gesellschaftlichen Diskursen, die sich so tief ins Unterbewusstsein gegraben haben, dass sie den unvoreingenommenen Blick auf meine Mitmenschen komplett verschleiern.
In der Café-Filiale in Berlin-Charlottenburg wird am häufigsten Hafermilch bestellt. Obwohl »Hafermilch« ein ähnlicher Trigger zu sein scheint, wie es das »Lastenfahrrad« und das »Gendersternchen« sind. In Hafermilch bündeln sich sprachliche, wirtschaftliche und kulturelle Spannungen. Nicht der Hafer als solcher triggert, sondern dass es um viel mehr geht: um Identität, Macht, Wandel, das Gefühl, auf der »richtigen« Seite zu stehen oder ausgeschlossen zu werden.
Ich bestelle Hafermilch, immer. Ich zahle sogar vierzig Cent extra für die Barista-Edition. In letzter Zeit werde ich für die Hafermilchbestellungen von einigen avancierten Kandidaten in der Kaffeeschlange ähnlich abgeurteilt, wie ich den Banker mit der Sojamilch abgeurteilt habe. Blicke, die sagen: »Schuss nicht gehört?«
Neben Klimawandel und drohendem Faschismus scheint es zurzeit ein weiteres Problem zu geben, das die Menschen in den Innenstädten von Metropolen beschäftigt: Steigert Hafermilch den Blutzuckerspiegel? Führt sie irgendwann zu diabetesbedingten Folgeerkrankungen oder gar zu Depressionen? Wenn ja, sehr gut. Weil ich sie jetzt endlich genießen kann, ohne bei der Kaffeebestellung wie jemand zu wirken, der »die gesunde Alternative« bevorzugt.

