Es ist der elfte Drehtag für eine weitere Christine-Neubauer-Fernsehkomödie, Arbeitstitel: Liebe und andere Baustellen. Eine mutwillig in den Rohbau rückversetzte Finca in den nordwestlichen Bergen von Mallorca, Kabel, Scheinwerfer, flirrende Hitze. Christine Neubauer steht in einer mannshohen Holzkonstruktion, die mit frischem Zement bedeckt ist und aus der nur der Kopf herausragt. Gleich sollen drei Bauarbeiter noch sehr viel mehr Zement über ihren Kopf kippen.
Der Zement ist in Wirklichkeit Kartoffelbrei mit etwas Sand und schwarzer Lebensmittelfarbe. »Wenn dich das Zeug trifft, reißt du die Augen auf. Du musst richtig Lebensgefahr spielen«, sagt Thomas Nennstiel, der Regisseur. »Und wenn du Angst hast zu ersticken, mach ein Zeichen, dann brechen wir ab.« Die anderen witzeln rum, fragen die Produzentin, Regina Ziegler, scheinheilig: »Ist die Ausfallversicherung hoch genug und gültig?« – »Frau Ferres steht jedenfalls schon vor der Tür. Für alle Fälle.« – »Und: Ruhe – wir drehen! Silencio.« Dreißig Liter Kartoffelbrei pladdern aus der Betonmischmaschine auf Christine Neubauers Kopf und über ihr Gesicht. Sie reißt die Augen auf. Todesangst. »Danke. Super. Im Kasten.«
Christine Neubauer liebt solche Szenen. Vor zwei Wochen ist sie noch bei 46 Grad mit dicken Stiefeln und fünf Kilo schwerer Minenschutzweste durch den Wüstensand von Namibia gelaufen für Die Minensucherin. Sie hat sich auch schon in der Bergwand von einem Adler anfallen lassen für die Geierwally. Sie reitet jedes Pferd selbst. Sie lässt sich nicht doubeln.
Thomas Nennstiel sagt: »Sie hat ein erotisches Verhältnis zur Kamera. Wenn die Kamera angeht, springt etwas bei ihr an. Es ist keine Pose. Christine Neubauer ist ein Phänomen.« Am nächsten Morgen, die Dreharbeiten haben schon begonnen, läuft einem das Phänomen entgegen wie ein kleines Mädchen und ruft: »Oooch wie schade, jetzt haben Sie verpasst, wie ich aus dem Fenster gefallen bin!«
Es ist ja so: In Wirklichkeit sieht Christine Neubauer nicht aus wie Christine Neubauer. Sie ist erstaunlich klein und schmal. Keine Wuchtbrumme. Deutschlands Kurvenstar und Vollweib trägt Kleidergröße 38, manchmal 40.
Sie hat das schon oft erklären müssen, sagt sie: dass Kameras manche Menschen dicker wirken lassen und größer und runder, in ihrem Fall bestimmt um zwei bis drei Kleidergrößen. Ihre liebste Produzentin und Vertraute Regina Ziegler sagt es so: »Die Kamera liebt Christine Neubauer. Aber sie liebt sie nun einmal doppelt.«
Später am Abend beim Essen hat die Produzentin Kartoffelbrei bestellt, aus Spaß und als Reminiszenz an den Zement. »Das würden sich viele wünschen, mich einzubetonieren«, sagt Christine Neubauer. Und sie sagt diesen Satz erstaunlich ernst und bitter.
Sie ist die schärfste Waffe der Öffentlich-Rechtlichen im Quoten-Kampf. So viel Erfolg, so viele Zuschauer wie Christine Neubauer hat keine. Und so viel Sendezeit auch nicht. Fast jeden dritten Abend ist sie im Fernsehen zu sehen. Sie hat Frau Ferres abgehängt, sie hat sie alle abgehängt. Wer will sie denn einbetonieren? Die Kritiker? Oder Doris Dörrie, die mit dem Maschinengewehr gedroht hat, wenn sie noch mal einer Fünfzigjährigen dabei zuschauen muss, wie die als angeblich Dreißigjährige eine Farm in Afrika gründet?
Im letzten Jahr liefen 115 Christine-Neubauer-Filme, zusammen waren es 10 373 Neubauer-Minuten, also ungefähr sieben volle Tage. Es könnte ihr egal sein, was Doris Dörrie sagt. Es ist ihr aber nicht egal: »Es sind fünf Filme im Jahr. Der Rest sind Wiederholungen. Davon habe ich gar nichts. An ihnen verdiene ich nicht, aber ich bin stolz auf sie, denn wiederholt wird bekanntlich nur, was bei der Erstausstrahlung erfolgreich war. Ist die Dörrie neidisch auf meinen Erfolg, weil ihre eigene Serie Klimawechsel gefloppt ist?«
Wenn man Doris Dörrie ein paar Tage später auf der Terrasse des Münchner Literaturhauses trifft, sagt sie: »Ich glaube, ich muss öffentlich Abbitte tun und mich bei Frau Neubauer entschuldigen: Also, es tut mir leid, ich wollte sie gar nicht persönlich kränken. Aber ich bestehe darauf, dass die Programmverantwortlichen komplett bescheuert sind, 115 Filme im Jahr mit ihr zu zeigen.« – Beleidigen Sie mit Ihrer Kritik nicht auch vier bis acht Millionen Zuschauer, die Frau Neubauer gern 115-mal sehen? – »Das ist das Totschlagargument der gesamten Branche: Die Deppen da draußen wollen es so, und wir hier drinnen mit Abitur geben ihnen, was sie brauchen.«
(Lesen Sie auf der nächsten Seite, was die Glaubwürdigkeit Christine Neubauers ausmacht und warum sie außerdem richtig gut fürs Geschäft der Öffentlich-Rechtlichen ist.)
Was Christine Neubauers Erfolg ausmacht? Nun, Männer finden Sie erotisch, Frauen so normal und bodenständig: eine, die zupacken kann.
Fanpost bekommt Christine Neubauer jeden Tag, Berge von Briefen. Sie liest sie alle. Erstaunliche Dokumente von Geisteszuständen in deutschen Wohnzimmern sind darunter: Entschuldigen Sie bitte, dass ich gestern noch die Lockenwickler im Haar hatte, als Sie bei mir waren. Einmal hat einer sogar eine sechsstellige Summe geboten, wenn er sie zum Abendessen einladen darf.
Christine Neubauers Vater war Setzer bei der Süddeutschen Zeitung. Als der Bleisatz abgeschafft wurde, machte er mit seiner Frau eine kleine Druckerei auf, zwei klapprige Maschinen im Gartenhaus. Die Tochter will Schauspielerin werden, bewirbt sich mit 16 an der Falckenberg-Schule in München und fällt durch. Sie macht Abitur, studiert, nimmt anderswo Schauspielunterricht, auch bei Lee Strasberg in New York, hat Bühnenauftritte und erste Fernsehrollen. Mit 26 Jahren spielt sie in der Serie Die Löwengrube, bekommt den Grimme-Preis und ist für das Fernsehen entdeckt. Ihr Leben ist eine Erfolgsgeschichte, wie es sie in diesem Land nicht viele gibt.
Ihre Fans und Freunde und naturgemäß auch diejenigen, die mit Christine Neubauer viel Geld verdienen, sagen, ihr einzigartiger und mit nichts vergleichbarer Erfolg liege daran, dass Männer sie sehr erotisch finden und Frauen sie nicht als Konkurrentin sehen, weil sie so glaubwürdig, bodenständig und unintellektuell ist, so gar nicht unnahbar, kühl oder zickig. Und natürlich auch daran, dass sie macht, was das Fernsehpublikum zur Prime Time mag: leichte, entspannende Unterhaltung.
Die Kritiker sagen, was die Neider auch sagen: Christine Neubauer ist dabei zum Symbol geworden dafür, dass beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen die Quote über alles geht, über Qualität sowieso. Gebührenfinanzierter Schmalz als Medikamentierung der alternden Gesellschaft. Alle acht Minuten stirbt ein ZDF-Zuschauer. Solche Sachen. »Das Publikum jedenfalls ist immer auf meiner Seite«, sagt Christine Neubauer. Und wenn man dann antwortet: »Ja, sogar bei so einem Schrott wie Ein Sommer auf Sylt«, spürt man sofort, das war jetzt ein großer Fehler. Christine Neubauer ist empfindlich. Meine Güte, ist die empfindlich.
»Ein Sommer auf Sylt hatte 6,5 Millionen Zuschauer. Marktanteil 24 Prozent. Und zwölf Prozent Junge. So viele Junge hatte die ARD noch nie am Freitag«, sagt sie sofort auf und kann also auch sehr kühl intonieren. »Junge« sind in diesen TV-Messungen Menschen bis 49 Jahre, denkt man dann möglicherweise und: Ob sie die Einschaltquoten aller ihrer Filme auswendig kennt?
Sie sagt: »Kritiken lese ich gar nicht, weil ich mich mit dieser negativen Energie nicht belasten will. Und bei Haltet die Welt an hatte ich fünf Millionen Zuschauer und positive Kritiken.« Also liest sie die Kritiken doch? »Wenn es gute sind, ja. Manche Kritiker haben vielleicht vergessen, dass ich meine Karriere mit zwei Grimme-Preisen begonnen habe.« Sie selbst hat es nicht vergessen. Und es wäre ja kein Wunder, wenn sie das will, was alle wollen: gute Kritiken und hohe Einschaltquoten.
In den Boulevard-Zeitungen kann man lesen, dass »die Neubauer« jetzt
alles mitnehmen muss, was sie kriegen kann: weil sie für sich, ihren Mann und ihren Sohn ja gerade erst dieses Schloss gebaut hat am Isarhochufer bei München, 600 Quadratmeter, wenn nicht mehr, mit Turm. Und bestimmt 15 riesige Flatscreen-Fernseher, wenn nicht mehr. Ihr Mann, der Sportjournalist Lambert Dinzinger, hat der Bild unglücklicherweise gesagt, wenn er Sehnsucht hat nach seiner Frau, muss er nur den Fernseher einschalten. Und dieselbe Zeitung zitiert sie mit dem Satz, sie habe nicht nur was in der Bluse, sondern auch was in der Birne.
So was wird aufhören. Sie lässt sich jetzt beraten, bevor sie Interviews gibt. Jedes Zitat wird gegengelesen. Sie arbeitet an einem behutsamen Genrewechsel. Und das Erstaunliche ist: Das Publikum folgt ihr auch zu Kindesentführungen in Norddeutschland, Organhandel in Mexiko und Personenminen in Angola. Also bleiben ihr auch die Quotenjunkies in den Sendern treu.
Eigentlich fehlt nur noch, dass Doris Dörrie einen richtigen Kinofilm mit ihr macht. Weil München München ist und das Literaturhaus im Sommer so etwas wie der Dorfbrunnen, kommt ausgerechnet jetzt, als man Doris Dörrie diesen Vorschlag unterbreiten will, eine Frau an den Tisch und sagt: »So lange warte ich schon darauf, Sie zu treffen, Frau Dörrie. Ich möchte Ihnen mein Buch schenken. Sie sollten einen Film daraus machen.« Das Buch heißt Tanz der Gefühle. Doris Dörrie liest den ersten Satz: »Im Osten brach der Himmel in purpurrote Furchen auseinander und vertrieb die Schwärze der Nacht.« Dann klappt sie den Buchdeckel wieder zu und sagt: »Ich glaube, das sollten wir Frau Neubauer schicken.«
Es ist ein Witz.
Und es ist doch auch eine Wahrheit. Christine Neubauer ist gestern 48 geworden. Glaubwürdigkeit scheint eines ihrer Erfolgsgeheimnisse zu sein. Wenn sie klug ist, wird sie den einen oder anderen zu seichten Stoff ablehnen. Und wenn sie sehr klug ist, wird sie aufhören, gegen das Alter anzuspielen.
Ob sie so klug ist?
Sie war 26 und sehr dick, als sie ihren ersten Grimme-Preis bekam für die Darstellung einer Figur, die am Ende der Serie 52 war. Kann es sein, dass ein Teil in ihr es deswegen auch immer noch nur folgerichtig und gerecht findet, wenn sie noch eine Weile die Dreißigjährige spielen kann, mit männlichen Partnern, die 15 Jahre jünger sind als sie?
Leider leuchten Christine Neubauers schöne Augen jetzt sehr. Und sie sagt: »Ja, das finde ich. Solange ich so jung aussehe.«
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Doch, es gibt auch gute Filme mit Christine Neubauer:Haltet die Welt an zum Beispiel oder Heiße Spur. Auch der Rohschnitt von Die Minensucherin ist vielversprechend. Und Moppel-Ich hätte auf seine sehr spezielle Art sogar im Kino funktioniert, findet Evelyn Roll.
Fotos: Oliver Mark