SZ-Magazin: Ihr Lebensthema ist der Tod. Wann begann diese Obsession?
Jürgen Domian: Mit zwölf oder 13. Ich begriff, dass wir endlich sind, und grübelte stundenlang über Fragen wie: Werden tote Kinder im Jenseits nie erwachsen? Können die Toten mich sehen? Wie sehen Tote aus? Wann sterben meine Eltern? Wie sterbe ich? Kann man Toten etwas mitteilen? Wenn ich abends schlafen ging, packte mich die Angst, im Schlaf zu sterben und am nächsten Morgen tot im Bett zu liegen.
Haben Sie Hilfe gesucht?
Im Konfirmandenunterricht hatten wir einen charismatischen Pastor, der mir erklärte, dass Gläubige den Tod nicht fürchten müssen, weil sie im Paradies das ewige Leben erwartet. Durch die Strahlkraft dieses Mannes wurde ich fanatischer Christ. Mein ganzes Leben war bestimmt vom Glauben. Ich las die Bibel hoch und runter, ging zu jeder Gelegenheit in die Kirche und betete morgens, mittags und am Abend. Auf alle existenziellen Fragen fand ich die Antwort in der Heiligen Schrift, und meine Angst vor Tod und Sterben löste sich auf wundersame Weise auf.
Mit 15 verteilten Sie vor der Kirche selbstgedruckte Flugblätter, auf denen Sie mit flammender Emphase dazu aufriefen, zum wahren und lebendigen Glauben zu finden.
Mein Fanatismus ging so weit, dass ich ahne, was in religiös motivierten Attentätern vorgeht. Ich war besessen von der Richtigkeit meines Glaubens und wollte, dass alle Menschen die Welt so sehen wie ich. Es machte mich zornig, sonntags die braven Gummersbacher Bürger in schicken Klamotten und Pelzmänteln in die Kirche wackeln zu sehen. Ich verachtete diese Leute, weil ich ihnen unterstellte, dass sie nicht mit Leib und Seele Jesus Christus verbunden sind, sondern nur aus bürgerlicher Tradition in den Gottesdienst gehen. Deshalb jagte in meinem Flugblatt eine Beschimpfung die nächste. Ich kam mir groß und mutig vor, denn ich hatte Jesus vor Augen, wie er die Händler aus dem Tempel trieb. Das fand ich super. So wollte ich auch sein.
Wie lange hielt Ihr Fanatismus?
Bis ich 20 wurde. Ich wollte Theologie studieren, aber kurz vorher brach alles zusammen. Im Philosophieunterricht im Gymnasium hatte ich mitbekommen, dass die größten Kritiker des Christentums Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche sind. Ich dachte, du musst deine Gegner kennen, also lies die beiden. Ich war so selbstherrlich zu glauben, dieser Kampf auf höchstem Niveau würde meinen Glauben nur noch stärker machen. Aber je mehr ich mich in Das Wesen des Christentums und Der Antichrist vertiefte, desto mehr Risse bekam das Fundament meines Glaubens. Plötzlich musste ich vor der Frage kapitulieren, warum dieser angeblich liebende Gott es zulässt, dass ein Kind behindert geboren wird oder eine junge Mutter stirbt. Dieser egoistische Gott erschien mir auf einmal als ein von Menschen gemachtes Konstrukt. Mich hätte ein Gott beeindruckt, der sagt: »Ich liebe dich, aber was geht das dich an?« Ich fand es plötzlich so klein, dass dieser Gott etwas von mir erwartet und ständig sagt, du sollst, du musst. Ich stand vor dem Nichts. Gott war weg, der Tod hatte wieder Macht über meine Gedanken und verdunkelte mein Leben. Es gab kein Gut und Böse mehr und keinen Trost, eine Katastrophe.
Ihr Vater war Hausmeister, Ihre Mutter Putzfrau. Das prädestiniert einen nicht dafür, Nietzsche und Feuerbach zu lesen.
Mein Vater wurde mit 17 in den Krieg geschleudert und kam mit
schweren Traumata zurück. Dadurch konnte er nie etwas lernen. Ich sollte es mal besser haben, aber ich war ein schlechter Schüler, der sich im Unterricht verängstigt zurückhielt. In der Hauptschule, die ich besuchte, kamen fast alle Kinder aus einfachen Verhältnissen, trotzdem gab es klare Hierarchien. Das Kind der Kassiererin sah auf das Kind der Putzfrau herab. Gelernt haben wir diese Hackordnung von unseren Vorbildern, den Lehrern. Ich wurde vom ersten Schuljahr an wie das Letzte behandelt, während das Kind der Kassiererin schon einen Tick bevorzugt wurde. Ein Lehrer war als Kapitän des VfL Gummersbach ein prominenter Mann, aber er hatte das pädagogische Talent einer Bratwurst. Er verteilte Kopfnüsse und demütigte die Schwachen. Als ich bei einer Erdkundefrage versagte, schrie ein anderer Lehrer, ob ich denn nur Hasenscheiße im Kopf hätte. Dann ging er genüsslich durch die Klasse und sagte: »Der Jürgen kann noch nicht mal einen Putzlappen richtig auswringen. Wir sollten ihn Doofian nennen.«
Nach Handelsschule und Fachoberschule bekamen Sie mit
18 die Genehmigung, ein Gymnasium zu besuchen.
Das war mein Lebensglück. Als ich im Arbeitsamt Gummersbach die Idee formulierte, auf ein Gymnasium zu wechseln, haben die mich fast ausgelacht: Greif mal nicht nach den Sternen, Junge, mach lieber eine Lehre. Gott sei Dank habe ich nicht auf diese Sesselpuper gehört und mich trotzdem bei Gymnasien beworben. Nach zwei ernüchternden Absagen saß ich vor Horst Kienbaum, dem Direktor des Gymnasiums Grotenbach. Dieser feine Mensch sagte einen Satz, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde: »Einen Fall wie Sie hatten wir noch nie. Aber wenn Sie bereit sind, in den nächsten drei Jahren auf Ihre Freizeit zu verzichten und nur zu lernen, dann kommen Sie.« Die ersten Monate waren ein Erweckungserlebnis. Ich las zum ersten Mal einen Roman und ging zum ersten Mal in die Oper. Die Lehrer förderten mich, und bei den Schülern war ich sofort akzeptiert. Es war ein ungeheurer Triumph für mich, dass ich schon ein Jahr später zum Schülersprecher gewählt wurde. Auch Ärztesöhne, die mich früher nie gegrüßt hatten, weil ich Hauptschüler war, gaben mir ihre Stimme.
Nach Abitur und Zivildienst gerieten Sie mit Mitte 20 in die schwerste Krise Ihres Lebens. Sie hatten Ihren Glauben verloren, suchten Ihre sexuelle Identität und wurden zum Bulimiker.
Bulimie war damals eine unbekannte Krankheit, deswegen schämte ich mich vor mir selbst. Ich hockte einsam in einer Wohnung ohne Telefon im sechsten Stock, hörte Schostakowitsch, las Camus, Kafka und Celan und fraß und kotzte. Wenn Sie vor dem Klo knien und den Finger bis zum Anschlag in den Hals stecken, um kotzen zu können, verlieren Sie jegliche Achtung vor sich selbst. Und wenn das dreimal, viermal am Tag vorkommt, liegen Sie in der Gosse. Bis auf eine Freundin wusste niemand etwas von meiner Kotzerei. Es war tabu, darüber zu sprechen, auch wegen der ethischen Fragen: Du verschwendest Unmengen von Lebensmitteln, während andere hungern - was für eine Schande!
Haben Sie erbrochen, um nicht dick zu werden?
Nein. Ich empfand das Kotzen als Entladen meiner inneren Spannungen. Wenn ich nicht brechen konnte, sah ich aus wie eine Schwangere. Dann half nur noch ein Liter warmes Salzwasser, um das Erbrechen zu ermöglichen.
Wie lange ging das so?
Gut zwei Jahre. Dann las ich im Spiegel einen Bericht über eine Krankheit namens Bulimie. Und der Zufall oder das Schicksal wollte es, dass in dem Bericht eine Selbsthilfegruppe erwähnt wurde, die sich bei mir in der Nähe traf. Ich habe viele Wochen mit mir gerungen und dann entschieden, da gehst du mal hin. Die meisten in der Gruppe waren Frauen. Es ging zu wie bei den Anonymen Alkoholikern. Bevor man zum Beispiel sagen durfte, dass man dafür ist, das Fenster zuzumachen, musste man immer sagen: »Ich bin Bulimiker.«
Was für Menschen saßen in der Runde?
Die meisten waren multipel erkrankt, bulimische Alkoholiker oder bulimische Heroinjunkies. Es war wirklich das geballte Elend, mit dem ich da zusammensaß - und genau das hat meine Selbsterhaltungskräfte geweckt. Ich dachte, nee, zu denen willst du nicht gehören!
Wie oft sind Sie zu den Treffen gegangen?
Nur ein einziges Mal. Hinterher habe ich gesagt, jetzt kämpfst du, jetzt ringst du mit dir selbst bis zum endgültigen Sieg. Das war kein Kampf, das war ein Krieg. Ich zwang mich zur Selbstzucht und kaufte im Supermarkt nur noch die Mengen ein, die ein gesunder Mensch essen würde. Um nachts keinen Fressflash zu kriegen, schloss ich abends die Küchentür ab und brachte den Schlüssel in den Keller. Wenn ich es zwei oder drei Tage geschafft hatte, nicht zu kotzen, war das schon ein Erfolg. Jeder Rückfall war natürlich ein Drama, aber ich bläute mir immer wieder ein, zum Sieg gehört auch die Niederlage, das musst du aushalten und wieder aufstehen und weiterkämpfen. Es dauerte ein Jahr, bis ich es geschafft hatte. Obwohl ich nun schon über 30 Jahre clean bin, habe ich immer noch kein normales Verhältnis zum Essen.
Aus heutiger Sicht: Was hat Sie bulimisch gemacht?
Hauptsächlich der Zusammenbruch meines Glaubens. Ich wurde vom fanatischen Christen zum fanatischen Atheisten und fiel in ein Nichts. Ich glaubte nun fest daran, dass es Gott nicht gibt - und kapierte nicht, dass ich damit von einem Glauben in den nächsten gefallen war. Einen Gott allerdings ließ ich in meiner neuen Welt zu, und der hieß Friedrich Nietzsche. Seine Götzen-Dämmerung hat den Untertitel
Wie man mit dem Hammer philosophiert. Das fand ich grandios. Ich philosophierte mit dem Holzhammer und schlug alle Werte kaputt, die für mich bis dahin von Bedeutung gewesen waren. Super! Ich geriet in einen philosophischen Rauschzustand, aber was blieb übrig? Nach welchen Grundsätzen handelt man? Wäre ich weiter in der Nietzsche-Welt geblieben, wäre ich wahrscheinlich zu einem brutalen Egomanen oder Kriminellen geworden.
Was hat neben Ihrem Glaubensverlust zu Ihrer Bulimie geführt?
Der Kampf um meine sexuelle Orientierung. Den ersten Sex hatte ich mit 16 mit einem Mädchen. Bis Anfang 20 habe ich völlig normal als heterosexueller Mann gelebt. Dann kam die stille Stunde, in der ich mir eingestand, dass ich meinen damals besten Freund genauso mochte wie meine damalige Freundin. Und dann ging es los: Was bedeutet das? Willst du ihn mal umarmen? Ja, klar. An Sexualität habe ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gedacht. Es war der Wunsch, einen Hauch Zärtlichkeit und Erotik mit ihm zu teilen. Das brachte meine Identität natürlich gehörig ins Wanken. Das Schöne war dann, dass ich mein Coming-out mit genau diesem besten Freund hatte. Irgendwann gestand er mir, dass in ihm Ähnliches vorging wie in mir. Das war großes Glück, denn so musste ich nicht in irgendwelche schmuddeligen Schwulenkneipen gehen.
Was wurde aus Ihnen beiden?
Unsere heimliche Beziehung dauerte zwei Jahre, dann haben wir uns aus den Augen verloren. Ich bin der einzige Mann in seinem Leben geblieben. So was gibt es auch.
Sind Sie bisexuell oder schwul?
Ich habe mir über viele Jahre keine Freunde in der Schwulenszene gemacht, wenn ich gesagt habe, ich bin bisexuell. Mir wurde dann immer unterstellt, ich wäre zu feige, mich zu meinem Schwulsein zu bekennen. Was für ein Schwachsinn! Um meine Ruhe zu haben, habe ich lange Zeit gesagt, ja, Leute, ich bin schwul. Aber meine Ausrichtung ist klar bisexuell.
Ob Mann oder Frau, haben Sie je mit einem Menschen zusammengelebt?
Nein. Ich bin von Natur aus ein Einzelgänger. Ich habe es immer geliebt, mich auf jemanden zu freuen. Ich wollte nicht den Alltag, das Sockenwaschen, die Frage, wer putzt das Klo? Es gab viel Zusammensein, aber nie ein Zusammenleben. Heute denke ich, vielleicht würde das doch gehen.
Ihre Livesendung Domian läuft von montags bis freitags und beginnt nachts um eins. Wie leben Sie mit diesen Arbeitszeiten?
Ich stehe je nach Schlafqualität zwischen zwei und drei am Nachmittag auf. Dann folgen zwei Stunden mit Frühstück und ausgiebiger Zeitungslektüre. Gegen halb sechs beginnen die ersten Verpflichtungen, die mit der Sendung zusammenhängen. Gegen 23 Uhr fahre ich ins Studio. Wenn die Sendung um zwei zu Ende ist, gibt es eine Stunde Nachbesprechung mit dem Team. Um viertel nach drei bin ich zu Hause. Dann beginnt eine schwierige Zeit. Ich habe schon alles Mögliche ausprobiert, um schneller ins Bett zu gehen, aber ich kann es nicht. Trotz aller Routine bin ich adrenalingeflutet, wenn ich aus der Sendung komme. Deshalb wird es dann fünf, halb sechs.
Was machen Sie in den Stunden, bevor Sie einschlafen?
Ich gehe ins Internet oder schaue die Fernsehsendungen, die ich abends verpasst habe, Talkshows, Hart aber fair, Stefan Raab. Damit fahre ich mich allmählich runter. Dann folgen ein Glas Rotwein, eine Melatonin-Tablette und Ohrenstöpsel gegen die Tagesgeräusche im Innenhof. Leider kommt es in steter Regelmäßigkeit vor, dass ich morgens um halb acht immer noch versuche, einzuschlafen. Das ist die Hölle. Für klassische Beziehungen ist mein widernatürlicher Lebensrhythmus ein Killer. Und dann schreibe ich auch noch Bücher und habe deswegen am Wochenende auch kaum Zeit. Hätten Sie Lust, sich mit mir Sonntagnacht um eins in einer Bar zu treffen? Das sind schon spezielle Typen, die auf diese Frage mit Ja antworten.
Wie lange dauerte Ihre längste Beziehung?
13 Jahre. Vor elf Jahren haben wir uns getrennt.
Mann oder Frau?
Das war ein Mann.
Beruf?
Journalist.
Nachtredakteur bei einer Tageszeitung?
Nein, er hatte normale Arbeitszeiten. Ich rechne es ihm hoch an, dass er 13 Jahre lang auf meinen Rhythmus Rücksicht genommen hat.
Man könnte sich mit Ihnen nachmittags treffen. Sie frühstücken, der andere isst ein Stück Kuchen. Ich frühstücke nicht gern mit Menschen. Gestern las ich, dass sich das Bundeskabinett einmal im Monat zum gemeinsamen Frühstück trifft. Das wäre für mich das Grauen. Entweder frühstücke ich, oder ich unterhalte mich über die Steuerreform.
Leben Sie in einer Beziehung?
Nein. Ich bin seit einigen Jahren solo. Je älter man wird, desto schwieriger ist es, eine Liebe zu finden. Ich möchte keine Kompromisse und Konzessionen machen. Dann verzichte ich lieber, denn ich kann wirklich gut allein leben.
Was machen Sie, wenn Ihre Sendung Sommerpause hat?
Früher bin ich immer in den Süden gefahren. Seit zwölf Jahren fahre ich mit meinem Auto fast 3000 Kilometer Richtung Norden und wandere in Lappland durch die Wildnis. Dort ist es 24 Stunden am Tag hell. Ich bin für mich allein und schweige. Es ist wie Exerzitien halten. Nur in der Stille hört und sieht man genau, auch sich selbst.
Domian läuft seit 20 Jahren. Wie groß ist Ihr Team?
Es gibt einen Hörfunktechniker, einen Ablaufregisseur, einen Redakteur, einen Psychologen für Notfälle und drei Leute am Telefon. Wir sind die kleinste Fernsehsendung Deutschlands. Ich schminke mich selbst und kümmere mich auch um die Beleuchtung.
Die Telefonnummer von Domian wird pro Sendung 30 000 Mal gewählt. 150 Anrufer kommen durch und werden abgecheckt, ob sie eine interessante und glaubwürdige Geschichte zu erzählen haben.
Mit sechs Anrufern sprechen Sie in Ihrer 60-minütigen Sendung. Kann man Menschen in zehn Minuten helfen?
Die Hilfe findet meist jenseits der Worte statt, indem man einfach da ist und aufmerksam zuhört.
Wie viele Menschen rufen Sie aus Motiven wie Exhibitionismus, Narzissmus oder Geltungssucht an?
Natürlich gibt es Anrufer, die bloß mal für ein paar Minuten bekannt sein wollen, aber zwei Drittel suchen einen Gesprächspartner, weil sie einsam, verzweifelt oder in Not sind. Denen bietet unser Format eine Art mediale Seelsorge. Die Botschaft ist: Ich höre dir zu, auch wenn die anderen dich widerlich, pervers und krank finden. Je intensiver das Gespräch ist, desto mehr vergessen die Leute, dass sie nicht im Beichtstuhl sitzen, sondern ein paar hunderttausend Zuhörer haben.
In seinem Roman Der Circle schreibt Dave Eggers: »Leiden war nur dann Leiden, wenn es in Stille, in Einsamkeit geschah. Schmerz, der in der Öffentlichkeit ertragen wurde, vor den Augen von Millionen Menschen, war kein Schmerz mehr. Er war Verbundenheit.« Ist es dieser Mechanismus, der Ihre Sendung so erfolgreich macht?
Ja, aber für uns sind auch Exhibitionisten wichtig, die Spaß daran haben, eine ausgefallene Sexgeschichte zu erzählen. Domian ist eben auch ein Entertainmentformat. Ohne die Selbstdarsteller würde es zu finster und traurig werden.
Welche Themen bringen Quote?
In den ersten Jahren trieb das Thema Sexualität die Zahlen in die Höhe. Als die erste Windelfetischistin bei uns anrief, war das ebenso eine Sensation wie der schwule Arzt, der sich zum Fisten bekannte. Inzwischen schaut man sich das im Internet an. Für Quote sorgen heute Themen wie Liebe, Eifersucht, Trennung, Einsamkeit, Krankheit, Tod.
Sucht sich das Unglück Unglückliche aus?
Ja, das denke ich oft. Es ist verrückt, wie das Unglück immer wieder bei Menschen zuschlägt, die schon genug Tragödien hinter sich haben. Das Nachdenken darüber kann einen zum Esoteriker machen.
Kulturkritiker behaupten, dass wir trotz immer mehr Kommunikationsangeboten immer einsamer werden. Richtig?
Nein. Nach meiner Beobachtung war die Einsamkeit vor 20 Jahren genauso groß wie heute. Sobald es um schicksalhafte Dinge geht, sind viele von uns allein. Einen Freund, der einem wirklich zuhört, haben die wenigsten. Das ist sehr traurig, aber so ist das Leben.
Wie erkennen Ihre Mitarbeiter, ob sie einen Spaßvogel am Telefon haben, der Ihnen die Hucke volllügen will?
Das verrate ich nicht. Meine Mitarbeiter sind wirklich mit vielen Wassern gewaschen, aber ab und zu schafft es doch einer, uns zu verarschen. Wir hatten unlängst einen Fake, der perfekt war. Ein Anrufer erzählte, er wäre das Kind einer Amish-Familie. Der wusste so unfassbar viele Details über die Kultur der Amish, dass er trotz harter Befragung vollkommen glaubwürdig wirkte. Nachdem er zehn Minuten auf Sendung war, lachte er los und sagte: Reingefallen!
Welche Schicksale werden von Ihren Mitarbeitern aussortiert, obwohl sie stimmen?
Bei uns rufen immer und immer wieder Menschen an, die Sachen sagen wie: »Ich habe 50 Schlaftabletten genommen und will mit Domian reden.« Dann laufen bei uns Lebensrettungsmaßnahmen an. Auf Sendung kommen diese Anrufer nie.
Warum zeichnen Sie Ihre Sendung nicht am Nachmittag auf? Dann könnten Sie vor Mitternacht im Bett liegen.
Was man tagsüber übertüncht, bricht nachts auf. Die Nacht öffnet die Seelen. Die Dunkelheit wirft uns auf uns selbst zurück und potenziert Empfindungen. Wer verzweifelt ist, ist es nachts doppelt und dreifach. Für diese Menschen sind wir die Kerze im Fenster.
Sind Sie privat auch der verständnisinnige Zuhörer, oder kommt da eine redewütige Rampensau zum Vorschein?
Wenn es so wäre, dann wäre ich in der Nacht eine Kunstfigur. Vielleicht bin ich völlig verblendet, aber ich behaupte, ich bin privat derselbe Mensch.
Sie haben es in Ihrer Sendung mit Mördern, Satanisten und schrägen Vögeln zu tun, die einander beim Sex ankoten, auf benutzte Tampons stehen oder Smegma auf ihr Brötchen schmieren. Welche Berufsdeformationen beobachten Sie bei sich?
Mein Menschenbild ist negativer geworden. Ich habe mir früher nicht ausmalen können, zu was der Mensch fähig ist und welche seelischen Abgründe es gibt. Da kriege ich eine Gänsehaut. Ich bin aber nicht zum Misanthropen oder Zyniker geworden. Dafür gibt es zu viele Anrufer, die Beispiele für Courage, Selbstlosigkeit und Tapferkeit sind.
Haben Sie mal wieder etwas von Edwin gehört?
Von welchem Edwin?
Sie wurden in der Sendung mal von einem 26-Jährigen angerufen, der beim Metzger einmal im Monat 60 Kilo Hackfleisch kauft und daraus in seinem Wohnzimmer einen Frauenkörper für einsame Sexspiele formt. Ein Kommentar auf Youtube lautete: »Komm ins Mett, Schatz.«
Hieß der Edwin? Nein, der Hackfleischmann hat nicht wieder angerufen.
Als Edwin seine Geschichte erzählte, fragten Sie: »Bevorzugst du Rinder- oder Schweinegehacktes?« War Ihnen klar, dass das ein Brüller ist?
Nein. Ich war begeistert, weil die Geschichte so bizarr war. Deshalb ich habe die Frage einfach so rausgehauen. Ich lasse mir von meinen Mitarbeitern nie ein Briefing geben, wer zu mir durchgestellt wird. Wüsste ich vorher, was auf mich zukommt, wäre mir die Frage nie und nimmer eingefallen.
Welcher Anruf bringt Sie heute noch zum Weinen?
Bei uns meldete sich eine Mutter, deren Kind entführt, sexuell missbraucht und ermordet worden war. Sie saß gefangen in ihrer Wohnung, weil draußen Boulevardreporter lauerten. Ihren Mann und ihr zweites Kind hatten Verzweiflung und Schmerz stumm gemacht. Da sie mit niemandem über ihre Not sprechen konnte, rief sie unsere Nummer an. Wir haben fast 30 Minuten lang miteinander telefoniert. Jeder Medienprofi sagt Ihnen, es ist ein Unding, im Fernsehen 30 Minuten zu telefonieren. Doch, das geht.
Haben Sie jemanden, den Sie anrufen können, wenn Sie
in seelischer Not sind?
Ja. Zum Glück habe ich mein Leben lang immer einen oder zwei Menschen gehabt, die mir so vertraut waren, dass ich mit ihnen über alles sprechen konnte.
»Jeder, der in die Öffentlichkeit strebt, kompensiert etwas«, sagten Sie mal. Was kompensieren Sie mit Domian?
Den Minderwertigkeitskomplex, den man mir in der Hauptschule eingeimpft hat. Die Demütigungen von damals erklären meinen Ehrgeiz und meine Eitelkeit. Medienberufe laden krankhafte Narzissten geradezu ein, aber ich habe inzwischen begriffen, wie albern es ist, sich etwas darauf einzubilden, auf der Straße erkannt zu werden.
In 20 Jahren Domian haben Sie sich von mehr als 20 000 Anrufern Probleme erzählen lassen. Leiden Sie mittlerweile unter Mitgefühlsmüdigkeit?
Im Gegenteil. Ich werde dünnhäutiger und ringe in der Sendung öfter mit den Tränen als vor zehn, 15 Jahren. Vielleicht liegt es am Altwerden, vielleicht an meiner spirituellen Suche.
Sie sind Zen-Buddhist und lesen Mystiker wie Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz und Meister Eckhart.
Zen ist bei mir Teil jedes Atemzuges. Ich versuche, gemäß dieser Philosophie zu handeln und zu urteilen, aber erklären kann ich sie nicht. Fragt man einen Zen-Meister, was Zen lehrt, lautet die Antwort: nichts. Die zwei großen Säulen des Zen sind Mitgefühl und die unbedingte Achtung allen Lebens. Wenn überhaupt, lehrt Zen uns die Gegenwart und den Moment. Die einzige Wirklichkeit, die der Mensch hat, ist das Jetzt, und nur darum geht es. Die Vergangenheit ist schon im Besitz des Todes und die Zukunft nichts weiter als eine Illusion. Wenn ich versuche, danach zu leben, lebe ich klarer und angstloser. Ich mache mir kaum noch Gedanken über die Zukunft und verschwende keine Zeit mehr, mich mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen.
Obwohl Ihre Quoten konstant sind, wollen Sie Ende 2016 mit Domian aufhören. Warum?
Ich möchte öfter die Morgensonne sehen. Im Winter lebe ich mit ein, zwei Stunden Tageslicht. Das schlägt einem aufs Gemüt. Außerdem will ich meinen Gesprächspartnern endlich mal ins Gesicht sehen, statt mit ihnen zu telefonieren. Ich experimentiere gerade mit Atze Schröder, der hinter seiner Proll-Figur ein sehr belesener und ausgesprochen feinsinniger Mensch ist. Mit ihm als zweiten Host könnte ich mir eine neue Talksendung vorstellen.
Hat es etwas zu bedeuten, dass es außer Anne Will keinen offen homosexuellen Talk-Host gibt, der es in die A-Liga geschafft hat?
Das hat eine Menge zu bedeuten. Warum gibt es in den oberen Etagen des Fernsehens keine offen schwul lebenden Journalisten, Moderatoren oder Sportreporter? Zufall kann das nicht sein. Lesbische Frauen, die wie Anne Will mit ihrem Privatleben sehr zurückhaltend sind, nehmen die TV-Gewaltigen nicht so ernst. Lesbische Liebe löst in der Gesellschaft weniger Provokationen aus als die Liebe unter Männern.
Sie arbeiten seit einigen Jahren ehrenamtlich in einer Kölner Palliativstation. Wie hat diese Arbeit Ihr Verhältnis zum Tod verändert?
Die ständige Präsenz des Todes hilft zu begreifen, dass Tod und Leben eine Einheit sind. Die Beschäftigung mit dem Zen-Buddhismus hat mir letztendlich die Angst vor dem Tod genommen. In einem Koan fragt ein Schüler, ob es ein Leben nach dem Tod gebe. Der Zen-Meister antwortet: »Ich war noch nicht tot.«