An die Pandemie gewöhnt man sich nicht. Die Zahl der Menschen in Deutschland, die ihre persönliche Situation als belastend beschreiben, hat im Februar 2021 einen neuen Höchststand erreicht. Das zeigen die Ergebnisse der Erfurter Cosmo-Studie, die seit Beginn der Pandemie-Maßnahmen in Deutschland im März 2020 Daten zu Verhaltensweisen, Einschätzungen und Wohlergehen der Bürger*innen erhebt. 64 Prozent empfinden den Einfluss der Maßnahmen auf ihre Lebenssituation mittlerweile als eine starke persönliche Belastung. Noch mehr als um sich selbst sorgen sich die Leute jedoch um ältere Menschen und Kinder. Ein Indiz dafür, dass die Belastungen noch nicht völlig die Empathie gefressen haben und viele wissen, dass Einsamkeit und Einschränkungen gerade die Alten und die Jüngsten am härtesten treffen. Alten Menschen bleibt nicht mehr viel Zeit, jüngere brauchen hingegen viel Zeit, um ihren Platz im Leben zu finden. Wir wünschen uns ein Ende der Pandemie, eine schrittweise Rückkehr zum alten Leben, damit der Alltag für alle zurückkehrt. Doch wie reduziert man die Sorgen? Wie lassen sich jetzt Entlastungen organisieren?
Dass die Pandemie bald vorüber ist und wir uns von zwölf Monaten Ausnahmezustand erholen können, ist derzeit nicht in Sicht. Denn seit vergangener Woche fallen die Inzidenzen nicht mehr, sie steigen wieder. Virolog*innen warnen davor, dass zu frühe Lockerungen, sei es im Einzelhandel, in Kitas oder in Schulen, eine enorme dritte Welle anstoßen könnten. Zwar haben die Impfungen gegen das Corona-Virus in Deutschland begonnen, doch bis alle Erwachsenen diese Möglichkeit in Anspruch nehmen können, könnte es noch viele Monate dauern. Der »super Sommer«, den der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach vorhergesagt hat, wackelt.
Für Kinder und Jugendliche gibt es bislang keinen zugelassenen Impfstoff. Die meisten Eltern werden erst in der letzten Gruppe geimpft werden. Die Jüngsten sind ganz besonders darauf angewiesen, dass ihr Alltag möglichst sicher vor einer Infektion gestaltet ist, damit sie weder selbst erkranken noch das Virus weiter in ihre Familien tragen. Mehrere Studien haben gezeigt, dass sowohl Kinder als auch Eltern auf Quarantäne-Situationen, die sie über mehrere Tage hinweg in der Wohnung halten, psychisch stärker reagieren als auf die bestehenden Einschränkungen, mit denen sie meistens besser zurechtkommen. Einige entwickeln Ängste und zeigen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Im Interesse der Kinder ist es also auch zu vermeiden, dass sie aufgrund von Corona-Infektionen in ihrer Kita-Gruppe oder Schulklasse in Quarantäne müssen. Die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey hält dennoch an den schrittweisen Öffnungen fest. »Natürlich verantwortungsvoll und mit einem Paket aus Maßnahmen und Hygieneregeln«, sagte Giffey Ende Februar. Doch mit Luftfiltern ausgestattet sind die allermeisten Kita- und Klassenräume nicht. Erzieher*innen klagen darüber, nicht genügend FFP2-Masken gestellt zu bekommen und beim Organisieren von regelmäßigen Tests auf sich allein gestellt zu sein.
Nach wie vor gibt es auch für Einrichtungen wie Kitas und Schulen nicht die Möglichkeit, auf Selbsttests zurückzugreifen. Das Personal in den Bildungseinrichtungen fühlt sich weder ausreichend unterstützt noch wirklich sicher. Zwar sind Erzieher*innen und Lehrer*innen endlich in die zweite Impfgruppe aufgerückt, doch bis sie an der Reihe sind, halten sich viele von ihnen weiter täglich mit größeren Kindergruppen in geschlossenen Räumen auf. Dass die Sicherheit des Personals nicht früher thematisiert wurde und die Schutzkonzepte sich innerhalb von einem Jahr nur wenig weiterentwickelt haben, erweckt den Eindruck, dass es bei Kitas und Schulen vor allem darum geht, irgendwie Betreuung möglich zu machen, damit Erwachsene arbeiten können.
Seit elf Wochen sind viele Kinder mittlerweile nicht mehr in ihrer Kita und Schule gewesen. Eine einfache Lösung, die den unterschiedlichen Bedürfnissen von Kindern gerecht wird, gibt es nicht. Weiter leben wie bisher wollen viele nicht mehr, weil sie nicht mehr können. Zu einsam, zu anstrengend, zu wenig Unterstützung beim Lernen. Aber bislang fehlen Ideen, wie man die Entlastung von Familien so gestalten könnte, dass darüber die Infektionsrisiken nicht zunehmen. Sue Reindke, die als Lehrerin an weiterführenden Schulen gearbeitet hat und mittlerweile Unternehmen zu Remote-Work berät, ärgert sich darüber, dass im Bildungsbereich nicht experimentiert wird, etwa in der Form, dass Studierende kleine, feste Lerngruppen von fünf Schüler*innen anleiten könnten. Sie hat ihre Tochter, die in die erste Klasse geht, in den vergangenen Wochen zuhause unterrichtet. Reindke spricht sich dafür aus, dass es für Eltern die Möglichkeit geben sollte, eine Zeitlang nur Sorgearbeit zu machen, während die Kinder nicht in Schulen und Kitas gehen, damit Druck rausgenommen wird und Eltern sich so um ihre Kinder kümmern können, wie diese es gerade brauchen. Die Möglichkeit, mit einem Corona-Elterngeld eine Weile lang beruflich zu pausieren, sieht sie zwar kritisch, da es vermutlich vor allem Frauen wären, die es in Anspruch nähmen. Auf der anderen Seite, meint Reindke, seien es gerade ohnehin die Frauen, die zuhause das meiste übernehmen. Ein Corona-Elterngeld gäbe ihnen immerhin eine Wahl, ob sie berufliche Nachteile in Kauf nehmen oder ins Burnout rutschen. »Du kannst keine Work-Life-Balance haben, wenn du kein Life mehr hast«, sagt sie.
Eltern, die versuchen, ihre Erwerbsarbeit in gleichem Umfang wie bisher zu schaffen und daneben Kinder zuhause zu betreuen und zu beschulen, sind zunehmend seelisch und körperlich erschöpft. Anne Schilling, Geschäftsführerin des Müttergenesungswerkes, sagt: »Frauen, die zur Mutter-Kind-Kur oder einer Mütterkur kamen, waren schon immer sehr erschöpft. Die aber, die jetzt zu uns kommen, sind am Anschlag. Manche weinen einfach nur noch.«
Die Diskussion über die Belastung in den Familien wird bislang nicht in der Tiefe geführt. Die Belastungen werden zwar anerkannt, aber dass sie auch für Erwachsene nicht ohne Folgen bleiben, hat bislang in der politischen Debatte keinen Platz. Das Vermeiden einer Corona-Infektion durch das Zuhausebleiben erzeugt neue gesundheitliche Risiken. Viele Eltern schlafen seit dem Beginn der Pandemie-Maßnahmen noch weniger als zuvor und müssen seit zwölf Monaten ihre eigenen Bedürfnisse immer wieder übergehen, um Kindern und Job gerecht zu werden. Auf Dauer nur noch für andere da zu sein, laugt selbst genügsame und resiliente Erwachsene aus. Die Sorge um Einsamkeit und Bewegungsmangel von Kindern im Lockdown ist berechtigt, doch wie viel Zeit können Erwachsene gerade mit Tätigkeiten verbringen, die ihrer körperlichen und seelischen Gesundheit guttun? Viele der Dinge, die auch Erwachsene für ihr Wohlbefinden brauchen, sind derzeit nicht möglich. Eltern haben keine Paarzeit mehr, kaum Raum für Erholung. Für viele Eltern, ganz besonders die Alleinerziehenden, hat sich die eigene Freizeit in Luft aufgelöst. Einer neuen Studie des Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e.V. zufolge geben die Eltern von Kindern mehrheitlich an, sich nicht mehr genug von den Belastungen erholen zu können. 40 Prozent der Mütter sagen, sich »weniger oder gar nicht gut« erholen zu können. Auch bei den Vätern sind die Belastungswerte hoch, wenn auch auf etwas niedrigerem Niveau. »Du weißt, du bist Mutter während einer Pandemie, wenn du den 18-Uhr-Großeinkauf als ›Zeit für mich‹ bezeichnest«, kommentiert das die Journalistin Nora Burgard-Arp auf Twitter.
Die Entwicklungspsychologin Taniesha Burke, die auch als Eltern-Coach arbeitet, betont in unserem Gespräch, wie wichtig es auch jetzt sei, dass Eltern jeden Tag Zeit für sich finden könnten: »Wenn wir nicht gesund sind, können auch unsere Kinder und die gesamte Familie nicht gesund sein.« Die Frage, wie Eltern und andere Care-Giver Zeit für sich finden können, ist also niemals eine Luxusdebatte, selbst jetzt nicht – sondern ein Public-Health-Thema, das die langfristige Stabilität von Familien und Entwicklung von Kindern betrifft. Menschen brauchen mehr als Essen und Schlaf, um gesund zu bleiben. Und eine angeschlagene Psyche muss ebenso behandelt werden wie ein gebrochenes Bein oder eine entzündete Lunge.
In diesem Bereich der Medizin ist das Gesundheitssystem bereits jetzt überlastet. Die Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung berichtet aktuell von bis zu 40 Prozent mehr Anfragen von Menschen, die eine psychotherapeutische Behandlung beginnen möchten. Schon vor der Pandemie hatten behandlungsbedürftige Menschen große Schwierigkeiten, einen Therapieplatz zu finden. Das Angebot von Psychotherapeut*innen, die einen Kassensitz haben und gesetzlich versicherte Patient*innen annehmen, wird künstlich knapp gehalten. Genügend Therapeut*innen gäbe es, doch die Bedarfsplanung des Gemeinsamen Bundesausschuss für Kassensitze stützt sich auf 30 Jahre alte Daten. Lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz können dazu führen, »dass die Erkrankung schwerer wird und Patienten in eine stationäre Behandlung müssen. Denn innerhalb von vier bis sieben Monaten kann sich bei psychischen Erkrankungen viel ändern«, sagte Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, schon in einem Interview 2018. Das Problem der unzureichenden psychotherapeutischen Versorgung von Menschen in Deutschland ist lange bekannt. Spätestens jetzt müssten massiv mehr Kassensitze geschaffen werden, um die seelischen Konsequenzen der Pandemie aufzufangen.
Auch Psycholog*innen, die Kinder und Jugendliche behandeln, berichten von bis zu 60 Prozent mehr Anfragen als im Vorjahr sowie von einer Verschärfung der Störungen, mit denen ihre jungen Patient*innen bei ihnen in die Praxis kommen. »Ich arbeite an manchen Tagen von 8 bis 21 Uhr, insbesondere weil der Bedarf an Kriseninterventionen stark zunimmt«, sagte die Psychotherapeutin Eva Frank in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.
Forderung und Vorhaben, Schulen und Kindergärten möglichst bald wieder zu öffnen, folgen einer guten Absicht. In der öffentlichen Debatte ging es lange vornehmlich um Lernrückstände und Prüfungsvorbereitungen. Doch die Bedeutung von Kitas und Schulen geht weit über klassische Bildungsfragen hinaus. Kinder brauchen Erlebnisse, Kontakt mit Gleichaltrigen und einen Alltag, der Rhythmen folgt. Viele Kinder profitieren von Erfahrungsräumen abseits ihres Zuhauses und den Bindungen zu Erzieher*innen, Lehrer*innen oder Trainer*innen in Sportvereinen. Je älter Jugendliche werden, desto wichtiger wird auch Zeit ohne ihre Eltern für sie.
Ich habe zuletzt viel darüber nachgedacht, ob und wie wir uns nach der Pandemie von den Belastungen erholen sollten und ob Kinder nicht viel eher längere Ferien bräuchten, um wieder mit anderen zu spielen, statt in Sommerschulen zu gehen. Nachholen, was sie an Erfahrungen jenseits des Unterrichts verpasst haben. In Großbritannien hat ein Zusammenschluss aus Psycholog*innen einen »Spielsommer« vorgeschlagen und sich gegen zusätzlichen Unterricht ausgesprochen. Kinder sollen die Möglichkeit bekommen, sich viel zu bewegen, draußen zu sein und mit anderen zu spielen, erklären die Expert*innen. Die Pädagogin Sue Reindke sagt: »Ferienschule ist das Schlimmste, was man noch machen kann. Es hört sich zwar logisch an, doch wenn Schüler*innen in der normalen Lernzeit schon Schwierigkeiten haben, brauchen sie andere Dinge als noch mehr Druck.«
Was brauchen Kinder nach der Pandemie? Was brauchen sie jetzt? Diese Frage habe ich dem Sozialpädagogen Armin Krenz gestellt, der zahlreiche Bücher über Entwicklungspsychologie und Elementarpädagogik veröffentlicht hat. Nein, sagt er in unserem Telefongespräch, er sei gegen eine Verlängerung der Ferien. Er stellt besonders heraus, dass ein geregelter und ritualisierter Alltag für Kinder wichtig sei, da er ihnen das Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit vermittle, was wiederum die Voraussetzung dafür sei, dass Kinder gut lernen könnten. Auch Taniesha Burke empfiehlt Routinen: »Kinder blühen auf, wenn ihr Alltag vorhersehbar ist, und für Erwachsene reduziert es Stress.« Am besten sei es, sich als Familie ein Mal pro Woche zusammenzusetzen, die Woche zu planen und über Prioritäten zu entscheiden, sagt Burke. Die Erwachsenen sollten sich zudem einmal täglich abstimmen und besprechen, was für die Familie gut funktioniert hat, und Anpassungen machen, wenn etwas nicht geklappt hat. Alleinerziehende sollten sich nach Möglichkeit mit anderen Eltern zusammentun, um sich mit ihnen über die Alltagsorganisation auszutauschen.
Doch wenn Eltern tagsüber arbeiten müssen, ist es nicht leicht, den Tag für die Kinder zu strukturieren und sie dabei zu begleiten, die Welt um sich herum zu entdecken und neues Wissen zu sammeln. Die Zeit fehlt, die pädagogische Kompetenz, die Kreativität und auch Geduld, wenn man als Erwachsene*r versucht, mehrere Funktionen gleichzeitig zu erfüllen. In Familien ist es sehr unterschiedlich, wie gut die Erwachsenen Kindern die Alltagsstruktur und die Erfahrungsräume ermöglichen können, die sie für ihre Entwicklung brauchen. Im Idealfall bieten Kitas und Schulen diesen Rahmen, geben Kindern Sicherheit und gehen flexibel auf ihre Bedürfnisse ein.
Also zurück in die Schulen, zurück in die Kitas. Möglichst sicher. Doch insbesondere Schule muss anders sein, wenn die Kinder aus dem Home-Schooling zurückkommen. Armin Krenz hofft, dass die Lehrer*innen und Erzieher*innen den Schüler*innen »Verarbeitungsangebote« machen und erst nach und nach zum normalen Unterricht zurückkehren: viel rausgehen, da Bewegung bei Kindern Stress abbaut. Praktische Dinge erleben. Und wieder Beziehung zueinander aufnehmen. Diese Dinge empfiehlt auch das Papier der britischen Expert*innen. Sie fordern kreative Wege, damit Kinder innerhalb der Unterrichtszeiten mit ihren Mitschüler*innen spielen und reden könnten, wie in kleinen Gruppen auf den Hof zu gehen – nicht nur in den Pausen. Zudem sollten Lehrer*innen darin geschult werden, wie sie das emotionale Wohlbefinden der Schüler*innen fördern und es in den Mittelpunkt ihrer pädagogischen Anstrengungen stellen, denn erst dann könnten die Kinder wieder den regulären Stoff lernen.
Wir brauchen Corona-Sonderurlaub, damit wir nach einer langen Zeit, in der neben der Arbeit kaum etwas stattfand, wieder spüren können, warum wir auf der Welt sind.
Taniesha Burke empfiehlt Lehrer*innen, »die ersten Wochen damit zu verbringen, Ängste abzubauen, Vertrauen wiederaufzubauen, Selbstregulierung, Selbstvertrauen und soziale Fähigkeiten und Teamarbeit zu lehren«. Lehrer*innen sollten sich Aktivitäten ausdenken, bei denen Kinder sich eigene Lösungen dafür ausdenken können, mit ihren Ängsten umzugehen, sie zu verringern – und wieder positiv darüber nachdenken können, zurück in der Schule zu sein.
Ob das Bildungssystem diese Flexibilität zulässt und Schulen zugesteht, dass ihre Bedeutung insbesondere jetzt eine andere ist, als Lehrpläne abzuarbeiten? Wer wird die Lehrer*innen darin anleiten, die Kinder emotional zu stabilisieren? In der Pandemie haben viele Politiker*innen die Bedeutung der Bildungseinrichtungen für Kinder neu entdeckt. Ihr plötzliches Interesse wirkt unglaubwürdig, da die letzten Jahre in Deutschland wenig dafür getan wurde, pädagogischen Standard in Kitas zu erfüllen und das Lernen in Schulen für alle Kinder leicht zu machen.
Die Mindest-Betreuungsschlüssel, die die EU empfiehlt, werden in Deutschland in kaum einem Bundesland erreicht: Maximal drei Kleinkinder soll ein*e Erzieher*in betreuen, bei Kindern ab drei Jahren sollen maximal acht Kinder auf eine Fachkraft kommen. Kleine Gruppen wirken sich positiv auf die Bindungsqualität von Kindern und Erzieher*innen aus, sie dienen dem Kindeswohl: der Begriff, auf den in den politischen Diskussionen um die Schulöffnungen plötzlich gepocht wird. In der bisherigen Bildungspolitik stand das Kindeswohl aber weniger im Mittelpunkt.
Die Kita-Gruppen sind in Deutschland größer als Expert*innen es empfehlen, da kleinere Gruppen die frühkindliche Bildung teurer machen würden. Das Betreuungsangebot würde sich noch mehr verknappen, da es nicht genügend Erzieher*innen gibt, um Gruppen in kindgerechter Größe zu bilden. Schon jetzt decken die angebotenen Kita-Plätze sich nicht mit der Nachfrage von Eltern. Ich bin genau wie viele andere Eltern gerade selbst in dieser Situation. Mein zweites Kind wird im April ein Jahr alt, und wir haben bislang keinen Kita-Platz gefunden. Die Elternzeit meines Partners ist jedoch dann vorbei, unsere gemeinsamen 14 Monate Elterngeld sind zu Ende. Lose in Aussicht ist ein Platz ab Oktober. Die Betreuung für die sechs Monate dazwischen müssen wir irgendwie organisieren, auf den Kita-Platz klagen. In Berlin fehlen sogar 26.000 Grundschulplätze, dabei liegen die Daten, wie viele Kinder pro Jahr ungefähr eingeschult werden, bereits sechs bis sieben Jahre vorab der Verwaltung vor.
An den Schulen fällt Unterricht aus, viele Schulgebäude sind sanierungsbedürftig, auch hier sind die Klassen so groß, dass Schüler*innen nur schwierig individuell unterstützt werden können. Viele Eltern haben für die plötzliche Bedeutung von Bildung in Deutschland nur zynische Kommentare übrig, da sie bislang deutlich öfter gemerkt haben, dass der Staat in gute Bildung viel zu wenig Geld und viel zu wenige Ideen steckt. »Hat es jemals irgendwie gestört, dass Eltern die gesamte Elternzeit mit absurden Verrenkungen um einen Kitaplatz kämpfen müssen? Dass es viel zu wenig Lehrer*innen gibt? Zu große Klassen? Kaputte Turnhallen, Dächer, Klos? Kein Wlan. Verlogene Debatten. Ertrage sie nicht«, schreibt die Marketing-Managerin Kristina Faßler auf Twitter.
Auch dass in der Pandemie moniert wird, dass Kinder sich zu wenig bewegen, passt mit dem bisherigen Schulalltag nicht zusammen. Den Unterricht verbringen Kinder überwiegend im Sitzen, wie brave Angestellte später in ihren Büros. Sollte es also politisch gewünscht sein, dass Kinder toben können, dann müssen Bewegungsmöglichkeiten anders im Schulalltag verankert werden – und das nicht über benoteten Sportunterricht, der vielen Kindern ohnehin die Freude daran nimmt, was ihr Körper kann. An welchen Schulen können sich Kinder jeden Tag mehrere Stunden lang bewegen? Zudem müssten auch außerhalb von Schulen weitere Bewegungsflächen wie Parks, Schwimmbäder sowie Spiel- und Sportplätze eingerichtet werden. Die KiGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts belegt einen positiven Zusammenhang »zwischen einem gut erreichbaren Sportplatz und dem Sporttreiben der Mädchen und Jungen«. Dafür könnte Kinderpolitik jetzt Geld in die Hand nehmen und in den Nachbarschaften Sportflächen bauen, Schwimmbäder wiedereröffnen, wo sie derzeit fehlen. Werden die Kommunen in den nächsten Monaten und Jahren hier investieren?
Aber nicht nur Kinder müssen wieder spielen dürfen, auch Erwachsene brauchen sowohl jetzt als auch nach der Pandemie mehr Möglichkeiten, wieder zu Kräften zu kommen. Armin Krenz sagt, dass er auch gegen längere Ferien sei, weil er an die Eltern denke. »Eltern können nicht die Kraft gewinnen, die sie brauchen«, wenn sich die Zeit, in der sie allein für die Kinder zuständig seien, nun noch verlängere. Längere Ferien lösen zudem den beruflichen Druck für Eltern nicht auf. Denn die Ferienzeiten von deutschen Schulen passen nicht zu den Urlaubstagen, die deutsche Arbeitnehmer*innen im Schnitt gewährt bekommen. Etwa 75 freie Schultage gibt es pro Jahr und im Mittel 30 Urlaubstage für Angestellte. Wie passt das mit der gesellschaftlichen Erwartung zusammen, dass Eltern sich außerhalb der Schulzeiten um ihre Kinder kümmern?
All die Geburtstage, Grillabende, Hochzeiten, Abschiede in den Ruhestand, die im vergangenen Jahr ausgefallen sind, lassen sich kaum nachholen. Klar ist aber, dass alle Menschen, egal wie alt sie sind, die Möglichkeit brauchen, wieder ein Sozialleben zu haben. Denn sollte der Tenor bald sein, dass wir nun noch härter arbeiten müssen, um die Wirtschaft anzukurbeln, dann schrumpfen die Räume für Erholung und soziale Zeit. Wenn der Alltag eng getaktet ist und die Erwerbsarbeit noch einmal mehr von uns fordert, wird nur wenig von dem, was wir vermisst haben, in unserem Leben Platz finden können. Wir brauchen aber mehr, nicht weniger Miteinander, um auch emotional wieder im Alltag anzukommen. Physische und psychische Regeneration braucht Zeit. Diejenigen, die in der Pandemie besonders lange Arbeitsschichten hatten, sei es auf Intensivstationen oder als Eltern, sollten öfter ausschlafen dürfen. Zudem deutet viel darauf hin, dass Verkürzungen der Arbeitswoche Menschen produktiver machen. Warum also nicht an einem Mittwoch zur Hochzeitsparty einladen können? Mit den Kindern am Donnerstagnachmittag ins Schwimmbad?
Die Oma, die weit entfernt lebt, mehrere Male im Jahr besuchen können? Sich unter der Woche ehrenamtlich engagieren? Der Corona-Bonus, den alle verdienen, ist mehr freie Zeit. Wir brauchen Corona-Sonderurlaub auch nach der Pandemie, damit wir nach einer langen Zeit, in der neben der Arbeit kaum etwas stattfand, wieder spüren können, warum wir auf der Welt sind.