Ist es radikal, die Städte autofrei zu machen?

Wer wissen möchte, wie eine lebenswerte Stadt aussehen kann, sollte mal wieder in ein Wimmelbuch schauen, findet unsere Kolumnistin. Sie hat auch Ideen, wie Mobilität sich verändern muss, um nicht nur Privilegierten ein gutes Leben zu ermöglichen.

Foto: Paula Winkler

Die Einstiegsfrage dieses Textes ist provokant und macht ein Bild auf, das bei vielen Menschen zunächst eine abwehrende Haltung hervorrufen wird: Zum einen möchten sie ihr Auto gern behalten, sie brauchen es, mögen es. Zum anderen kann es schwierig sein, sich eine Stadt ohne Autos überhaupt vorzustellen. Der gedankliche Sprung von vollen zu freien Straßen ist zu radikal. Gerade weil Straßen das großstädtische Stadtbild prägen, löst die Idee der autofreien Stadt Unsicherheiten aus. Sie wirkt plötzlich unvollständig, blutleer, des pulsierenden Verkehrs beraubt. Sie ist nicht mehr die Stadt, die wir kennen. Schnelligkeit, räumliche Dichte und eine geräuschreiche Umgebung sind Aspekte, die wir mit dem Stadtleben verbinden und die den Kontrast zum ländlichen Leben bilden, das langsamer ist, mehr Platz bietet, stiller ist.

Wenn ich an eine Stadt denke, habe ich oft die Illustrationen aus Wimmelbüchern für Kinder vor Augen, auf denen es so viel zu entdecken gibt. Vielleicht könnten aber gerade diese Wimmelbilder ein Ausgangspunkt dafür sein, neu über das Leben in der Stadt nachzudenken. In den Wimmelbildern steckt bereits die Vielfalt des städtischen Lebens, seine Reichhaltigkeit und die vielen Realitäten sind in den Zeichnungen fantasievoll kombiniert. In diesen Bildern liegt kein Schwerpunkt auf dem Straßenverkehr, sondern sie stellen die Mobilität der Menschen oft sogar akkurater dar, als es in Diskussionen über den Individualverkehr in Städten getan wird: Die Gehsteige sind voller Menschen, die sich vor kleinen Läden unterhalten. Man sieht Rollstühle, Gehwägen, Buggys und Laufräder. Das Leben ohne Auto ist in der Stadt schon immer da gewesen. Und es ist längst normal. 42 Prozent der Menschen, die in deutschen Großstädten leben, besitzen kein eigenes Auto – Tendenz steigend.

Bei diesen Zahlen lässt sich kaum von einer Öko-Avantgarde sprechen. Auch, weil Menschen nicht nur Radfahren, den ÖPNV benutzen oder zu Fuß gehen, weil sie die Umwelt entlasten möchten: Viele können sich schlicht kein eigenes Auto leisten. Der Anteil der autofreien Haushalte ist in den untersten Einkommensgruppen am höchsten, bei den Menschen mit viel Geld am niedrigsten. Die Gruppen, denen es ökonomisch besser geht, besitzen zudem häufig zwei Autos oder mehr. Damit verursachen Mittelschicht und Reiche hohe Anteile der Umweltbelastungen in der Stadt, die auf Mobilität zurückgehen, haben aber weniger unter den Folgen zu leiden. Studien des Robert Koch-Instituts und des Bundesumweltamtes zufolge sind es vor allem Menschen mit niedrigen sozioökonomischen Status, die an stark befahrenen Straßen wohnen und deren Gesundheit von Lärm und Luftverschmutzung gefährdet wird. Der Großteil der Autobesitzer*innen fährt vor allem durch ärmere Stadtteile hindurch und lebt in Gebieten mit weniger Verkehr, in denen es sich leichter schlafen und besser atmen lässt.

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Eine Veränderung der Fortbewegung in den Städten ist damit nicht nur eine Umweltfrage, sondern auch eine der sozialen Gerechtigkeit. Daher ist es bigott, wenn in Diskussionen um den Verzicht auf ein eigenes Auto, wie es zuletzt geschah, auf Menschen in den so genannten »systemrelevanten« Berufen verwiesen wird – Pflegefachkräfte, Reinigungspersonal, Erzieher*innen – die vermeintlich auf Autos angewiesen sind, da der ÖPNV sie nicht zuverlässig zu ihrer Arbeit bringe. Wenn das Gehalt kaum die Miete bezahlt, dann erst recht kein Auto. Und nach überlangen Schichten fühlen sich manche Menschen auf dem Heimweg sicherer, wenn sie nicht selbst am Steuer sitzen. Wer es denjenigen, die die Grundversorgung in Städten am Laufen halten, leichter machen will, sollte sich zum einen dafür einsetzen, dass der Verkehr in den Städten besser fließen kann, damit das Krankenhauspersonal, das eigene Fahrzeuge für den Arbeitsweg braucht, nicht im Stau steckt. Zum anderen für einen besser ausgebauten und günstigen ÖPNV, dessen Kosten in der Realität Menschen mit niedrigen Einkommen immer stärker belasten. Die Preise für den ÖPNV sind in den letzten 20 Jahren mehr als doppelt so stark gestiegen wie die Preise für den Kauf und die Unterhaltung eines Autos: Für den ÖPNV um 79 Prozent, für Kraftfahrzeuge um 36 Prozent.

Dennoch setzt die Frage nach der autofreien Stadt am falschen Ende der Radikalität an. Wir müssen uns nicht zunächst die Stadt ohne Autos vorstellen, sondern zuerst eine andere Stadt. In der Diskussion sollte es darum gehen, wie das Leben in Städten gerechter, gleichberechtigter und auch gesünder wird; und vor allem auch darum, welche Veränderungen Menschen sich wünschen, die ihren Alltag angenehmer machen. »Was wollen wir den Städten hinzugeben?«, muss die Frage sein, bevor wir ihnen etwas wegnehmen. Die Debatte um weniger Autos in Städten sollte eine Debatte über eine bessere Lebensqualität sein – um lebenswertere Städte für alle Menschen. Dazu gehört auch, dass einige Menschen ihre Autos behalten dürfen – da sie ohne ihr Auto noch stärker benachteiligt würden als ohnehin schon. Diese Menschen sind aber nicht der »Freiheit« schreiende Mann, der Freiheit mit dem eigenen Komfort verwechselt. »Bequemlichkeit ist im Gegensatz zur Freiheit kein Grundrecht, nichts, was jemandem zusteht«, schreibt die Journalistin Petra Pinzler zu diesem Missverständnis, was eines der lautesten, aber am wenigsten durchdachten Argumente derer ist, die sich eine andere Art der Stadt nicht vorstellen wollen.

Clara Greed, eine britische Professorin für inklusive Stadtplanung, nennt diese Städte »Cities of everyday life«, Städte des täglichen Lebens. Wimmelbild-Städte. Solche Städte kennzeichnen sich für sie unter anderem durch kurze Distanzen, die Menschen zurücklegen müssen, um ihren Alltagspflichten und Bedürfnissen nachzukommen, durch vielfältige Raumnutzung und mehrere Zentren. Städte, die vor allem aber die unterschiedlichen Realitäten der Geschlechter miteinbeziehen würden. Denn laut Greed ist die Stadtplanung traditionell und immer noch in vielen Visionen der grüneren Städte von einem männlichen Blick geprägt, der es nicht schafft, eine Stadt für alle zu entwerfen. Aus diesem Grund kritisiert sie auch eine allzu abstrakte Idee von autofreien Städten und hat eine »neue Spezies von machohaft-grünen Männern« identifiziert, die ebenso »arrogant und aggressiv« am Fahrrad festhalten würden, wie andere am Auto. »Von Autos zu Fahrrädern zu wechseln, mag ,grüner‘ sein, aber es ist nicht zwangsläufig weniger sexistisch«, schreibt Clara Greed in ihrem bereits in den 90er erschienenen Buch »Women and Planning: Creating Gendered Realities«.

Autofreie Städte sollen sexistisch sein? Diese These irritiert auf den ersten Blick, denn schließlich sind mit der autofreien Stadt auch die Bilder von Müttern verbunden, die ihre Kinder angstfrei auf der Straße spielen lassen wollen, mehr Parkflächen fordern und die sich für Umweltschutz einsetzen, damit ihr Nachwuchs noch eine Zukunft hat. Dass in den Diskussionen oft zunächst die »Öko-Mütter« auftauchen und es gleichzeitig die reichen Mütter in SUVs sind, die angeblich am Morgen die Straßen verstopfen um die Kinder vor der Schule abzuladen, entspringt dem gleichen Sexismus, der die Vision einer autofreien Stadt hervorgebracht hat, die eventuell ökologischer wäre, aber weniger gleichberechtigt. Diese Ausprägung des Sexismus entsteht, weil Alltagsbedingungen übersehen werden und wir in öffentlichen Debatten nach wie vor keine akkuraten Bilder davon haben, wie Frauen heute leben. Oder besser gesagt: Wie Menschen leben, die vom gesunden, berufstätigen, finanziell gut gestellten Durchschnittsmann abweichen. Selbst gute Ideen wie die autofreie Stadt orientieren sich häufig an Klischees statt an Fakten.

Die Mobilitätserkenntnisse über Frauen sind dabei auf den ersten Blick widersprüchlich: Während Frauen über alle Altersgruppen hinweg mehr zu Fuß gehen und den ÖPNV nutzen als Männer, sind auch Frauen diejenigen, die ganz besonders aufs Autofahren angewiesen sind. Wie passt das zusammen?

Der Zugang zu eigenen Autos war zwischen den Geschlechtern lange ungleich verteilt. Männer besaßen eher einen Führerschein und nutzten das Familienauto für ihren Weg zur Arbeit, während die Hausfrau ihre Besorgungswege und die Wege der Kinder anders organisieren musste. Erst mit mehr ökonomischer Macht und mehr Wohlstand haben mehr und mehr Frauen ihre Mobilität umgestellt. Weil sie vom Autofahren ausgeschlossen wurden, finden sich in der Gruppe der Frauen über 75 besonders viele, die vor allem zu Fuß gehen. Ältere Frauen legen über 40 Prozent ihrer Wege als Spaziergang zurück. Doch auch jüngere Frauen, die theoretisch Autofahren könnten, nutzen bis heute häufiger umweltfreundlichere Möglichkeiten als Männer.

Mindestens zwei Entwicklungen haben zu dem beigetragen, was als »nachholende Motorisierung« beschrieben wird. Zum einen hat es die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen für viele notwendig gemacht, den Arbeitsweg mit dem Auto zurückzulegen und dabei gleichzeitig die Komplexität der Alltagswege erhöht. Nach wie vor zeigen sich im Mobilitätsverhalten von Frauen und Männern starke Unterschiede. Während erwerbstätige Männer überwiegend nur den Arbeitsweg hin und zurück zu bewältigen haben, müssen Frauen Wege planen, die zusätzlich Wege für Kinder oder Angehörige, Einkäufe und familienbezogenen Termine abdecken. »Bereits die ›Nur-Hausfrau‹ hat einen so vielfältigen und komplexen Mobilitätsbedarf und muss ihre Wege zu Wegketten kombinieren und koordinieren«, schreibt Caroline Kramer, Professorin für Humangeografie, in einem Fachbeitrag über die Wegzeiten innerhalb von Familien. Besonders belastet seien heute Teilzeit arbeitende Mütter, die meist weniger Entlastung für haushalts- und familienbezogene Tätigkeiten haben und damit viele Wege organisieren und absolvieren müssten. Je mehr Kinder in der Familie sind, desto höher der Mobility-Mental-Load. Der zweite Impuls für das Angewiesensein auf ein Auto geht auf städtebauliche Entwicklungen zurück, die Wohngebiete von Versorgungs- und Dienstleistungszentren räumlich getrennt haben und damit notwendige Wege verlängert haben – sowohl für den Beruf als auch zum Einkaufen oder für Kinderbetreuung. In ländlichen Räumen ist diese Trennung stärker ausgeprägt als in Städten. Caroline Kramers Einschätzung ist, dass Autofahren von Frauen häufig eher »Motorisierungszwang« sei als »Motorisierungswunsch«. Der männliche-orientierte Alltag, nur den Weg zur Arbeit und zurück zu haben, ließe sich viel eher über öffentliche Verkehrsmittel zurücklegen, während die komplexen Wegketten, die mehrheitlich Frauen betreffen, ohne Auto teils gar nicht oder nur unter großen Anstrengungen und großem Zeiteinsatz zu schaffen sind.

Der ÖPNV wird den Bedürfnissen von Familien, was in der Realität nach wie vor überwiegend die Mütter meint, momentan nicht gerecht, während Mütter, so formuliert es Clara Greed, »automatisch mit ihren Autos ein öffentliches Verkehrsmittel bereitstellen« würden. Laut einer Untersuchung des Bundesverkehrsministeriums legen Mütter dreimal so viele Begleitwege zurück wie Väter. Sie kompensieren, was die Kommunen bislang nicht erreicht haben: Zum einen eine Verkehrsinfrastruktur bestehend aus ÖPNV, Rad- und Fußwegen, die dem Autofahren überlegen ist oder zumindest ähnlich angenehm und praktikabel. Zum anderen eine Raumplanung, die den komplexen Alltag über kürzere und schnellere Wegstrecken wieder zusammenführt. Genau diese Idee verkörpert der Begriff, den die Pariser Bürgermeisterin Anne Hildalgo als Vision für Paris ausgerufen hat: eine »Ville Du Quart D’Heure«, eine Stadt, in der Menschen innerhalb von 15 Minuten jedes Alltagsziel erreichen können. In Wien beschäftigt sich Eva Kail, Expertin für »Frauengerechtes Planen und Bauen« beim Amt für strategische Planung mit der geschlechtergerechten Stadt. Dort entsteht gerade der Stadtteil Aspern, der das Gender-Mainstreaming in die Stadtplanung bringt.  Die Autofreiheit ist für die gleichberechtigte Stadt nicht das erste Thema.

Denn beginnt man damit, Autos aus Städten zu verbannen ohne zu berücksichtigen, wie komplex die Alltagswege von Menschen sein können, würde man aktuell vor allem Frauen, deren Mobilitätserfordernisse ohnehin aufwendig und zeitintensiv sind, das Leben noch schwerer machen. Die Stadt ohne Auto zu navigieren ist am einfachsten für die, die simple Wege haben, den Job im Home-Office erledigen können und nicht dafür zuständig sind, Familienmitglieder auf ihren Wegen zu begleiten. Menschen ohne Care-Pflichten sind daher die ersten, die ihre Auto nicht mehr durch Städte fahren sollten, da sie mehr zeitliche Freiheiten haben und weniger zu schleppen.

Unter Eltern habe ich schon manchmal gehört, es solle nachmittags eine eigene Fahrspur für Mütter geben, die versuchen ihr Kind pünktlich von der Kita abzuholen. Und es stimmt sogar für Eltern, die nicht mit dem Auto unterwegs sind. Für den Weg zur alten Kita meiner Tochter betrug die Wegzeit von meiner Arbeit aus, die die App der Berliner Verkehrsbetriebe berechnete, rund 25 Minuten. Manchmal reichte nicht einmal die zusätzliche Viertelstunde, die ich ohnehin als Puffer einplante, weil ich wusste, dass die Tram nachmittags meistens unregelmäßig kam. Zu den Hauptverkehrszeiten, auf denen die Straßen stärker mit Autos befahren sind, werden nämlich ebenso Busse und Straßenbahnen langsamer. An vielen Tagen brauchte ich zur Kita eine Stunde, von dort aus noch einmal mindestens eine halbe Stunde nach Hause. Das waren drei Stunden am Tag, die ich nur mit Wegen verbrachte.

Obwohl ich selbst kein Auto habe, kann ich nachvollziehen, warum einige Eltern es für unverzichtbar halten. Der ÖPNV ist nicht nur bisweilen unzuverlässig, sondern zu den Stoßzeiten überfüllt, oft sind Wagen dreckig und stinken. Als Mutter mit Kleinkind bekommt man selten einen Platz angeboten, obwohl es ganz besonders morgens für kleine Menschen gefährlich ist. Sie werden von Erwachsenen übersehen und können sich im Gedränge und wenn Bahnen bremsen, leicht verletzen. Bringe ich mein Kind morgens mit der S-Bahn zur Kita, werde ich von den Berufspendler*innen häufig mit Unverständnis angeschaut. Als hätte eine Frau mit Kind zu dieser Uhrzeit nichts in der S-Bahn zu suchen, da sie wohl kaum zur Arbeit fahren müsse und Kitas doch fußläufig erreichbar sein sollten. Auch diese Blicke zeigen, wie wenig einige Leute über den Alltag von Familien wissen.

Unsere neue Kita, die etwas näher liegt, ist immer noch 25 Minuten entfernt. Zwar teile ich mir mit meinem Partner die Wege, aber die politische Praxis, Familien Kita-Plätze außerhalb ihrer Nachbarschaft zuzuteilen und eine Wegstrecke von einer halben Stunde als zumutbar zu erachten, hat sexistische Konsequenzen. Nach wie vor sind es überwiegend Frauen, die ihre Zeit für diese Wege nutzen müssen – auch wenn die Väter mit Lastenrädern uns stärker ins Auge springen. Eine »Stadt der 15 Minuten«, so wie Paris eine werden soll, müsste daher unter anderem ein Recht auf Kitas und Schulen in der unmittelbaren Umgebung verankern. In der niederländischen Stadt Groningen sieht die Stadtplanung mittlerweile vor, dass Kindergärten und Schulen nebeneinander gebaut werden, um Wegketten für Eltern zu reduzieren. Zudem entlastet es Erziehungsberechtigten und macht Kinder und Jugendliche selbstständiger, wenn sie ihren Schulweg allein gehen können, weil er kurz und sicher ist.

Auch den Wunsch nach sicheren Wegen könnte man als positives Ziel nennen, deren Realisierung vermutlich weniger Autos und mehr Geschwindigkeitsbeschränkungen zur Folge hätte. Die meisten Verkehrsunfälle ereignen sich innerhalb von Städten, nicht auf Autobahnen. 2019 sind bei fast 2,7 Millionen erfassten Unfällen sind insgesamt 3046 Menschen im Straßenverkehr gestorben und über 384.000 verletzt worden. Die Mobilität stärker auf den Fußverkehr auszurichten, ist aber auch für älter werdende Gesellschaften wichtig. Unter den zu Fuß gehenden Menschen, die bei Zusammenstößen mit Autofahrer*innen sterben, waren zuletzt über die Hälfte älter als 64 Jahre. Senior*innen so beherzt zu schützen, wie aktuell in der Corona-Pandemie, würde verkehrspolitisch bedeuten, das zu Fuß Gehen und das Radfahren zu erleichtern. Ein Public-Health-Thema ist es außerdem, da Bewegung gesund ist. Für das Programm »Healthy Streets for London« haben Expert*innen ausgerechnet, dass nur 20 Minuten Bewegung am Tag pro Person die Gesundheit der Menschen in London erheblich verbessern könne und damit Gesundheitskosten für Krankheiten wie Demenz, Depressionen und Arthrose senken würde.

Dabei ist es nicht nur eine Frage der Präferenz, ob Menschen lieber laufen und Radfahren, als ins Auto zu steigen. Es hat sich auch gezeigt, dass die Attraktivität von Wegen dazu führt, dass sie mehr genutzt werden. In Betonwüsten und auf schmalen, dreckigen Gehsteigen laufen Menschen weniger zu Fuß, als auf bepflanzten, breiten Wegen. Für ältere und gehbehinderte Menschen sind viele der Gehsteige sogar gefährlich oder eine unüberwindbare Barriere. Obwohl in Kern- und Innenstädten nach wie vor 30 bis 40 Prozent der Wege laufend zurückgelegt werden, haben Kommunen, Länder und Bund bislang keine Strategie für den Fußverkehr entwickelt, wie eine Veröffentlichung des Bundesumweltamtes kritisch anmerkt. Dies führe dazu, dass das Zufußgehen immer unattraktiver würde und der Kfz-Verkehr weiter ansteige.

Städte, in denen weniger Autos fahren, können demnach auch ohne Fahrverbote darüber erreicht werden, die anderen Fortbewegungsarten zu stärken, indem sie komfortabler, zugänglicher und schöner werden – blühende Fußwege – und sich das Leben in seiner Gesamtheit wieder in den Städten abspielt. Öffentliche Verkehrsmittel schließen nicht nur Menschen mit körperlichen Behinderungen aus, da Aufzüge fehlen oder schleppend repariert werden und Einstiege schwierig sind, sondern auch alle, die vom Design der Stadtgestaltung behindert werden: ältere Menschen, Menschen mit Kinderwägen, kleinen Kindern, schwerem Gepäck und Einkäufen. Auf diesen Umstand, dass nicht sie selbst ›behindert sind‹, sondern sie von fehlerhafter Stadt- und Raumplanung behindert werden, weisen Behinderten-Aktivist*innen schon lange hin. Die Stadt für alle muss geschlechtergerecht sein, kinderfreundlich und inklusiv. Die Umsetzung dieser Ziele würde Städte automatisch viel nachhaltiger machen und ist gleichzeitig realistischer, als dass alle Menschen aufs Rad umsteigen. Denn Fahrräder sind kein Verkehrsmittel, dass für alle gleichermaßen geeignet ist und den Alltag einfacher macht.

Die Appelle, doch einfach weniger Auto zu fahren, berücksichtigen zu wenig, dass der ÖPNV noch lange nicht bereit dafür ist, dass mehr Menschen darauf umsteigen. Im jüngsten Mobilitätsbericht des Bundesverkehrsministeriums schnitt er in der Beliebtheit aller Verkehrsmittel am schlechtesten ab. Ändern kann sich das nur, wenn der Ausbau des ÖPNV sich an Inklusionszielen orientiert, gemeinsam und transparent mit Bürger*innen weiterentwickelt wird und sich nicht mehr an maximaler Wirtschaftlichkeit orientieren muss. Aus vielen Bereichen des Alltagsverhaltens ist bekannt, dass Veränderungen weniger mit der Haltung von Menschen zu tun haben, sondern mit politischen Maßnahmen, die eine Verhaltensänderung besonders einfach machen. So müssen Menschen weniger von der Notwendigkeit des Klimaschutzes überzeugt werden, als gute Bus- und Bahnverbindungen vor der Haustür zu haben, fußgängerfreundliche Wege, Einkaufsmöglichkeiten im Stadtteil, Erholungsflächen und Orte zum Zusammensein, kurze Entfernungen zu Schulen, Kindergärten und ihrer Arbeit. In der Stadt des täglichen Lebens haben daher auch bezahlbare Mieten in alle Stadtteilen Priorität oder die Frage, wie lang Arbeitswege sein dürfen. Die »Stadt des täglichen Lebens« ist dabei viel machbarer und fordert schnell realisierbare Ideen, statt auf flächendeckende E-Mobilität und autonome Autos zu warten.

Clara Greed plädiert dafür, von existierenden Städten aus zu planen und sie jetzt zu verändern, statt von der Zukunft zu träumen. Denn das sei den Menschen vorbehalten, die in der Gegenwart bereits gut zurechtkommen: »Auf die Revolution zu warten ist keine Politik. Ich betrachte es als Verzögerungstaktik, um sich mit den unmittelbaren Bedürfnissen von Frauen nicht auseinandersetzen zu müssen.« Ein unmittelbares Bedürfnis könnte es sein, weniger von den familienbezogenen Wegen übernehmen zu müssen und sich diese gleichberechtigt zu teilen. Vielleicht sind diese dann eher mit dem Bus als mit dem Auto möglich. Oder es bleibt Zeit, die kommunale Verkehrspolitik aufzumischen.