Ist es radikal, wütend zu sein?

Für Frauen schon. Wut wird als unkonstruktiv gebrandmarkt, um weiblichen Forderungen die Wucht zu nehmen. Schluss damit!

Teresa Bücker, 35, schrieb in der ersten Folge ihrer SZ-Magazin-Kolumne den schönen Gedanken auf: »Was würde ein Kind wohl antworten, wenn wir es statt: ›Was willst du werden?‹ fragen würden: ›Welche Art von Mensch willst du sein?‹« Gute Frage zum In-Ruhe-Beantworten.

Foto: Paula Winkler

Wenn meine kleine Tochter wütend wird, versuche ich, ihr das Gefühl zu spiegeln. »Du bist wütend. Warum bist du wütend?«, frage ich sie. Und sage: »Es ist gut, manchmal wütend zu sein.« Natürlich erleben Kleinkinder ihre Wutausbrüche anders als später, wenn sie ihre Gefühle besser reflektieren können, doch mir ist wichtig, dass sie möglichst viele davon benennen und herauslassen kann. Sie soll lernen, dass Wut ein legitimer Teil von ihr ist, dass sie sie zeigen darf, ohne dass ich sie weniger liebe. Dass ich ihre Wut wahrnehme und wissen möchte, was dahintersteckt.

Gefühle sind geschlechtsneutral – in der Theorie. Doch in den meisten Kulturen folgen der Ausdruck und die Bewertung von Gefühlen bestimmten Normen, wie dem Geschlecht oder der ethnischen Herkunft. Dass Mädchen und Jungen, Frauen und Männer auf ihre Gefühle unterschiedliche Reaktionen bekommen und daher diese auch anders zeigen, ist gut erforscht und relativ bekannt. »Schwarze Frauen werden oft als wütend charakterisiert allein dafür, dass sie existieren. Als ob Wut in unseren Atem und unsere Haut eingewebt wäre«, so beschreibt die Autorin Roxane Gay das rassistische Stereotyp der »Angry Black Woman«, das die Persönlichkeiten schwarzer Frauen auf die immer wütende Frau begrenzen will – eines von vielen schädlichen Klischees über Emotionen. Gefühle abgesprochen zu bekommen oder sie unterstellt zu bekommen, erschwert den Zugang zu dem, was eine Person wirklich empfindet. Das verändert Menschen, macht sie unfrei.

Die Schriftstellerin Leslie Jamison erzählt im Essay-Band Burn It Down – Women Writing about Anger, wie sie ihrer Wut ein anderes Label gab, weil sie sich bis weit ins Erwachsenenalter hinein nicht zugestand, wütend sein zu können: »In Wahrheit war ich stolz darauf, mich eher als traurig denn als wütend zu beschreiben. Warum? Traurigkeit wirkte kultivierter und selbstloser« – weiblicher.

Meistgelesen diese Woche:

Sie dürfte nicht die einzige Frau sein, die die Wut, die sie schon lange spürte, in die Schublade der Traurigkeit ein­sortiert hat, weil sie als Mädchen nicht gelernt hat, dieses Gefühl zu zeigen, oder Zurückweisung erfuhr, wenn sie es tat. Trauer statt Wut zu zeigen hat Vorteile: Trauer bedeutet Akzeptanz, sodass man, was auch immer geschehen ist und ein heftiges Gefühl auslöste, als unveränderlich betrachten kann, als Schicksal. Traurigkeit geht vorbei, wenn die Zeit verstreicht, sie lässt sich verarbeiten. Doch wenn es eigentlich Wut ist, die man spürt, dann bleibt sie.

Ich habe meine Wut erst als Erwachsene als solche be­nennen können. Vielleicht hat die Zeit mich aufgebrochen, vielleicht das Reden über Vergangenes, aber mittlerweile weiß ich, wann ich wütend bin. Doch ich bewege mich weiter in einer Welt, in der weibliche Wut andere Menschen – auch die Menschen, die uns lieben – zurückstößt und die anders reagieren als ich auf meine Tochter. Frauen, die ­wütend sind, »reagieren über«. Sie werden weniger ernst genommen. Sie werden als zu gefühlsstark gesehen, während der Grund ihrer Wut hinter die wahrgenommene Emotion tritt und vielleicht unsichtbar wird – als wäre eine Frau in diesem Augenblick allein ihre Wut und sonst nichts. Die Autorin Lilly Dancyger schreibt treffend: »Die Wut ­einer Frau ist wie Wahnsinn. Sie fühlte sich in mir wie Wahnsinn an, sie sah für andere wie Wahnsinn aus. Vielleicht würden wir nicht verrückt, wenn sie uns wütend sein ließen.«

Wenn sich eine Frau jedoch traurig zeigt, wirkt sie verletzbar, nicht gefährlich. Traurig zu sein ist für Frauen die größere Chance, gesehen, gehört und getröstet zu werden. So abgedroschen das Klischee des Beschützerinstinktes ist, so wahr ist dennoch, dass die Männer, mit denen ich zusammen war, immer eher auf meine Traurigkeit als auf meine Wut reagierten und dass der Satz »Was passiert ist, macht mich traurig« sie nachdenklich machte, sie Interesse zeigen ließ, ein »Ich bin so wütend« aber dazu führte, dass sie den Raum verließen und darauf warteten, dass ich mich be­ruhigte. Wenn Wut verwandelt wird in Niedergeschlagenheit, dann geht verloren, was sie zum Ausdruck bringen wollte. Sie ist ein kraftvolles Gefühl, ein Ruf nach Veränderung.

Ich verachte Menschen für ihre Kurzsichtigkeit, wenn sie Ungerechtigkeit damit relativieren, dass erwachsene Menschen sich nicht in eine Opferrolle begeben sollten und sich wehren könnten

Depressionsraten unter Kindern sind zunächst ausge­glichen, entwickeln sich aber ab dem Alter von etwa zwölf Jahren stark auseinander und verdreifachen sich bei Mädchen in der Pubertät. Mädchen erkranken signifikant häufiger an Essstörungen und stellen mit rund 75 Prozent die Mehrheit der Jugendlichen, die sich selbst verletzen. Die Autorin ­Soraya Chemaly schreibt in ihrem Buch Speak out! Die Kraft weiblicher Wut, unterdrückte Wut und »Self-Silencing« seien wesentliche Komponenten psychischer Krankheiten. Sie wirft die Frage auf, ob die weit höheren Krankheitsraten von Mädchen gegenüber Jungen auch etwas damit zu tun haben könnten, dass die weibliche Wut sich häufiger nach innen richte, als herausgelassen und gesehen zu werden, und dass Mädchen sowohl bewusst als auch unbewusst wahrnähmen, dass es zu ihrem Nachteil sei, wenn sie sich in der gesamten Breite ihrer Persönlichkeit zeigten.

Wenn ich mit der Lebenserfahrung und dem Wissen, das ich mittlerweile habe, über die Zeit nachdenke, in der ich meine Gefühle in Autoaggression verwandelte, erkenne ich klar, dass ich kein trauriger Teenager war, sondern – wie so viele andere – ein Mädchen voller Wut. Wut, Fragen, Wünsche, die im Außen keine Resonanz fanden. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine Erfahrung mit dem Liebeskummer, über den Alanis Morissette sang, aber das wütende Lied, das ich in dieser Zeit oft und sehr laut allein in meinem Zimmer hörte und mitsang, heißt: You oughta know – Das solltest du wissen. Wenn ich es heute höre, steigt mein Puls. Sie erzählte in einem Interview vor wenigen Monaten, dass es in diesem Lied, das sie 1995 veröffentlichte, tatsächlich nicht nur um Liebeskummer, sondern um sanktionierte Emotionen allgemein ging und sie beim Singen dachte: »Gott sei Dank sind diese Gefühle erlaubt. (…) Diese Gefühle müssen gefühlt werden, sonst bleiben sie in deinem Körper, und du wirst krank.«

Kurz nachdem ich meine Tochter bekommen hatte, nahm ich wahr, wie meine Sorge um sie wuchs. Nicht die alltägliche Sorge eines Elternteils, dem Kind könne etwas zustoßen, sondern die Sorge um sie als Mädchen. Aber schon wieder ist hier Sorge das falsche Wort, denn eigentlich empfand und empfinde ich starke Wut. Die Wut tauchte zuerst in der #MeToo-Debatte auf, als mir klar wurde, dass meine Tochter sehr wahrscheinlich Erfahrungen mit Sexismus, Belästigung und sexualisierter Gewalt machen wird. Dass ich zu wenig tun kann, um das zu verhindern. Dass sie merken wird, einen wie großen Unterschied es ausmacht, dass sie als Mädchen geboren wurde, bevor sie verstehen kann, wie diese Unterschiede entstehen und dass man ihnen etwas entgegensetzen kann.

Ich kann mir kaum vorstellen, wie groß erst die Wut und der Weltschmerz der Eltern sind, die wissen, dass sie ihre Kinder nicht vor weiteren ungerechten und grausamen Erfahrungen wie zum Beispiel Rassismus beschützen können und ihren Kindern weniger zugetraut wird als anderen – vielleicht schlicht aufgrund ihres Vornamens. Für mich war einer der bedrückendsten Sätze in Soraya Chemalys Buch dieser: »Unsere Töchter verlassen die Schule mit weniger Selbstbewusstsein, als sie zu Beginn der Schulzeit besitzen.«

Ich verachte Menschen für ihre Kurzsichtigkeit, wenn sie Ungerechtigkeit damit relativieren, dass erwachsene Menschen sich nicht in eine Opferrolle begeben sollten und sich wehren könnten. Ich bin weniger wütend über Erfahrungen, die ich gemacht habe, ich bin wütend darüber, dass andere Erfahrungen machen werden, die an ihrem Urvertrauen rütteln, die sie stumm lassen werden oder sogar krank – obwohl wir sehr gut wissen, auf welchem Nährboden sie wachsen und dass wir zumindest etwas dafür tun könnten, dass sie seltener werden. Nicht wütend zu sein ist ein Privileg. Denn Wut ist eine angemessene Reaktion auf eine existierende Ungerechtigkeit. Wenn also den Menschen ihre Wut abgesprochen wird, die sich gegen ihre Diskriminierung engagieren, richtet sich die Kritik gegen das Anliegen selbst. Das »Tone Policing« impliziere, »dass Emotionalität und Rationalität nicht koexistieren können und nur ruhige Gespräche konstruktiv und lehrreich sein können. Es verlangt, dass Menschen sich von Angst, Trauer oder Wut loslösen«, während sie »die realen Konsequenzen von Sexismus, Rassismus und anderen Unterdrückungssystemen« sind, so erklärt die Journalistin Melina Borcak, wie Themen entwertet werden.

Würde ich aussprechen, dass ich wütend bin, oder meine Stimme zornig gefärbt sein, würde das, was ich sage, weniger respektiert

Gefühle zu erkennen und als inhaltlichen Teil eines ­Gespräches auch anzuerkennen ist jedoch für den gegenseitigen Respekt wichtig. Denn ruhig zu argumentieren können sich diejenigen viel häufiger leisten, die in der stärkeren Position sind und vielleicht auch die Macht haben, den Schmerz der anderen Person zu lindern. Daher sollten insbesondere die Gefühle von Menschen mit weniger Einfluss einen Raum bekommen. Denn Wut, sagte die schwarze ­Aktivistin Audre Lorde in ihrer berühmten Rede The Uses of Anger – Women responding to Racism, »Wut ist geladen mit Informationen«. Für die Rezeption von Wut bedeutet es also einen großen Unterschied, ob eine Person etwas zu sagen hat oder ob sie Wut als Machtgeste nutzt, um ihr Gegenüber verstummen zu lassen. Umso nachdenklicher sollte uns ­machen, wessen Wut überhört wird, ins Lächerliche gezogen oder aktiv unterdrückt, und wessen Wut Raum und Aufmerksamkeit bekommt.

Ich bin in dieser Hinsicht kein Vorbild. Ich bekomme regelmäßig das Kompliment, ich sei »unaufgeregt«, und ­werde oft gefragt, wie ich es schaffe, in kontroversen Diskussionsrunden so ruhig zu bleiben. Dass ich innerlich brodle und manchmal einen anderen Menschen in diesen Runden am liebsten schütteln und anschreien würde, sieht man mir nicht an.

Dass ich das Stereotyp einer Feministin spiegele, ist dabei zunächst ein Vorteil. Ich kann feministischen Anliegen mehr Gehör und Gewicht verleihen, weil ich dort sitze und eloquent, sachlich und manchmal witzig diskutiere und durch meine äußere Erscheinung als wenig gefährlich wahrgenommen werde. Ich bin nicht die »hysterische Femi­nistin«, ich überblende radikale Forderungen mit meiner Contenance. Würde ich aussprechen, dass ich wütend bin, oder meine Stimme zornig gefärbt sein, würde das, was ich sage, weniger respektiert. Wer hingegen nur meine Texte kennt – insbesondere die Kurzform auf Twitter –, sieht mich eher als wütende Feministin. Ein konservativer Journalist, der mich erstmals in einem Live-Interview zur Bundestagswahl traf und bis dahin nur meine Texte gekannt hatte, reagierte nach etwa zwei Minuten Gespräch völlig perplex und sagte vor laufender Kamera zu mir: »Sie sehen so nett und sympathisch aus.«

Meine Besonnenheit öffnet mir Türen, die Menschen, die ihre Wut nicht auf die Weise verleugnen können, wie ich es kann, verschlossen bleiben. Meine unaufgeregte Natur ist jedoch das Ergebnis davon, dass ich mit Geschlechternormen groß geworden bin, die meine echten Gefühle im Zaum gehalten haben. Den Zwang, meine Wut zu kontrollieren, kann ich bis heute nur aufgeben, wenn ich mich ­sicher fühle: Wenn ich schreibe und wenn ich mit Menschen zusammen bin, denen ich vertraue. Doch auf welche Seite stelle ich mich, wenn meine Wut nicht sichtbar wird? Wenn ich nach den Regeln spiele, die Ungleichheit unsichtbar machen, indem sie die Gefühle darüber bestrafen, dann solidarisiere ich mich zuerst mit denen, die von der Unterdrückung anderer profitieren.

Aus der Angst heraus, Wut zu zeigen, bleiben wir zu oft mit ihr allein oder schreiben sie ins Internet. Dabei kann Wut auch Gemeinschaft stiften, sie ist ein Gefühl, das nach echten Gesprächen verlangt und danach, einen Plan zu ­machen, der sich ihrer Ursache annimmt. Audre Lorde sagte in ihrer Rede gegen Rassismus: »Ausgesprochene und in Handlung umgesetzte Wut im Sinne unserer Visionen und unserer Zukunft ist ein befreiender und stärkender Akt der Klärung.« Daher sollten die Reaktionen auf die Wut ü­ber ­Unrecht kein Lächeln sein und kein Ausflug in den Wald, um zu schreien, sondern Ideen dafür, wie die Kraft der Wut gemeinsam mit anderen genutzt werden könnte, um ihre Ursachen zu adressieren. Es ist eine Frage des Respekts gegenüber sich selbst, die eigenen Gefühle ernst zu nehmen und sie für etwas zu nutzen. Wut kann das. Sie muss nicht destruktiv sein, sondern kann Einfälle hervorbringen, motivieren und Menschen zusammenbringen, die ein Anliegen teilen. Wir können Wut als Teil von uns akzeptieren, denn sie ist nicht das Böse, sondern erzählt uns davon, was wir brauchen und was uns ganz macht.

Aus der Ideen-Kolumne wird ein Podcast: Teresa Bücker im Gespräch über Radikale Ideen für unsere Gesellschaft. Haben Sie Fragen an die Autorin? Gerne an Gerne mailen an podcast@sz-magazin.de