Sterbender Schwan oder Bodycheck? Über wichtige Spiele entscheidet nicht nur die Form der Spieler oder die Taktik des Trainers, sondern auch die Leistung der Schiedsrichter. (Foto: André Mühling)
SZ-Magazin: Herr Krug, Herr Fandel, Herr Brych, in 14 Tagen beginnt die Weltmeisterschaft in Brasilien. Wer wird Weltmeister?
Herbert Fandel: Der Sieger des Endspiels Brasilien–Deutschland.
Hellmut Krug: Ich bin davon überzeugt, dass Brasilien die besten Voraussetzungen hat.
Herr Brych?
Felix Brych: Dazu möchte ich aus verständlichen Gründen nichts sagen, denn damit würde ich mich als WM-Schiedsrichter disqualifizieren. Ich bin zu Neutralität verpflichtet.
Aber eigentlich müssten Sie sich wünschen, dass Deutschland früh ausscheidet. Nur so hätten Sie Chancen, das Finale zu pfeifen.
Brych: So denkt man aber nicht. Ich konzentriere mich auf meine Leistung, denn die ist genauso ausschlaggebend, um für wichtige Spiele aufgestellt zu werden.
Krug: Jeder wünscht sich natürlich, ein Finale oder Halbfinale zu pfeifen. Herbert und ich mussten bei unseren Welt- und Europameisterschaften früh nach Hause fahren. Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte mich darüber gefreut.
Was ist Ihre erste WM-Erinnerung aus der Kindheit?
Krug: Eine schwarz-weiße. Wir haben 1966 bei Freunden in unserem Haus gesessen und das Finale Deutschland–England im großen Kreis gesehen. Auf einem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher. Damals waren die Leistungen der Schiedsrichter noch kein Thema. Das berühmte Wembley-Tor wurde erst später zum Mythos.
Fandel: Ich saß 1974 zwischen Vater und Mutter und habe vor Freude geheult, als die Deutschen gewannen. Da fing meine Liebe zum Fußball an.
Brych: Ich weiß nur noch, dass ich 1982 immer nach der ersten Halbzeit ins Bett musste.
In den letzten 30, 40 Jahren hat der Fußball sich enorm verändert. Gilt das auch für Fouls? Gibt es Moden des Foulspiels?
Fandel: Was in den letzten Jahren aufkam, ist der ausgefahrene Ellbogen beim Kopfball. In den Neunzigern war es die Grätsche: Spieler, die mit offener Beinschere von hinten dem Gegner in die Beine segelten. Das wurde sogar Lehrstoff für uns. Wir wurden angehalten, das zu unterbinden. Erst als den Spielern klar war, das gibt sofort Rot, verschwand die Grätsche wieder.
Krug: Ganz früher war es insgesamt rustikaler, unkontrollierter.
Brych: Vieles ist unentdeckt geblieben, weil die Schiedsrichter nicht so darauf geachtet haben. Gerade im Strafraum: kurzes Schubsen vor dem Kopfball, das Ziehen am Trikot. Es gab eben noch nicht ein Dutzend Kameras im Stadion.
Die dürfen Sie heute auch nicht zu Hilfe nehmen.
Brych: Stimmt, aber es geht um die allgemeine Sensibilisierung, die damit einherging.
Krug: Fouls oder Fehlentscheidungen wurden in den Medien weniger thematisiert. Heute schon. Daher schauen wir genauer hin.
Fandel: Das ging Anfang der Neunziger los, mit der Fußballsendung ran, als plötzlich alles aufgedröselt wurde.
Krug: Heute wird fast jeder Zweikampf analysiert. Meistens steht dann der Schiedsrichter in der Kritik. Vor ran sind Schiedsrichter weitgehend verschont worden. Man konnte Fehlentscheidungen einfach nicht so gut nachweisen.
Sprich: Die Schiedsrichter von damals hätten unter heutigen Medienbedingungen nicht unbedingt gut ausgesehen?
Fandel: Dann hätte es bestimmt das ein oder andere Mal ziemlichen Wirbel gegeben!
Krug: Die jetzigen Schiedsrichter müssen einfach besser sein als vor 20, 30 Jahren.
Herr Brych pfeift also besser als Sie beide?
Krug: Besser als ich auf jeden Fall.
Brych: Das kann man nicht vergleichen, weil das Spiel sich komplett verändert hat.
Krug: Nehmen Sie das legendäre DFB-Pokal-Endspiel Köln gegen Gladbach 1972 …
Fandel: … als Netzer sich selbst eingewechselt hat …
Krug: … da haben Sie das Gefühl, das läuft in Zeitlupe. Spieler wie Overath, die sich mit dem Ball dreimal um die eigene Achse drehten. Wenn das heute jemand machen würde, läge er nach einer halben Pirouette am Boden.
Fandel: Das war salopp gesagt Schlafwagenfußball. Ein Spieler lief pro Spiel im Schnitt fünf Kilometer, inzwischen sind es mehr als doppelt so viel.
Brych: Deshalb werden Schiedsrichter heute auch ganz anders ausgebildet. Die Fitness ist wichtiger als früher, die Schnelligkeit. Ich laufe heute pro Spiel zwölf Kilometer, mindestens so viel wie die Spieler. In der Champions League dürften es noch ein wenig mehr sein.
Krug: Früher haben wir überwiegend privat trainiert. Jeder war sein eigener Trainer.
Fandel: Als ich anfing, hat mir keiner gesagt, wie ich mich vorzubereiten hatte.
Das heißt, es gab Spiele, bei denen Ihnen die Puste ausging?
Fandel: Das nicht, eine Riesenlunge musste man schon haben. Aber es gab Spiele, da war ich zu weit weg vom Spielgeschehen. Und das lag am falschen Training.
Könnte Ihnen das auch passieren, Herr Brych?
Brych: Ich hoffe nicht. Dafür trainiere ich an sechs Tagen in der Woche. Ich habe einen Fitnesstrainer, der meine Einheiten steuert und meine Fitnessdaten mit mir abgleicht. Früher gab es ein-, zweimal im Jahr Leistungstests vom DFB. Heute ist die Kontrolle umfassender.
Aber Fitness alleine macht noch keinen guten Schiedsrichter aus.
Krug: Das ist richtig. Ebenso wichtig ist das Stellungsspiel. Wenn das nicht stimmt, häufen sich Fehlentscheidungen. Fandel: Der Schiedsrichter muss immer in der Nähe sein und genauen Einblick in die Spielsituation haben. Er kann nicht erst aus 30 Metern herbeilaufen. Nur so kriegt man Akzeptanz.
Was muss man als Schiedsrichter beachten, um richtig zu stehen?
Fandel: Bei den Laufwegen gibt es Grundzüge, die man von Anfang an erlernt. Wir sprechen immer von einer »Diagonale« auf dem Platz, in der sich der Schiedsrichter bewegen soll, also die gedachte Linie zwischen den Abschnitten, in denen kein Assistent steht.
Und wie vermeidet man, dauernd im Weg zu stehen?
Brych: Erfahrung. Sie müssen die typischen Bewegungen und Laufwege der Spieler genau kennen, das Spiel lesen können.
Fandel: Wer heute zum Beispiel ein Bayern-Spiel pfeift und nicht weiß, was es bedeutet, dass ein Ribéry auf dem Platz steht, hat in der Top-Schiedsrichterei nichts zu suchen.
Und was hat es zu bedeuten?
Fandel: Na, wenn Ribéry den Ball kriegt, müssen Sie wissen, dass er mit dem Ball innerhalb von Sekunden am anderen Ende des Platzes sein kann. Wenn Sie da nicht sofort zu sprinten anfangen, sind Sie zweiter Sieger und nicht nah genug dran.
Krug: Hat Ribéry zwei Gegenspieler vor sich im Strafraum, muss ich wissen, was er machen wird: Der will immer in der Mitte durch! Und wenn ich das nicht weiß, stehe ich unter Umständen schlecht. Also muss ich mich entsprechend positionieren, hinter Ribéry, denn wenn ich von der Seite draufschaue, sehe ich nicht, was passiert.
Welche Spiele vergisst man nicht als Schiedsrichter?
Krug: Das sind natürlich die bedeutenden. Endspiele eben. Bei mir zum Beispiel das Champions-League-Endspiel 1998 zwischen Juventus Turin und Real Madrid. Wenn du solch ein wichtiges Spiel, bei dem damals weltweit 500 Millionen zuschauten, abpfeifst und kein Thema bist, hast du als Schiedsrichter das Optimum erreicht.
Fandel: Meine schwierigsten Spiele waren immer die hitzigen Revierderbys Schalke gegen Dortmund in den Neunzigerjahren. Mit Reuter, Kohler beim BVB und Youri Mulder bei Schalke.
Brych: Ich möchte noch keine Zwischenbilanz ziehen. Ich hab noch einiges vor.
»Als ich hinterher die Bilder im Fernsehen gesehen hab, wollte ich im Boden versinken.«
Uns würde das Bundesligaspiel Hoffenheim gegen Leverkusen letztes Jahr einfallen, mit dem berühmten »Phantomtor«, das Sie, Herr Brych, gegeben haben.
Brych: Dazu will ich mich nicht mehr äußern, das ist zur Genüge diskutiert worden.
Ihre schlimmsten Fehlentscheidungen, Herr Fandel, Herr Krug?
Krug: Ich persönlich fand jede schlimm. In meinem letzten aktiven Jahr 2003, beim Spiel Bayern gegen Hannover, habe ich zum Beispiel einen Eckstoß gegeben, der keiner war. Bayern lag 0:2 hinten, machte nach der Ecke den Anschlusstreffer und glich später sogar aus. Für dieses Endergebnis hat man mir dann die Schuld gegeben. Da habe ich mir schon die Sinnfrage gestellt: Warum tust du dir das noch an?
Fandel: Bei Schalke gegen Dortmund baggerte einmal ein Spieler mit beiden Händen den Ball ins Tor, und ich hab das Tor gegeben. Als ich hinterher die Bilder im Fernsehen gesehen hab, wollte ich im Boden versinken.
Die Forderungen nach technischen Hilfsmitteln für die Schiedsrichter reißen nicht ab. Einen Chip im Ball, der anzeigt, ob ein Schuss über der Torlinie war oder nicht, würden Sie alle begrüßen, oder?
Krug: Ja, natürlich. Hier geht es um die einzige Entscheidung im Fußball, bei der es nur »richtig« oder »falsch« gibt. Dafür wäre ein Hilfsmittel genau richtig.
Und warum wird die Torlinientechnik nicht eingeführt, zum Beispiel in der Bundesliga?
Krug: Ganz einfach: Weil die Clubs sie bezahlen müssten, und vielen ist sie zu teuer.
Wie viel kostet diese Technik?
Fandel: Zwischen 300 000 und 500 000 Euro pro Stadion.
Was spricht gegen den Videobeweis?
Krug: Wenn der Videobeweis gefordert wird, dieser Unsinn, heißt es immer, es gehe um die Korrektur von »klaren Fehlentscheidungen«. Aber wer kann denn festlegen, wann wir von einer »klaren Fehlentscheidung« reden? Die Definition liegt oft im Auge des Betrachters. Außer bei der Entscheidung »Tor oder nicht« gibt es in jeder Situation einen Spielraum, eine Grauzone.
Eine Schwalbe würde man nicht objektiv erkennen können?
Krug: Nein, da gibt es zahllose Übergänge. Nehmen Sie einen Spieler, der einen Gegnerkontakt im Strafraum dankend annimmt und fällt. Es gibt eine Berührung, klar, aber die Frage ist: Reicht diese Berührung aus, um Foul zu pfeifen? Oder eben nicht?
Werden in Brasilien die besten Schiedsrichter der Welt pfeifen?
Krug: Nein, es wird bei diesem wie bei jedem Turnier wieder Klagen geben über die Schiedsrichterleistungen. Die weltbesten Schiedsrichter sitzen vorrangig in Mitteleuropa und Südamerika. Und dann gibt es Kontinente, da wird Fußball vor höchstens 3000 Zuschauern gespielt. Wie sollen diese Schiedsrichter sich zu den besten der Welt entwickeln, die dem Druck einer WM vor 50 000 und mehr Fans im Stadion standhalten können?
Nach welchen Kriterien werden die Schiedsrichter von der FIFA zur WM berufen?
Krug: Es ist exakt aufgeschlüsselt, welche Kontinentalverbände wie viele Schiedsrichter abstellen.
Fandel: Man muss das akzeptieren, denn eine Fußball-WM ist ein Ereignis, dessen Bedeutung weit über das Sportliche hinausgeht. Man darf dann aber auch nicht erwarten, dass nur die besten Leute pfeifen.
Auch den besten Schiedsrichtern wird nachgesagt, manchmal Konzessionsentscheidungen zu treffen. Hand aufs Herz: Haben Sie sich jemals zu einer verleiten lassen?
Krug: Durch eine bewusste Fehlentscheidung für Gerechtigkeit zu sorgen ist Schiedsrichtern fremd. Kritik kommt häufig nach Strafstoßentscheidungen auf, da möglicherweise der erste von zwei verhängten Strafstößen schon nicht klar war. De facto haben solche Entscheidungen aber häufig nur mit der eingeschlagenen Linie des Schiedsrichters zu tun. Die muss er im Sinne der Gleichbehandlung im ganzen Spiel beibehalten.
Vielleicht ist es ein unterbewusster Prozess?
Fandel: Ach, was heißt unterbewusst? Natürlich: Sie können Ihr Unterbewusstsein nicht ausstellen, verlangen Sie nicht zu viel von den Schiedsrichtern! Aber dieses Gerede von Konzession – typisch Außenwahrnehmung!
Wie prägt ein Schiedsrichter mit seiner Linie ein Spiel? Ein Kollege von Ihnen hat mal den Satz gesagt: In den ersten 15 Minuten entscheidet ein Schiedsrichter, wie die Partie laufen wird.
Fandel: In der Ausbildung sagt man den jungen Kollegen manchmal: Pfeif am Anfang ein bisschen kleinlicher, um Selbstsicherheit zu erlangen und ins Spiel zu kommen. Brych: Aber die Kunst ist es doch gerade, das nicht zu tun. Ein guter Schiedsrichter lässt die Dinge auf sich zukommen.
Das klingt, als würde er nur reagieren statt zu agieren.
Krug: Nein, der Schiedsrichter muss den Charakter des Spiels schnell erkennen und danach seine Spielleitung ausrichten.
Brych: Die Kunst ist, dass man mit verschiedenen Spielertypen unterschiedlich umgeht: Man kann Spieler, die im Team eine führende Aufgabe haben, für sich nutzen, indem man mit ihnen kommuniziert.
Fandel: Und es gibt Spieler, die darf man auf keinen Fall ansprechen, weil sie unter Strom stehen.
An wen denken Sie?
Fandel: Zu meiner Zeit, Ende der Neunzigerjahre, war Thomas Helmer ein Spieler, den ich immer gut einbinden konnte. Der war sehr klug, hat den Überblick behalten. Der konnte meine Entscheidungen auch an seine Mannschaft weiterleiten.
Und bei wem musste man vorsichtig sein?
Fandel: Aus dem Bayern-Team sicher Jens Jeremies. Man musste aufpassen, wie und wann man ihn auf dem Platz ansprach.
Stefan Effenberg?
Fandel: Ich hatte gute Erfahrungen mit ihm, er war eine absolute Führungspersönlichkeit. Aber auch sehr empfindlich.
Und explosiv: 111 gelbe Karten, Bundesligarekord.
Krug: Das war extrem launen-abhängig bei ihm. Und deshalb
ist das Einfühlungsvermögen so entscheidend – zu spüren, wie ein Spieler heute drauf ist, um daraus seine Schlüsse zu ziehen.
Fandel: Eine Rolle spielt heute sicher auch, dass die Trainertypen sich geändert haben. Ihr Einfluss auf die Spieler ist größer geworden.
Die machen Ihnen aber auch zu schaffen, weil sie sich selbst nicht im Griff haben. Hätte man Hitzköpfen wie Jürgen Klopp oder Christian Streich früher mehr durchgehen lassen, oder gab es die damals gar nicht?
Krug: Widerspruch! Denken Sie an Kalli Feldkamp, Winni Schäfer.
Fandel: Friedhelm Funkel!
Krug: Winni Schäfer hat mich mehrfach nach Spielen angerufen. Um sich zu entschuldigen!
Fandel: Christoph Daum!
Krug: Daum hat mal 90 Minuten Theater veranstaltet bei einem Spiel in Ulm, obwohl seine Leverkusener Mannschaft 9:1 gewonnen hat. Das war das gleiche Programm wie bei Klopp. Nur ohne Mikro und Kameras. Deshalb hat es keinen interessiert.
Brych: Es gab auch noch keinen Dompteur wie heute den vierten Offiziellen an der Seitenlinie, der das immer abbekommt und gegebenenfalls ahndet.
Wie sprechen Sie die Spieler eigentlich an? Siezen oder duzen?
Brych: Es gibt schon Spieler, die ich duze, aber ich werde hier keine Namen nennen. Das entwickelt sich über Jahre.
Fandel: Mir und Hellmut wird inzwischen zu viel geduzt. Aber wir akzeptieren, dass es heute etwas näher, direkter ist. Ich habe alle Spieler gesiezt. So eine gewisse Distanz wird zwar schnell als Arroganz ausgelegt, aber das war mir in meiner aktiven Zeit egal.
Krug: Ich habe nur einen Spieler nicht gesiezt, das war Thomas Helmer. Am Ende meiner Laufbahn sind wir zum Du übergegangen. Das war bei einem Derby 1860–Bayern. Da ging es hoch her. Platzverweis Kuffour. Große Diskussionen. Da sind wir ins Du verfallen. Trotzdem bin ich fürs Siezen. Es schafft Respekt. Auf gut Deutsch – niemand sagt: »Sie Depp!«
Brych: Ich finde, das eine schließt das andere nicht aus. Die Distanz kann sehr wohl gewahrt bleiben, obwohl man sich duzt.
Und bei einer WM – wie spricht man mit einem Spieler aus, sagen wir, Südkorea?
Brych: Man spricht Englisch. Es gibt auf diesem Niveau keine Sprachprobleme.
Krug: Das ist auch viel Körpersprache. Die Spieler verstehen einen schon, da können Sie sicher sein.