Ewiges Eis, ewige Frage

Ein rätselhaftes Jubiläum: Die Welt feiert in diesen Tagen, dass Robert Edwin Peary vor 100 Jahren als erster Mensch den Nordpol erreichte. Dabei ist völlig ungeklärt: War der Mann überhaupt jemals dort?

Als Robert Edwin Peary am 5. Juli 1908, kurz vor seiner letzten großen Expedition, auf den Besuch des amerikanischen Präsidenten wartet, ist er ein gealterter, geschundener Mann. 22 Jahre hat der damals 52-jährige Amerikaner mit kurzen Unterbrechungen in der Arktis zugebracht. Die Füße nur noch Stümpfe. Die Zehen verlor er im März 1899. Als sie ihm amputiert wurden, sagte er: »Was sind schon ein paar Zehen als Preis dafür, zum Pol zu kommen?« Nichts kann ihn aufhalten, den »Helden der Helden«, wie ihn die Zeitungen nennen. Es ist der letzte Tag in New York. Das Schiff ist voll beladen, die Mannschaft an Deck. Diese Fahrt soll ihn endlich zum Nordpol bringen, seinem Ziel seit fast einem Vierteljahrhundert. Siebenmal ist er schon gescheitert. Einmal erst rund 300 Kilometer vor dem Ziel. Immer kam er als bisher bester aller Verlierer zurück von seinen kostspieligen Reisen.

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Er, der so bedeutend sein wollte wie Christoph Kolumbus und seiner Mutter einst schrieb: »Ich kämpfe nicht um Reichtum, sondern allein um Ruhm.«An diesem 5. Juli 1908 besucht Präsident Theodore Roosevelt Peary auf dem Schiff und sagt: »Ich glaube an Sie und vertraue auf Ihren Erfolg.« Und der große Eroberer, der bislang nichts errungen hat als Misserfolge, schreibt in sein Tagebuch: »Meine letzte Chance. Der letzte Pfeil in meinem Köcher.«

Damit beginnt der Kampf um den Nordpol zwischen Robert Peary und Frederick Cook, ein Kampf zweier Männer um Ruhm, Ehre und Anerkennung, wie ihn die Forscherwelt noch nie erlebt hat und der auch heute, hundert Jahre später, nicht endgültig entschieden ist.

Peary weiß, er wird nicht noch einmal das Geld für eine solche Expedition bekommen, 500000 Dollar hatte schon die letzte Reise mit Ziel 90. Breitengrad verschlungen, die er 1906 abbrechen musste. Entkräftet, halb tot und fast verhungert. Ja, er war zwar dem Pol näher gekommen als je ein Mensch vor ihm, aber er war nicht dort gewesen. Was hatte er vorzuweisen? Die Erzählung, dass er es wieder nicht geschafft hatte.

Wie oft konnte er noch Vortragsreisen machen, wie oft dem Peary Arctic Club, einer Ansammlung von großzügigen Millionären, die ihn unterstützten, erzählen, dass nur er, Robert E. Peary, den Pol für sie entdecken könne? Wenn auch diese Expedition scheitere, vertraut er seiner Frau an, werde er nicht zurückkehren. Er werde im ewigen Eis sein Grab finden. Schon, um sich die Schmach zu ersparen.

Hunderte Schiffe geleiteten Peary bis zum Ausgang des Hafens. Salutschüsse entlang der Küste, wo immer sein Schiff, die Roosevelt, aufkreuzte. Die amerikanische Flagge sollte auf dem Pol wehen. Nicht die der Norweger, der Dänen, der Deutschen, Italiener, Engländer und Russen. Es ging darum, der Welt zu zeigen, wer den Mumm, die Technik, die Intelligenz und die Ausdauer hatte, den letzten weißen Fleck auf dem Globus einzufärben. Dreihundert Jahre schon hatten Menschen das versucht, aus allen Himmelsrichtungen. Die meisten sind in Schneestürmen erfroren oder im Eiswasser Grönlands ertrunken. Schiffe sind verschwunden und nie wieder gesichtet worden.

Aber immer wieder machten sich neue Entdecker auf den Weg, getrieben von völlig überzogenen Hoffnungen: Manche träumten davon, am Pol neue Routen zu finden, die den Welthandel beschleunigen würden, andere glaubten, eine Art Achse zu finden, ein Loch in der Erde, in das man hinunterblicken könne und in dem man, je nach Fantasie, engelsgleiche Wesen oder unsagbare Schätze entdecken würde. Vielleicht hatte die Erde ja auch eine Art Nagel an den Polen, was endlich die Rotation erklären würde? Je mehr Abenteurer sich am Pol versuchten und scheiterten, desto fester glaubte Peary an den einen Satz, den er wie ein Mantra vor sich hersagte: »Gott der Allmächtige hat mich für dieses Werk ausgewählt.«

Allerdings war er in den Tagen seiner Abreise aus New York zutiefst beunruhigt: Man hatte ihm berichtet, dass ein anderer, Frederick Cook, bereits auf dem Weg zum Nordpol sei. Und zwar auf Pearys Route und mit Pearys Methode, nämlich von Grönland aus, mit Fellen bekleidet, Huskys vor den Schlitten und mit Eskimos als Begleitern. Peary kannte Cook, sie waren einst so etwas wie Freunde gewesen. Cook war Schiffsarzt auf Pearys erster Arktis-Expedition 1891, er war der erste Naturwissenschaftler, der die vielen Tier- und Pflanzenarten der Polregion sammelte und kartografierte.

Seine Arbeit gab Pearys Expedition den wissenschaftlichen Anstrich, den er dringend brauchte, um Fördergelder zu bekommen. Doch als Cook vor der zweiten Expedition die Forderung stellte, seine Entdeckungen in Wissenschaftsmagazinen veröffentlichen zu dürfen, lehnte Peary ab. Nur er, Peary, sollte über die Reise Bücher schreiben können und Vorträge halten. So war Cook schließlich zum Konkurrenten geworden.

Aber während Peary voll böser Ahnungen Richtung Grönland dampft, kämpft Cook mithilfe zweier Eskimos auf dem Packeis der Arktis bei minus 45 Grad Celsius ums Überleben. Später wird er behaupten, schon am 21. April 1908 am Nordpol gewesen zu sein. Also zweieinhalb Monate vor Pearys Abreise aus New York. Sicher ist: Cook driftet auf dem tückischen Eis des Polarmeers nach Westen ab, weg von den Vorratslagern, die er für den Rückweg vorbereitet hatte. Zwanzig Tage kämpft sich seine Gruppe durch Stürme und durch dichten Nebel, der jede Navigation unmöglich macht; sie essen in ihrer Not ihre Hunde und kommen im September 1908 in Kap Sparbo am kargen Jonessund an, wo sie in einer Steinhöhle überwintern müssen, ohne Munition und fast ohne Nahrung, bedroht von Eisbären.

Und während Cook dort sieben Monate haust wie ein Steinzeitmensch, fährt nicht weit von ihm die Roosevelt nach Norden. Mit Proviant für zwei Jahre und einer reichlich bestückten Bordbibliothek. Robert Peary spielt auf dem mitgeführten Klavier Wagner und schreibt in sein Tagebuch: »Hunger, nicht Kälte heißt der Drache, der das Rheingold der Arktis bewacht.«

Peary kommt schließlich im September 1908 nach Etah, einer kleinen Eskimokolonie am Rande Grönlands, an der die meisten Expeditionen im Herbst haltmachen, um Kohle, Feuerholz, Lampenöl und Tran aufzuladen. Dort hat sich Cook eine Hütte eingerichtet, in der er Nahrung, Kleidung, Ausrüstung, Waffen und Munition verstaut hat: Dinge, die er nach seiner Rückkehr dringend brauchen wird. Um zu überleben und um seine Schuld bei den Eskimos zu begleichen.
Als Peary in Etah eintrifft und von den Eskimos hört, dass Cook tatsächlich mit neun Eskimos, elf Schlitten, 105 Hunden und drei Tonnen Vorräten zum Pol aufgebrochen ist, begeht er eine in der Polforschung einzigartige Bosheit: Er lässt an Cooks Hütte einen Zettel festmachen: »Dr. Cook ist seit Langem tot und seine Forschung gegenstandslos.«

Dann lädt Peary die Roosevelt randvoll mit Kohle, Eskimofamilien und mehr als 240 Hunden und fährt so weit nach Norden wie eben möglich, nach Ellesmere Island, am 83. Breitengrad, wo er ein Winterlager errichtet – nur sieben Breitengrade vom Pol entfernt. Hier will er die arktische Nacht abwarten und beim ersten Sonnenlicht im Frühjahr endlich zum Pol aufbrechen. Die Eskimos behandelt Peary, als wären sie sein Eigentum, sie wiederum nennen Peary bewundernd »den großen Quäler«. Er hat sie für seine Expeditionszwecke »entdeckt«, ihr geschickter Umgang mit Hunden und Schlitten und ihre Zähigkeit sind für ihn der Schlüssel zum Erfolg.

Sein Geheimnis kennen nur wenige: Im Jahr 1900 zeugte er mit der Eskimofrau Allakassingwah ein Kind, 1906 kam ein zweiter Sohn zur Welt. Dabei ist Peary verheiratet. Viele auf der Roosevelt glauben, dass er eine eigene Rasse züchten wollte, die die Widerstandsfähigkeit der Eskimos mit seiner Ausdauer und seinem Willen verbindet. Sie sollten vollenden, was er begonnen hatte, falls es ihm auch diesmal nicht selbst gelingen würde.

Am 22. Februar 1909 ist es so weit. Da Peary immer Sinn für große Gesten hat, wählt er George Washingtons Geburtstag als Abreisetag. Bis zur Packeisgrenze, dem immer rund um den Pol rotierenden Eis, brauchen sie gut eine Woche. Dort errichten sie ein weiteres Lager, und Peary wählt die 24 stärksten Männer, die 19 besten Schlitten und 133 Hunde für seine Mission aus. Sein Marschsystem ist intelligent und doch simpel: Die Eskimos fahren meist voraus und bauen Iglus für die nachfahrenden Gruppen. Sie suchen Wege zwischen den sich immer wieder öffnenden Eisrinnen und bahnen Pfade zwischen den Packeisbergen, die sich bis zu 15 Meter hoch auftürmen.

Es herrschen Temperaturen unter minus 40 Grad Celsius. Der Wind schneidet ins Gesicht und pfeift durch jedes Loch der Fellkleidung. Ist eine Gruppe von der Arbeit erschöpft, schickt Peary sie zurück zum Hauptlager. Am Ende bleiben nur der Kapitän der Roosevelt, Robert Bartlett, mit seinen besten Männern übrig sowie Peary, sein Assistent Matthew Henson und vier Eskimos. Henson ist der einzige Schwarze der Expedition, Peary nennt ihn »mein Negerdiener«.

240 Kilometer vor dem Pol eröffnet der Expeditionsleiter seinem Kapitän Bartlett, dass er ihn nicht auf die letzten Kilometer mitnehmen werde. Peary will der einzige weiße Amerikaner sein, der am Pol ankommt. Henson als Schwarzer und die Eskimos sind für ihn keine Konkurrenz. Bartlett ist tief gekränkt. Er ist mit Abstand der stärkste Mann der Gruppe und muss nun, kurz vor dem Ziel, umdrehen.

Und so macht sich der überehrgeizige Peary, selbst ja mit verkrüppelten Füßen, ohne den kundigen und schnellen Bartlett auf den Weg. Da weder Henson noch die Eskimos fähig sind, mit dem Sextanten präzise Ortsberechnungen durchzuführen, ist es von nun an allein Peary, auf dessen Beobachtungen sich die Expedition stützt. Und die Gruppe leistet Erstaunliches, ja Spektakuläres: Konnten sie bisher rund 21 Kilometer am Tag zurücklegen, obwohl sie Leute hatte, die vorab den Weg bahnten, schießt Peary jetzt plötzlich förmlich übers Eis, verdoppelt die Tagesleistung auf 45 Kilometer und will am 6. April als erster Mensch der Welt am 90. Breitengrad angekommen sein. Dem einzigen Punkt der nördlichen Halbkugel, an dem man, ohne die Richtung zu wechseln, erst nach Norden und gleich darauf nach Süden gehen kann.

»Endlich am Pol. Der Preis von drei Jahrhunderten. Mein Traum und Ziel seit zwanzig Jahren. Endlich mein! … Nordpol, den 6. April 1909 – Ich habe heute die Staatsflagge der Vereinigten Staaten von Amerika an dieser Stelle gehisst, die nach meinen Beobachtungen die nordpolare Achse der Erde ist, und habe im Namen der Vereinigten Staaten von Amerika förmlich von der ganzen Gegend und Umgegend für diese Besitz genommen.«

Dreißig Stunden bleibt die Gruppe an dem Ort, den Peary als Pol deklariert, Peary macht Messungen und fotografiert sich und seine Gefährten. Danach macht er sich auf den Rückweg. Und war schon die Tagesleistung auf der Hinfahrt ohnegleichen, wird sie nun noch einmal übertroffen.

Nur zwei Tage nachdem der zehn Tage zuvor zurückgeschickte Bartlett die Roosevelt erreicht, kommt auch Peary mit seinem Trupp dort an. Eine unglaubliche Leistung von manchmal über hundert Kilometern am Tag. Und genau diese Geschwindigkeit ist es, was Peary später seine Glaubwürdigkeit raubt. Nie zuvor und nie nach ihm hat sich jemand auch nur annähernd so schnell über das zerklüftete Polareis bewegen können. Und das ausgerechnet in der einzigen Phase der Exkursion, in der niemand außer Peary selbst Messungen durchführte, da er Kapitän Bartlett zurückgeschickt hatte. In den letzten acht Tagen will Peary im Schnitt 70,8 Kilometer am Tag geschafft haben. Selbst Jahrzehnte später, mit modernsten Schlitten, schafften Forscher kaum 35 Kilometer am Tag.

Außerdem hat Peary zu keiner Zeit den Längengrad gemessen, um sicher zu sein, dass er überhaupt Richtung Norden lief – er will in schlafwandlerischer Sicherheit an ihm entlanggegangen sein. Dabei ist das Eis dort in ständiger Bewegung, und ohne die Bestimmung des Längengrads ist es nahezu unmöglich zu wissen, ob man in Richtung Norden vorwärtskommt.

Zu den Ungereimtheiten zählt auch ein anderer höchst merkwürdiger Umstand: Als die Männer der Roosevelt am 26. April auf Peary zustürmen und wissen wollen, ob er am Pol gewesen sei, sagt er: »Reise nach Norden insgesamt zufriedenstellend.«
Das klingt nicht nach dem Triumphgestus eines Robert E. Peary. Auch Henson äußert sich nicht zu der Reise. Eine Erklärung könnte sein: Peary treibt noch immer die Ungewissheit, ob Cook ihm zuvorgekommen ist.

Zurück in Etah berichten Eskimos Peary, Cook sei keineswegs tot, sie hätten ihn gesehen, er sei mit einem Schiff auf dem Weg nach Dänemark. Und schlimmer noch: Ein Walfänger erzählt, er habe Cook getroffen und der behaupte, am Nordpol gewesen zu sein. Jetzt erst besteht Peary eindeutig und unmissverständlich darauf, am Pol gewesen zu sein, und steuert so schnell wie möglich die nächste Telegrafenstation in Labrador an, um dies der Welt zu verkünden. Er telegrafiert die berühmten Worte: »Stars and Stripes nailed to the North Pole.«

Mit der Beschreibung seiner Reise hält er sich aber noch zurück. Das hat nur Sinn, wenn er nicht am Pol war und die Schilderungen von Cook abwarten will. Denn was, wenn er, Peary, den Pol als Eiswüste beschreibt, Cook aber offenes Wasser oder Gestein dort vorgefunden hätte? Oder gar das Loch in der Erdachse?
Am 2. September 1909 – Peary ist noch auf dem Schiff in Richtung New York – berichtet schließlich der New York Herald: »Der Nordpol ist von Dr. Cook entdeckt worden, der dem Herald eine exklusive Schilderung telegrafiert hat, wie er die amerikanische Flagge auf der Spitze der Welt hisste.« Es folgt ein detaillierter Bericht Cooks, samt Route und der Entdeckung: Der Pol ist ein Haufen zusammengeschobenes Eis.

Doch schnell werden Zweifel laut. Wenn Cook innerhalb von nur 35 Tagen den Pol erreicht hat, warum brauchte er 16 Monate, um wieder zur Zivilisation zurückzukehren? Und vor allem: Warum nahm er keinen glaubwürdigen Zeugen mit?

Die Welt hatte nun zwei Forscher, die den Pol für sich beanspruchten, aber beide blieben den Beweis ihrer Taten schuldig. Cook wurde in Europa gefeiert, die dänische Krone erkannte nach seinen Schilderungen seine Leistung an, Aufzeichnungen, Berechnungen und Messungen wollte er nachreichen. Doch sie blieben verschollen. Immer wieder lieferte Cook neue Erklärungen dafür, wiederholte stets, dass er seine Unterlagen und Messgeräte nur noch aus einem Versteck im Schnee holen müsse, um seine Behauptung zu beweisen.

Diese Beweisstücke werden später angeblich von Pearys Kapitän Bartlett vernichtet – das könnte für Cook sprechen. Oder gegen ihn, falls Bartlett auf Cooks Seite stand. Cook versuchte später jedenfalls, durch gefälschte Fotos und zweifelhafte Dokumente den Beweis zu erbringen. War dies die Verzweiflungstat eines am Boden zerstörten Forschers, der durch seinen Kontrahenten seines Lebenswerkes beraubt wurde, oder die Tat eines notorischen Lügners, als der er später dargestellt wurde?

In Folge der beiden Expeditionen entbrannte 1909 ein monatelanger Zeitungskrieg zwischen dem Herald und der New York Times. Beide Blätter ließen kein gutes Haar an dem jeweils anderen Favoriten. Und beide hatten Exklusivverträge mit ihrem Mann geschlossen, was die Wahrheitsfindung nicht gerade vorantrieb.
Peary verweigert hartnäckig Einblicke in seine Aufzeichnungen.

Er stellt sich 1910 lediglich einem Komitee der National Geographic Society, ausgerechnet der Organisation, die ihn logistisch und finanziell immer unterstützt hat und deren Jury aus seinen Freunden und Gönnern besteht. Und, wer hätte das gedacht: Sie bestätigen ihn als Entdecker des Nordpols und betrachten Cook als Verlierer des Wettrennens, da er seine Route nicht beweisen könne. Aber wie hätten sie auch Peary, einen Günstling Roosevelts und Admiral der US Navy, einen Betrüger nennen können?

Erst knapp achtzig Jahre später erhält Wally Herbert, ein unabhängiger Forscher, Zugang zum Peary-Archiv und macht erstaunliche Entdeckungen. Die wichtigste ist, dass im entscheidenden Routenbuch weder für den Hinweg noch für den Rückweg die Entdeckung des Nordpols erwähnt ist. Die entscheidenden Tage des 6. und 7. April sind: leer. Die auf den vorigen Seiten zitierten jubelnden Passagen von wegen »Endlich am Pol« und »Flagge gehisst« fand Herbert lediglich auf losen Blättern, die auch hinterher hinzugefügt worden sein können, ebenso die Eintragung: »Nachmittag, Messung 89 Grad 57 Minuten Nord. Endlich der Pol…« Und warum sollte Peary auch lose Blätter benützen?

Peary behauptet zwar in seinem Reisebericht, dass er diese und andere Notizen in seinem Tagebuch gemacht habe, aber dort findet sich nichts. Er hätte also die wichtigsten Momente seines Lebens nicht beschrieben? Wo er sonst jeden Gedanken penibel festhielt? Das ist mehr als unwahrscheinlich.

Was ist wirklich passiert, auf den letzten Kilometern der Expedition? Peary ist mit ziemlicher Sicherheit nach Bartletts Umkehr weiter Richtung Norden gezogen. Aber er muss irgendwann die Orientierung verloren haben, ohne sich dies anmerken zu lassen. Um nicht wieder mit leeren Händen zurückzukehren, wird er seinen Begleitern gegenüber einfach den nördlichsten Punkt, den sie erreichten, als Nordpol ausgegeben haben. Wally Herbert schätzte, dass Pearys »Nordpol« etwa hundert Kilometer vom echten entfernt lag.

Robert E. Peary, so viel scheint sicher, hat den Pol nie gesehen. Auch sein Verhalten nach der Rückkehr legt diesen Schluss nahe. Er zog sich zurück, nahm kaum noch am öffentlichen Leben teil. Das lässt vermuten, dass er 1909 abermals scheiterte. Letztlich handelte er wohl wie nach ihm so viele gedopte Sportler, denen der ganz große Erfolg ohne illegale Mittel verwehrt geblieben wäre. Und so reiht sich Amerikas angeblich größter Entdecker, dessen Name noch immer in jedem Atlas neben dem Pol geschrieben steht, ein in die Liste von Besessenen wie Ben Johnson, Carl Lewis oder Marion Jones, die allesamt ihre Namen durch Rekorde zu Legenden werden lassen wollten.

Doch während die Betrüger heutiger Meisterschaften schnell wieder aus den Büchern gelöscht werden, tun sich die Amerikaner schwer, Abschied von Peary zu nehmen und von der Vorstellung, einer von ihnen habe 1909 den Nordpol entdeckt. Als Erster war übrigens ein Italiener am Nordpol: Umberto Nobile. Er flog am 12. Mai 1926 mit einem Luftschiff über den Pol und war der erste Mensch, der ihn völlig unstrittig zu Gesicht bekam. Und er hatte nicht nur gute Instrumente, die dies belegen konnten, sondern auch einen Zeugen: Roald Amundsen, den Entdecker des Südpols.