Heute rief Nick an. Nick ist mein Bestatter. "Du, wir haben ja im Vertrag Baumbestattung unter der Rotbuche vereinbart, aber den genauen Platz musst du extra reservieren", sagte er. "Mach doch mal einen Ortstermin mit der Friedhofsverwaltung."
Ach ja, die Rotbuche. Die hatte ich schon verdrängt.
Ich hab mal in einem Hindutempel gelebt. Dort hieß es, wir sind nicht unser Körper. Unser Körper ist wie ein Auto, das wir im Verlauf unseres Lebens zuschanden fahren. Dann steigen wir aus und suchen uns, der Idee der Reinkarnation folgend, ein neues Auto. Das Konzept gefiel mir. Vor allem - ich war fast zwanzig Jahre jünger als heute - der Teil mit dem Zuschandenfahren.
Jahre später, während meiner Ausbildung zur Hospizbegleiterin, machte ich ein Praktikum bei einem Leipziger Bestatter. Ich lernte, dass man Verstorbene nicht direkt anföhnt, weil sich sonst die Haut verfärbt, dass normaler Lippenstift nicht auf kalten Lippen haftet und dass man Totenstarre wegmassieren kann. Das Haarewaschen, das Verstöpseln von Körperöffnungen, das Zunähen des hartnäckig sich öffnenden Mundes war nicht halb so lustig wie in Six Feet Under. Der Tod war prosaisch, die Pietät piefig, und Eros und Thanatos waren anderswo. Aber wo?
Menschen werden in bunt bemalten Kapseln zum Mond geschossen, lassen sich einfrieren, zu Diamanten verarbeiten, aus Heißluftballons streuen, plastinieren, um wenigstens origineller tot zu sein, als sie lebten. Die meisten von uns aber enden unter orthografisch grenzwertig beschrifteten Geizistgeil-Grabsteinen in Reihengräbern mit Stiefmütterchen.
Warum? Sich mit der Selbstentsorgung zu befassen rührt an die tief sitzende Angst, dann möglichst zeitnah sterben zu müssen. Aber ist man erst mal tot, dann für immer. Es lohnt sich also zu überlegen, wie und wo man tot sein will.
Wer pompös gelebt hat, will möglicherweise nicht in einer Bananenkiste zur Billigkremierung nach Tschechien rumpeln. Wer klaustrophob ist, sollte gegen fünf Tonnen Erde auf der Brust rechtzeitig sein Veto einlegen. Wer nicht in Hörselberg-Hainich enden will, nur weil das im Gießkannenbereich der buckligen Verwandtschaft liegt, der reserviere sich einen Platz dort, wo er gelebt hat.
Der Friedhof – ein aufregendes Land
Vor einem Jahr entschied ich mich spontan für den Alten St.-Matthäus-Kirchhof Berlin. Über den flaniere ich nun mit einer Freundin, die mich hin und wieder in Einrichtungsfragen berät. Die mickrige Rotbuche im hintersten Winkel überzeugt sie ebenso wenig wie die Stelen, die das Bäumchen wie Killer-Tetrapacks umzingeln. Ich hätte damals einen Platz in erster Reihe reservieren müssen. Nun müsste ich mich in die vierte drängeln. Das findet meine Freundin unangemessen.
Ich sehe mich um. Der Friedhof erscheint mir wie ein aufregendes neues Land mit mächtigen Birken und Kastanien, die ihre Häupter vor den Toten neigen. Sie waren da, als Stauffenberg begraben und Stunden später von der SS wieder ausgebuddelt wurde. Sie waren da, als Teile des Friedhofs, unter ihnen die Grabstätte der Langenscheidts, für Hitlers Idee von der Welthauptstadt Germania mit Planierraupen überrollt wurden.
Das alles wusste ich nicht, als ich vor einem Jahr eher beiläufig mein Ableben regelte. Ursprünglich wollte ich mit meinem Nachbarn Nick, der gerade zum Bestatter umgeschult hatte, in seiner Filiale einen Kaffee trinken. Drei Stunden später verließ ich mit einem unterschriebenen Vorsorgevertrag das Geschäft: Baumbestattung unter der Rotbuche Abteilung P wie Paula, Grabmal Modell 2, Stele mit Inschrift, Urne im Baumstamm-Look, Urnenkranz U13 (üppig auslaufend), Beisetzung, stille Abschiednahme in der Kapelle, Öffnen und Schließen der Gruft, Traueranzeige, das ganze Programm.
Nicht, dass mich Nick dazu überredet hätte. Im Gegenteil! Er bat mich sogar, die Sache zu überdenken. Aber Leute wie ich überdenken nix, schon gar nicht, wenn sie gerade eine Rückzahlung vom Finanzamt gekriegt haben. Wir machen Nägel mit Köpfen. Sargnägel in dem Fall.
Damals erschien es mir literabel genug, siebzig Schritte - ich hatte abgezählt - von den Gräbern der Gebrüder Grimm entfernt zu liegen. In dem für mich typischen Überschwang für Neues, der bei meiner Familie Dauerkopfschütteln auslöst, entwarf ich meine eigene Todesannonce. Warum so eilig?, fragten die Verdränger. Hatte ich ihnen etwas verborgen? War ich suizidal, morbide, moribund?
Gleich rechts vom Eingang des Friedhofs entdeckt meine Freundin eine Urnenwand. Witterungssicher, fünfstöckig, gut durchlüftet, die beiden oberen Stockwerke auf Augenhöhe. Eine Schrankwand im Freien - vielleicht bequemer auf Dauer? Ich treffe Oliver, 25. Er arbeitet hier seit zehn Jahren, und zwar gern. Es ist ein milder Februartag, Oliver zeigt mir alle freien Plätze, die Sonne scheint, wir lachen, ich liege spontan Probe auf einem Schneeglöckchenfleck, Oliver macht ein Foto, ein Friedhofsbesucher winkt von Weitem fröhlich mit einer Spitzhacke. Gemütlich hier! Macht Spaß, das alles! Die Rotbuche hat sich für mich erledigt. Oliver telefoniert. Der Schneeglöckchenfleck in der Abteilung Q ist zu haben, bald wird auch eins der Urnenfächer frei.
Gut, Sie werden jetzt sagen, wer tot ist, ist weg, und sollte es sich um eine unsterbliche Seele handeln, die dann aus ihrer Hülle fliegt, wartet sie natürlich nicht, bis ihr bei 900 Grad Celsius im Krematorium der Arsch brennt, sie flattert auf und davon, ob in den Himmel, in die Hölle oder in die nächste Krähe. Dennoch, sage ich, ist eine ... nennen wir es Bestattungs-Choreografie ... nicht zu unterschätzen. Ein finales Statement. Unkorrigierbar. Als Schriftstellerin, die posthum einen Ruhmschub erfahren könnte ... wird, stehe ich zudem in der Pflicht. Ich will keine Herumrätselei wie bei Christian Franz Klusáček, ob er denn wirklich Chris Roberts sei (er ist es! Und liegt auch hier!). Ich will problemlos auffindbar sein, und ich will den "Else-Approach". Auf meinem Friedhof-to-be liegen die bereits erwähnten Gebrüder Grimm, Rio Reiser, Max Bruch, Rudolf Virchow. Dort gibt es Marmorstatuen, bemooste Grabplatten, Gedenkplätze für Menschen, die an Aids starben, einen windmühlenratternden Friedhof für Sternenkinder, dort liegen Juden, Atheisten, Artisten und diverse feministische Schriftstellerinnen. Es ist ein lebendiger Friedhof, ein Oxymoron, fast wie Varanasi, wo mich faszinierte, dass Neugeborene im Ganges-Wasser geweiht werden, im Feuerschein der Hinduleichen, die an den Ghats verbrennen.
Warum nicht eine Grab-WG?
Es gibt sogar eine wunderschöne Dokumentation über St. Matthäus, Garten der Sterne. Nick und ich haben sie uns im Kino angesehen. Hinterher lernte ich den Protagonisten des Films kennen, Bernd Boßmann alias Ichgola Androgyn, bekannt aus Rosa von Praunheims Dokumentation Tunten lügen nicht. Boßmann, ein flirrend-faszinierendes Geschöpf, betreibt auf dem Friedhofsgelände das Café "Finovo", engagiert sich für den Friedhof im Förderverein EFEU e. V. und irrlichtert zusätzlich zwischen Aidshilfe, Kinderbestattung, Schauspielerei und politischem Kabarett. Wir saßen in seinem wohnzimmerartigen Friedhofscafé bei selbst gebackenem Kuchen, und Boßmann erklärte mir die Idee der Grabpatenschaft. Herrlich! Mit zusammengelegtem Geld eins der Wandgräber, eins der Mausoleen zu restaurieren, um irgendwann hineinzudürfen! Boßmann, HIV-positiv, ist so zu seiner Grabstelle gekommen. Sein Freund Christoph Josten (Tuntenname Ovo Maltine), der 2005 mit 38 Jahren starb, liegt dort, sie steckten oft unter einer Decke, unter der Erde werden sie sich wiederfinden. Bei der Rotbuche hätte ich eine Vierer-Urnenstelle gebucht. "Da kannste wieder Flüchtlinge aufnehmen", hatte Nick gescherzt.
Das vielleicht nicht, Moslems wollen nicht in Urnen, aber in einem Grab, das ich mit Freunden restauriere, könnte ich endlich die WG gründen, zu der ich mich im Leben außerstande sah. Niemand schnarcht, die Miete ist im Voraus bezahlt, Besucher können jederzeit vorbeikommen - und die geliebten "Schlafanzugtage" (in meinem weißen Schlafanzug will ich verbrannt werden) nähmen kein Ende mehr.
Ich werde ein Urnenfach reservieren, im fünften Stock, da wohn' ich jetzt auch! Nein, halt, ich nehme den Schneeglöckchenplatz! Obwohl, vielleicht suche ich mir auch Mit-Grabpaten für die Restaurierung eines Wandgrabs? Das vom Schlachtermeister Franz van Deuren, gestorben 1884, zum Beispiel braucht eine neue Pforte, und der schmiedeeiserne Zaun ist auch ganz verrostet. Egal, jedes Mal, wenn ich mich umentscheide, werde ich Nick anrufen. Und er wird lachen und sagen: "Hallo, Else! Wieder alles neu?"
Ich muss immer an Herrn May denken. Der spürt Verwandte von Menschen auf, die einsam starben, in einem britischen Film. Er besucht ihre Wohnung, spricht mit den Nachbarn und ist der einzige Zuhörer, wenn der Pastor die Trauerrede verliest, die er, May, geschrieben hat. Von jedem Toten nimmt May ein Foto mit heim und klebt es in ein Album: Da ist ein Penner, ein Rastamann, eine Oma mit rosa Hut, eine Frau mit Katze, ein Pilot, ein Mädchen mit Pelzkragen. Beim Überqueren der Straße wird May vom Bus erwischt. Nun ist es sein eigener Sarg, an dem niemand steht. Bis - Spoileralarm! - von allen Seiten durchsichtige Menschen auf sein Grab zulaufen: ein Penner, ein Rastamann, eine Oma mit rosa Hut, eine Frau mit Katze, ein Pilot, ein Mädchen mit Pelzkragen. Es sind die Toten. Sie sind seine trauernde Familie.
So in etwa stelle ich mir aller Tage Abend vor. Die meisten Menschen, die ich liebte, sind dann möglicherweise schon tot. Sie werden dennoch kommen, werden, wie es Bert Hellinger einmal formulierte, als "mir freundlich gesinnte Armee der Toten" dort stehen. Sie sind die Seelen, die mit uns Lebenden wandern, die uns wohlwollend begleiten und zu denen eines Tages auch wir stoßen werden. Den größten Batzen Geld habe ich in meine halbseitige Traueranzeige investiert, und ich will hoffen, dass es dann noch Zeitungen gibt. Kein abgehangener Schmus wird dortstehen, kein verstiegenes Fremdzitat, kein besinnlicher "Ach, das hätte ihr bestimmt gefallen"-Vers. Stattdessen ein letzter wütender Schrei, so etwas wie "Scheiße, ich bin tot!" Oder ganz anders. Das sehen Sie ja dann. Soll eine Überraschung werden. Nick hat immer die aktuelle Fassung.