Schief gewickelt

Vor hundert Jahren wurde die Welt mit Krieg überzogen - und mit Stacheldraht. Seitdem sind die Menschen in ihm verheddert.

Verschwindet der Stacheldraht? Kühe grasen jetzt hinter elektrischen Weidezäunen. Rehe, Pferde und Vögel haben sich besonders schlimm an den Spitzen des Stacheldrahts verletzt. Einige Gemeinden und Verwaltungsgerichte haben ihn auf Gartenzäunen verboten – zu gefährlich für Kinder und zu hässlich; elektronische Eisengitter und Videokameras sollen reichen. Das neu gebaute Frauen- und Jugend-
gefängnis in München kommt ganz ohne aus. Überflüssig wurde er auch an den vielen Grenzen, die seit dem Mauerfall in Europa geöffnet oder aufgehoben wurden. Seine Zeit ist vorbei, so hat es zumindest in Europa den Anschein. Wäre ja gut so. Ein Fluch war er von Anfang an.

Erfunden wurde der Stacheldraht im Wilden Westen. Zwei Amerikaner ließen ihn sich 1867 und 1873 unabhängig voneinander patentieren. Der eine verzinkte Draht hatte S-förmige Stacheln zwischen zwei ineinander verdrillten Adern, der andere einen geraden Stachel, der um eine Ader doppelt gewickelt war. Der gerade Stachel setzte sich durch. Die Siedler im Westen zäunten mit ihm riesige Weidelandflächen in der Prärie ein. Seine ersten Opfer: die vielen Cowboys, die er arbeitslos machte; seine zweiten: die Indianer, sie nannten ihn »Teufelsschnur«, weil sie sich nicht mehr frei auf ihrem eigenen Land bewegen konnten.

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Vor hundert Jahren hat der Stacheldraht dann Europa erobert: als sich die britische, französische und die deutsche Armee in Schützengräben gegenüberlagen. Die deutsche Armee verlegte als erste Stacheldraht in den Ardennen, nachdem ihr Vormarsch ins Stocken geraten war. So hatten das schon vorher die deutschen Generäle geplant. Die französische Armee improvisierte, sammelte Stacheldraht in den umliegenden Dörfern und brachte ihn zur Front.

Sie reichte vom Ärmelkanal bis zur Schweizer Grenze, war 750 Kilometer lang und veränderte sich bis Kriegsende nur wenig. Die Schützengräben wurden im Zickzackmuster angelegt, deshalb waren sie sogar 20 000 Kilometer lang. Dazwischen verliefen mehrere Reihen Stacheldrahtrollen. Europas Mitte war komplett verdrahtet.

Ohne Stacheldraht wäre dieser Krieg anders verlaufen. Vielleicht wäre er schneller vorüber gewesen, wahrscheinlich wären weniger Menschen gestorben. Draht war die perfekte Waffe, um den Vormarsch des Feindes aufzuhalten: billig, maschinell herstellbar, leicht, witterungsunempflindlich, schnell zu verlegen und schwer wieder zu entfernen. Das revolutionierte die Kriegsführung. Bis zum Ersten Weltkrieg hatten große Kavallerien die Armeen geprägt. Der Stacheldraht machte den Kampf zu Pferde und Mann gegen Mann mit Bajonett auf dem Gewehr nun obsolet. Tausende Soldaten starben im Sperrfeuer, sobald sie an der Front versuchten, den Drahtverhau im Niemandsland zwischen den feindlichen Schützengräben zu durchschneiden, darunter hinwegzukriechen, sich langsam durchzuwinden.

Die französischen Generäle brauchten besonders lange, um sich auf die neuen Verhältnisse einzustellen, sie schickten die meis-ten Soldaten in einen Tod, der nicht mal militärstrategisch Sinn machte. Oft genug verbluteten die Soldaten hilflos, im Draht verheddert. Die Leichen blieben mitunter monatelang liegen. Engländer kannten die Kriegsführung mit Maschinengewehr und Stacheldraht schon aus dem Burenkrieg in Südafrika. Die deutschen Soldaten waren es, die gegen Kriegsende als erste ein probates Gegenmittel einsetzten: den Panzer. Doch auch der konnte sich festfahren, wenn sich der Draht in die Laufrollen wickelte.

Zwanzig Jahre später ersannen deutsche Soldaten eine weitere Anwendungsmöglichkeit: Mit zwei Reihen Stacheldraht und Wachtürmen an den Ecken begann der Bau jedes Konzentrationslagers. Beide Reihen wurden unter Strom gesetzt. »In den Draht gehen« nannte man den Suizid von KZ-Insassen. Es war die Form der Selbsttötung, die am sichersten funktionierte und von den hungernden Menschen die geringste Energie erforderte. In Auschwitz mussten KZ-Häftlinge jeden Morgen Leichen mit Brandwunden aus dem elektrischen Zaun befreien. Zu Beginn des Krieges waren es mehr als gegen Ende.

Ungarn lockerte den Eisernen Vorhang 1989, weil man sich den Stacheldraht und die Bewachung von 360 Kilometern Grenze nicht mehr leisten wollte.

In Sobibor und Treblinka war der Gang zu den Gaskammern mit Stacheldraht eingezäunt, der mit Blättern getarnt wurde. »Weg in den Himmel« nannte ihn das Wachpersonal von der Waffen-SS. Es gab auch Käfige aus Stacheldraht, nicht größer als eine Hundehütte, die Häftlinge mussten auf allen vieren in sie hineinkriechen.

Eine Tonne verzinkter Stacheldraht reicht bei einem heute üblichen Durchmesser von 1,7 bis 2,5 Millimetern für etwa 20 Kilometer. Stahldraht wird mehrmals auf Walzen in die Länge gezogen, bis er den gewünschten Durchmesser bekommt. Die Dornen mit vier Spitzen in vier Richtungen können beliebig eng gesetzt werden. Eine Sonderform ist der sogenannte Nato- oder S-Draht: Er besteht aus einem dünnen Blechband, in das scharfe Klingen eingestanzt sind. Hochfester Spezialfederstahldraht kann nicht mit einer Zange durchtrennt werden, dafür braucht man schon einen Bolzenschneider. Den laufenden Meter bekommt man für weniger als 20 Cent. Trotzdem hat Ryszard Kapuscinski, der polnische Reiseschriftsteller, der Sowjetunion schon in den Siebzigerjahren den sicheren Untergang prophezeit, als er überschlug, was allein der Stacheldraht an den riesigen Grenzen Sibiriens kosten müsste. Ungarn lockerte den Eisernen Vorhang 1989, weil man sich den Stacheldraht und die Bewachung von 360 Kilometern Grenze nicht mehr leisten wollte.

Deutscher Stacheldraht hält wegen hochwertiger Zinkverarbeitung 30 Jahre, bis er anfängt zu rosten. Er darf in alle Welt verkauft werden, der Handel damit fällt nicht unter das Kriegswaffenkontrollgesetz. China exportiert die größten Mengen. Griechischer Stacheldraht hält nur zehn Jahre, ist aber sehr günstig. Südafrika hat immer noch riesige Kontingente aus Apartheidszeiten auf Lager, die reichen würden, um ganz Afrika einzuzäunen.

Kunden gibt es reichlich, irgendwo auf der Welt soll immer irgendjemand ein- oder ausgesperrt werden: An der US-amerikanischen Grenze zu Mexiko verläuft der höchste Stacheldrahtzaun der Welt, sechs Meter ist er hoch. In Israel liegen auf der Grenze zu Palästina an vielen Stellen gleich sechs Rollen hintereinander. An den Außengrenzen der EU verlegt man ihn um die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko oder auf Zypern an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei. Am gängigsten ist die Nato-Drahtrolle mit 70 Zentimeter Durchmesser. Mit ihren verdrillten Rasierklingen kann sie Menschen töten. Im KZ sperrte der Stacheldraht Menschen ein, heute sperrt er meistens aus.

Die Zeit des Stacheldrahts ist noch nicht vorbei. Ein Blick auf die Zahlen zeigt: In Deutschland ist der Verkauf in den vergangenen Jahren nicht gesunken. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 stieg er sogar leicht. Sagen Fachhändler wie Heinz Rummler von Draht Weißbäcker aus Dieburg, einer Firma, die in China hochwertigen deutschen Stacheldraht verlegt und billigeren chinesischen in Deutschland. Außerdem fanden sich ganz neue Anwendungsmöglichkeiten: An der Reling auf Schiffen zum Schutz vor Piraten, an größeren Fotovoltaikanlagen zum Schutz vor Diebstahl. Atomkraftwerke, militärische Sperrgebiete und große Industrieunternehmen verbauen ihn immer noch, Letztere meistens verdeckt in zweiter Reihe hinter einer Mauer. Auf Zäunen findet man ihn allerdings kaum mehr.

Man kann ihn inzwischen mit farbiger Kunststoffummantelung kaufen, in Grün, Rot, Schwarz, alles als Sonderanfertigung erhältlich. Das Land Baden-Württemberg bestellt seine Kontingente vorzugsweise in Gelb. Als ob man Blümchen auf Gewehre malen würde. Wie bezeichnend: Der Anblick von nacktem Stacheldraht gilt als nicht mehr zumutbar.

Der Stacheldraht ist nicht verschwunden, er wird jetzt nur versteckt. Die Welt bleibt in ihm verheddert.

Fotos: Eddo Hartmann