Mitte Juli bin ich nahe Berlin in einen Orkan geraten. Die Windgeschwindigkeit erreichte an die 160 Stundenkilometer, der Sturm toste fast 120 Dezibel laut, dazu ergoss sich ein feiner Nasensekret-Schauer durch das Ruheabteil des ICE-Waggons. Mitten in die Stille hinein hatte ein Bahnfahrer dermaßen laut und markerschütternd geniest, dass der Zug aus dem Gleis zu springen drohte.
»Wieso niesen Männer so irre laut?«, fragte eine Frau vor mir ihre Sitznachbarin. Berechtigte Frage. Und: Sorry. Der Urknall im ICE war zwar nicht von mir, aber ich erschrecke selbst, welche Lautstärken Nieser bisweilen erreichen. Und murmele dann peinlich berührt »Entschuldigung« oder sage schnell im Scherz: »Hey! Wer hat hier einen Elefanten mitgebracht?«. Solche Scham sei unnötig, erklären mir zwei – ja, o. k. – Männer, aber sie sind beide fachkundig.
»Wer nicht mehr atmen kann, der stirbt. Darum ist Niesen ein wichtiger Schutzreflex des Körpers«, sagt der HNO-Arzt Jörg Lutz aus Essen, dessen Praxis sein Urgroßvater 1888 gründete. Der Körper unterscheide nicht zwischen harmlosen Fremdkörpern in den Atemwegen – Staub oder Pollen– und echter Gefahr. Er reagiere mit dem gleichen explosiven Niesreiz. »Mich persönlich würde es in einem vollen Vortragssaal mehr stören, wenn jemand nach dem Niesen noch Entschuldigung sagt, statt einfach weiterzumachen«, sagt Martin Sorge, Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde am Universitätsklinikum Leipzig.
Unter #DadSneeze finden sich zahlreiche Videos auf TikTok über absurd laut niesende Väter
Also darf man ungeniert erschütternde Riesennieser durch den öffentliche Raum jagen? Ein Kollege erzählt mir von seinem Nachbarn, dessen Nieser im Zehn-Parteien-Haus von der Dachwohnung bis zum Keller zu hören seien. Jörg Lutz, aus der Essener HNO-Dynastie, hatte einen Freund, der oft 20 Mal am Stück niesen musste, »die Lautstärke war unglaublich«. Unter #DadSneeze finden sich zahlreiche Videos auf TikTok über absurd laut niesende Väter. Und ja, es ist mehr ein Männerproblem als eins der Frauen. »Männer haben generell ein größeres Lungenvolumen, einen größeren Kehlkopf, Schädel und längere Stimmbänder. Die Resonanzräume sind größer, damit steigt die Lautstärke«, so Lutz. Sein Freund mit dem Maschinengewehrniesen sei ein großer, kräftiger Kerl gewesen.
Der Chicagoer Neurologe und Psychiater Alan Hirsch erregte mal Aufmerksamkeit mit der These, dass Niesen die Persönlichkeit widerspiegeln könne. Hirsch konnte das nicht mit Studien belegen, das Niesen wird ohnehin wenig erforscht, aber er vermutete, dass Niesen wie Lachen »die Persönlichkeit oder Charakterstruktur« offenbart. Menschen mit lautem, explosionsartigem Niesen könnten eher offen und kontaktfreudiger sein, Leute mit leisem, sanftem Niesen eher schüchtern und zurückhaltend.
Steile These. Andererseits ahnt man, wie Donald Trump niest: Alpha-Männchen-mäßig, ungeniert, demonstrativ. Der am lautesten trötende Elefant der Herde. Tiere niesen auch, mein Hund mit seiner langen Schnauze kräftig, meine Katze mit ihrer Stupsnase sanft. Im Netz gibt es ein millionenfach gesehenes Video eines Panda-Babys, das so laut niest, dass es die Mutter vor Schreck fast umwirft.
Kann man lernen, leiser zu niesen? Es gibt ja blöde Momente dafür: Im Theater oder Kino, auch bei romantischen Verabredungen möchte man sich Riesennieser ersparen. In Warteschlangen, Aufzügen, bei Beerdigungen, im Restaurant. In die Armbeuge niesen dämpft, kann aber unschön enden, je nach Feuchtigkeitsgrad. Die einfachste Methode wäre: Mund und Nase zuhalten. Doch davor warnt Jörg Lutz auf der Webseite seiner Praxis. Im Beitrag »Top 5 falsche Verhaltensweisen im HNO-Bereich« führt er auf Platz eins: Niesen unterdrücken.
Nieser zu unterdrücken kann gefährlich sein
»Auf diese Weise werden die Keime nicht nach außen gepustet, sondern durch den Druck in die Nasennebenhöhlen und über die Gehörgänge ins Mittelohr geschoben. Hier können sie bei Erkältungen für Verstopfungen und Entzündungen sorgen.« Kollege Martin Sorge erklärt, unterdrücktes Niesen werde mit einem Vielfachen des Drucks umgeleitet, die Fachliteratur berichte von Blutungen und Verletzungen in Lunge, Rachen, Gehirngefäßen und Augenhöhle. Selten, aber möglich – und zu 80 Prozent bei Männern.
Ein Schweizer Radiomoderator rät, bei Niesreiz die Zunge oben gegen die Mundhöhle zu pressen. Klappt bei mir beim ersten Versuch. »Eine mögliche Erklärung wäre, dass der Druck der Zunge gegen den Gaumen den Nervus trigeminus erreicht und ablenkt, der auch für den Niesreflex zuständig ist«, so Jörg Lutz. Seltsamere Anti-Nies-Tipps, die man online findet: »Fass deine Nase über der Nasenspitze und zieh daran, als wolltest du sie aus dem Gesicht ziehen.« Oder: »Kneif die Stelle zwischen den Augenbrauen.« Und: »Wackle sanft am Ohrläppchen.«
Die Washington Post hat US-Ärzte befragt, wie man leiser niest, also ein globales Problem. Fazit: Bei Niesreiz ausatmen – je weniger Luft in der Lunge, desto weniger kraftvoll entweicht der Luftstrom durch Mund und Nase. Und die Stimmbänder locker lassen. Drittens mit der Zunge den Mund verschließen, damit Nieser durch die Nase entweichen. »Zugegeben, etwas kompliziert«, sagt HNO-Assistenzprofessor Andrew Tritter aus Texas, Mitverfasser der Tipps. Könne aber klappen, finden Jörg Lutz und Martin Sorge.
Ich möchte es ausprobieren und sitze mit Dezibel-Mess-App am Schreibtisch – muss aber über Stunden nicht niesen. Mist! Pollen, Staub und Licht verursachen Niesen – ich blicke in die Sonne, stecke die Nase in Blüten und Staubmäuse, rieche an Pfeffer, bestelle Niespulver in Scherzartikelläden, kitzle die Nase mit Wattestäbchen. Nix.
Ist das der goldene Tipp? Den Körper psychologisch überlisten: Niesen herbeisehnen und damit blockieren? Scheint so, bis ich tags drauf am Wochenmarkt neben einem Blumenstand plötzlich derart laut niese, dass sich alle umdrehen. »Niesen unterdrücken kann Blutgefäße zerstören«, sage ich leise.

