Weiß wie die Unschuld

Nicht nur sauber, sondern rein: Am gesunden Ruf des Joghurts können weder Küchentrends noch neue Erkenntnisse etwas ändern. Die Bakterienkulturgeschichte eines Verwandlungskünstlers.

Was machen Menschen, wenn sie sich etwas Gutes tun wollen? Sie legen sich in die Badewanne, kaufen sich ein neues Paar Schuhe, gehen ins Konzert. Oder sie essen einen Joghurt. Jedenfalls sitzen da an einem Nachmittag zwei Frauen um einen Tisch und unterhalten sich angeregt. Über ihre Verdauung. Darüber, wie viel besser sie sich fühlen, seitdem sie diesen einen Joghurt essen – nur einer von zig Werbespots, in dem die wohltuende Kraft des Joghurts beschworen wird; abgesehen von Süßigkeiten wird kein anderes Produkt in Deutschland so viel beworben. Es geht um Fitness, Gesundheit, Vitalität und Lebensfreude – in einem Joghurt steckt offenbar nicht nur viel Gutes, sondern auch das Idealbild unserer Gesellschaft. Schon seine ursprüngliche Farbe: ein reines Weiß; und die Konsistenz: weich, kühl, geschmeidig – undefiniert. Er scheint als perfekte Projektionsfläche unterschiedlichster Bedürfnisse zu dienen. Vor allem aber suggeriert die weiße Masse eines: das Pure, das Reine.

Wie ein Heiligenschein schwebt dieses Versprechen über dem Kühlregal. Und überstrahlt, dass man bei über 600 verschiedenen Joghurtsorten längst nicht mehr von Reinheit sprechen kann. Allein in einem x-beliebigen Supermarkt werden zwischen 60 und 80 Geschmacksvarianten angeboten – waghalsige Kreationen wie Apfelstrudel, Sevilla-Pfirsich, Käsekuchen-Limone und Latte Macchiato. Rein kann man selbst einen klassischen Erdbeerjoghurt nicht nennen, weder die enthaltene Fruchtzubereitung noch den Joghurt selbst: Mit Erdbeeren hat die rosafarbene Masse im Becher wenig zu tun. Denn Erdbeeren haben nur wenig Geschmack, die gesamte Ernte der Welt würde nicht genügen, um den Bedarf an Joghurterdbeeren zu decken. Künstliche Aromen helfen deshalb nach – mit ein Grund, dass auf dem Biomarkt eher Kirschjoghurts zu finden sind. Fast alle Deutschen essen Joghurt, mehr als 95 Prozent der Bevölkerung, und jeder Einzelne im Durchschnitt 15 Kilo im Jahr. Deutschland ist von jeher ein ideales Joghurtland: Milch gab es immer genug, da auf den Weiden vom Allgäu bis zur Lüneburger Heide viele Kühe gedeihen. Bloß was tun mit der Milch, die man nicht mehr trinken oder verarbeiten konnte? In einen Teller füllen, auf den Schrank stellen, und ein paar Tage warten, bis sie fest ist. Jahrhundertelang wurde so die saure Milch hergestellt, in Bayern die »Gestöckelte« – der Vorläufer des Joghurts, ein reines, gutes Milchprodukt. Und der Beginn einer beispiellosen Karriere eines Lebensmittels: In Amerika werden gerade Joghurt-Bars im Stil von Kaffeehaus-Ketten eröffnet, andere Joghurtfabrikanten erschließen Osteuropa und Asien.

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Fragt man Marketing-Experten nach dem Mythos, der Joghurt umgibt, sprechen sie von der »Kosmetik von innen«. Tatsächlich ist ein reiner Joghurt gesund. Er enthält Kalzium für die Knochen, Eiweiß und Mineralstoffe. Und er sättigt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt die blanke Masse sogar als dermaßen gesundheitsfördernd, dass sie in Apotheken verkauft wurde. Der russische Biologe und Nobelpreisträger Ilja Metschnikow sah einen Zusammenhang zwischen der hohen Lebenserwartung der Balkan-Völker und dem regelmäßigen Verzehr von fermentierten Milchprodukten, also allen Produkten, die Milchsäurebakterien enthalten. Und Milchsäurebakte-
rien aktivieren den Darm. Deshalb sieht Christian Ehrmann Joghurt auch als »eine Art Medizin für den Menschen, die gut schmeckt«.

Ehrmann ist der Enkel des Firmengründers der Molkerei Ehrmann, einem Allgäuer Familienunternehmen mit 1450 Mitarbeitern, das mit fünf Produktionsstandorten und einem Export in vierzig Ländern zu den größten Milchverarbeitern auf dem deutschen Markt zählt. »Mal liegt der Genuss bei den Konsumenten im Trend, mal der Gesundheitsaspekt«, sagt Ehrmann. »Der Gesundheitsaspekt ist fast schon überfrachtet.«

»Rechtsdrehend« war dabei lange Zeit der Schlüsselbegriff der Joghurtvermarktung, den findige Produktmanager seit den 1980er-Jahren bewerben. Nur handelt es sich dabei um eine Eigenschaft, die dem Joghurt seit je innewohnt. Und um ein altbekanntes Rätsel aufzulösen: Rechtsdrehende Milchsäuren drehen sich nicht, sie sind nur leichter vom Körper zu verwerten als linksdrehende.

Die feine Unterscheidung war der Auftakt zu einer weiteren Verwissenschaftlichung des Joghurts: Zusätzliche Bakterienstämme wurden untergemischt und als »probiotisch« gekennzeichnet. Dem Kunden wird seitdem vermittelt: Mit Trinkjoghurt gewappnet, kann einem kein Virus etwas anhaben. Dabei können Probiotika zwar die Verdauung fördern oder eine Erkältung verkürzen, aber nicht unbedingt verhindern. Das gelingt nur, wenn probiotische Keime lebend in den menschlichen Darm gelangen – dazu müssen in einem Joghurt allerdings ausreichend Bakterienkulturen vorhanden sein.

(Auf der nächsten Seite lesen Sie: Warum Männer aus Angst um ihren Job Joghurt kaufen)

Dem Mythos vom Joghurt als modernes, zeitgemäßes Produkt schaden solche Erkenntnisse nicht: Die Hälfte der Konsumenten in Deutschland schenkt den
Versprechungen Glauben und kauft probiotische Joghurts. Lange Zeit waren die Kunden hauptsächlich Frauen aus der Mittelschicht, gebildet und an guter Ernährung interessiert. Inzwischen aber greifen auch Männer zu. Aus Angst um ihren Job, wie Studien zeigen, arbeiten sie mehr und haben kaum noch Zeit für ein ausgiebiges Essen. Die kleinen abgepackten Mahlzeiten in Flaschen und in Bechern sind genau das Richtige für sie: Joghurt als Seismograf eines veränderten Lebensstils.

Schon dass sich in den 1970er-Jahren überhaupt ein größerer Markt für den Joghurt entwickelte, hatte seinen Ursprung in gesellschaftlichen Umbrüchen: Mit der Frauenbewegung galt Kochen in manchen Kreisen als konservativ und unschick, die Milchindustrie reagierte und stellte mit Joghurt den modernen Frauen ein leicht zu essendes Fertigprodukt zur Verfügung. Hinzu kam eine ganz praktische Entwicklung: große Kühlregale in den Supermärkten, die die Lagerung erleichterten.

Für die technikgläubigen 1980er-Jahre entwickelte die Milchindustrie komplizierte Verpackungen: Joghurt und Fruchtzubereitung wurden durch trickreiche Mechanismen getrennt, die vor dem Essen erst entfernt werden mussten. Auf den Fitnesswahn in den Neunzigern reagierten die Hersteller mit Low-fat-Produkten und Non-fat-Produkten – passend zu Aerobic-Stunden und Fat-Burner-Kursen in den Sportstudios.

So avancierte der Nachfolger der Gestöckelten mit der Globalisierung in Ost-
europa und Asien zu einem Symbol westlicher Lebenskultur. Die Firma Ehrmann hat sich darauf eingestellt und schon vor Jahren in Russland Produktionsstätten er-
öffnet, von denen sie nun auch China beliefert. Denn dort hatte der chinesische Premierminister Wen Jiabao kürzlich gefordert, dass jedes Kind täglich einen halben Liter Milch zu sich nehmen sollte – als Getränk, als Käse oder eben als Joghurt. Die Folgen hunderter Millionen neuer Kunden sind bereits auch hier spürbar: Im September kostete ein Liter Milch 76 Cent – so viel wie noch nie.

Während auf den neuen Märkten die gesamte Palette des Joghurts erst einmal ausprobiert werden muss, scheinen die Deutschen der Künstlichkeit inzwischen überdrüssig – passend zum Bioboom der letzten Jahre. Fragt man heute: »Was ist eigentlich der beste Joghurt?«, sind sich Barbara Scheitz, Geschäftsführerin von der Andechser Bio-Molkerei, und Hans Hauner, Ernährungsmediziner der TU München, einig: »Ein reiner Naturjoghurt aus 100 Prozent Milch!«, und Hauner fügt hinzu: »Nur fettreduziert sollte er sein.« Weil mehr als die Hälfte der erwachsenen Deutschen übergewichtig ist. Joghurt lässt sich sehr einfach auch ohne Zusatzstoffe und nach Biorichtlinien zubereiten. Auch wenn der Biojoghurt viel Zeit benötigt: Von der Anlieferung im Laster bis zum fertigen cremigen Naturjoghurt im Becher dauert es 27 Stunden. Der gleiche Prozess dauert in hochtechnisierten konventionellen Molkereien nur 2,7 Stunden.

Emanzipation, Globalisierung, Bioboom: Der Joghurt ist ein Chamäleon und ein Anpassungskünstler. Eine perfekte Trägermasse, ein Alleskönner. Nur eines kann er nicht: von allein schimmeln. Dazu braucht er immer einen unsauberen Kühlschrank, der ihn ansteckt.