Der Grappa spricht zu mir

Manche Spirituosen sind Träger von Botschaften. Unserer Autorin hat der Grappa hat schon viele wichtige Dinge mitgeteilt.

Foto: Maurizio Di Iorio

Man muss ein bisschen vorsichtig sein, wenn man damit anfängt, Alkoholika zu personalisieren. Das macht schnell den Anschein, als rede man mit ­ihnen, halte sich an ihnen fest oder sei gar mit ihnen befreundet. Aber im Fall des Grappas ist es so. Er spricht zu mir.

Wann immer nach einem Abend mit gutem Essen und ernsthaften Gesprächen ein Gastgeber fragt, wer Grappa möchte, wird mir warm ums Herz. Es gibt Spirituosen, die sind Träger von Alkohol, und es gibt welche, die sind Träger von Botschaften. Hier kommt beides zusammen.

Der Grappa spricht: »Bleib doch noch.« Er füllt nicht routiniert ab, wie die dritte Flasche Wein. Er will nicht noch mal ganz woandershin, wie der späte Cocktail, der wirkt, als sei man mit dem Abend unzufrieden und wolle ihm am Ende noch etwas Neues abringen.

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Der Grappa ist die netteste Art zu sagen: Es war schön, wie es war, und genauso würde ich gern noch beisammen bleiben. Er schließt ab, damit man danach gemeinsam noch mal neu beginnen kann. Etwa mit einer Runde Käse oder dem übrig gebliebenen Tiramisu, das alle nun mit ihren ­langen Löffeln direkt aus der Glasform angeln.

Manche meinen, das gehe nach einem Schnaps besonders gut, das Neuanfangen. Schnaps mache Platz im Magen. Gerade nach fettigem Essen wie Gyros oder Weihnachtsmahlzeiten wie Ente. Eine Forschergruppe aus der Schweiz hat sich der Frage mal angenommen: Der Effekt von schwarzem Tee, Wein und Schnaps auf den Verdauungsvorgang beim Käsefondue-Essen heißt die Studie. Ergebnis: Schwarzer Tee tue gut. Alkohol tue nicht so gut, er fordere die Verdauung zusätzlich heraus, binde Kräfte, statt welche freizusetzen. Irgendwie logisch. Die Vorstellung, man könne sich fit und gesund saufen, ist nüchtern betrachtet durchaus abwegig.

Der Grappa sagt nicht: »Bleib doch noch, die Reste müssen weg.« Sein Nutzen ist nicht wissenschaftlich, er ist sozial.­ ­Was nach ihm kommt, ist die Kür des Abends, eine kleine zweite Einladung, die vage vorgetragene Idee, dass man noch ein bisschen unförmlicher miteinander werden könnte. Dass es eigentlich auch okay wäre, wenn eine sich nun die Schuhe auszöge, um sich auf dem Sofa in eineDecke zu wickeln, oder jemand das lustige Wohnzimmergespräch von der Toilette aus kommentierte.

Auf jeden Fall macht der Grappa Platz für mehr. Mehr Zeit, mehr Nähe. Haben wir eigentlich schon über euer Zusammenziehen geredet, über die neue Schule eurer Kinder oder die Patientenverfügungen eurer Eltern, die nun schwer in eurer Schublade liegen? Das sollten wir unbedingt noch tun. Und da wird einem warm im Körper.

Manche sagen nun natürlich wieder, das liege allein am Alkohol. Der sorge dafür, dass sich die Gefäße weiten, was zu stärkerer Durchblutung führe. Und eine stärkere Durchblutung, zirkulierendes Blut bis vorne in die Hände und hinunter in die Füße, bringe dem Körper dieses durch-dringende Wärmegefühl.

Aber das ist nur die wissenschaftliche Erklärung. Von diesem Diktat haben wir uns nach einem gemeinsamen Grappa eindeutig verabschiedet. Wer lädt schon Freunde ein, um sich sinnvoll zu verhalten? Wer verbringt Abende im Kreis seiner Familie, um Recht zu behalten? Und wer käme zu Weihnachten auf die Idee, Wärme wissenschaftlich zu betrachten? Eben.