Ich komme vom Land. Als Kind habe ich öfter mal ein Glas frische Kuhmilch getrunken, aber ich erinnere mich nicht an den Geschmack, nur noch daran, dass sie warm war. Deshalb bin ich dreißig Jahre später von München aus in Richtung Berge gefahren und habe beim ersten Bauernhof gefragt, ob ich eine Kuh melken darf. Dass ich mich dabei in Gefahr gebracht habe, erfuhr ich erst am Tag danach, als ich »Rohmilch« bei Google eingab, aber der Reihe nach.
Ich weiß, dass ein paar von Ihnen jetzt denken, der Typ spinnt, eine Kuh melken, das mach ich jeden Tag. Ich weiß aber auch, dass die meisten von Ihnen noch nie einen pulsierenden Euter berührt haben, gut möglich, dass viele nicht mal wissen, wie viele Zitzen an ihm hängen, es sind vier, oder wie viel Milch eine Kuh am Tag gibt, es sind fünfzig Liter. Viele Menschen in der Stadt trinken ohnehin lieber Soja-, Mandel- oder überhaupt keine Milch, weil sie davon Blähungen oder sonst was bekommen.
Natürlich melkt kein Mensch mehr mit der Hand, ich aber durfte ausnahmsweise und stellte mich gar nicht übel an. Man muss die warmen, ledrigen Zitzen ganz natürlich und ohne Scheu anfassen, sie sind weniger empfindlich, als sie aussehen, dann immer schön von oben nach unten streifen, damit die Milch vom Euter rausgepresst wird, bis sie als zischender Strahl im Eimer landet. Der erste Liter dauerte eine Weile, der zweite ging schon schneller. Nach ein paar Minuten tunkte ich übermütig den Zeigefinger in den Eimer und leckte ihn ab, irgendwann lenkte ich den Strahl direkt in meine Mundhöhle. Der Bauer zuzelte sogar an den Zitzen, aber das fand ich übertrieben. Auf jeden Fall ist frische Kuhmilch lecker. Schon gewöhnungsbedürftig temperiert, sie kommt mit knapp 40 Grad aus dem Euter – aber so rein, natürlich und sahnig mit einem Hauch von Haselnuss, als stamme sie aus einer Quelle im Paradies. Ungefähr so, nämlich süßlich, stelle ich mir den Geschmack von Muttermilch vor.
Und gerade als ich dachte, man müsste jeden Tag mit so einem Gläschen beginnen, kackte die Kuh einen riesigen Haufen aus. Er platschte auf den Boden, ein paar Spritzer landeten auf meinem Kaschmirpullover, ein paar im Eimer. Und das ist das Problem mit der Milch, die unbehandelt getrunken wird: Sie ist nicht keimfrei, weil ein Stall nun mal kein Labor ist und eine Kuh jeden Tag einen Zentner Kot ausscheidet. Die Folgen: Durchfall, Kreislauf- und Magen-Darm-Beschwerden. Kinder, Ältere und Schwangere sollten die Finger davon lassen, sogar Lemmy Kilmister gab mal zu: »Ich trinke keine Milch und werde es niemals tun.« Das ist aber nur die halbe Wahrheit: Rohmilch ist, wenn sie keimfrei bleiben kann, extrem gesund, sie fördert die Verdauung, enthält Aminosäuren, Vitamine, Omega-3-Fettsäuren, kann Allergien vorbeugen und das Immunsystem stärken.
Frische Kuhmilch ist reine Natur und damit immer beides: gut und böse, gesund und gefährlich. Natur ist so. Vor allem die Menschen in der Stadt vergessen es nur ständig, weil so vieles, was sie als natürlich empfinden, vorgetäuschte oder gebändigte Natur ist: die Wanderwege, die Berghütten, der Magerquark, die Gesichtscremes und eben auch die homogenisierte und pasteurisierte Milch, auf deren Etiketten idyllische Alpenlandschaften abgebildet sind. Fast nichts ist mehr so, wie es ohne uns Menschen mal war. Wer wissen will, wie Milch wirklich schmeckt, muss sich in Gefahr begeben. Wer bereit ist, auszuprobieren, was Leben und Natur wirklich bedeuten, begibt sich immer in Gefahr.