Abseits von ein paar schlichten Kinderliedern gibt es genau drei Songs, die ich auswendig kann – Moon River, Auf der Reeperbahn nachts um halb eins und Hotel California.
Moon River birgt bis auf das, was Audrey Hepburn mit ihrer Stimme in Herzen anrichten kann, keine Abgründe. Auf der Reeperbahn nachts um halb eins ist noch geheimnisloser. Aber Hotel California hat es in sich. Keine Zeile, die ich nicht komplett mysteriös finde, und die heftigsten Bilder in meinem Kopf löst seit jeher diese Passage aus:
»Mirrors on the ceiling,
the pink champagne on ice
And she said,
›We are all just prisoners here
of our own device.‹«
Da blitzt und blinkt es vor meinem inneren Auge, die Spiegel an der Decke, der perlende, auf Eiswürfeln knisternde rosafarbene Schaumwein, von da geht es auf direktem Weg in den Keller am Rhein, in dem mein damals 14-jähriger Opa Sektflaschen umgedreht hat, um Geld zu verdienen. Sein Vater, ein Tagelöhner, war unweit der Sekt-kellerei in ein Silo mit flüssigem Zement gefallen und darin ertrunken. Einmal habe ich mir den Keller angeschaut, Recherche für einen Familienroman, den ich bis heute nicht geschrieben habe, weil ich weiß, wenn der geschrieben ist, höre ich auf mit dem Bücherschreiben, denn dann wird alles gesagt sein, was ich zu erzählen habe. Dann suche ich mir entweder eine anständige Arbeit, oder ich lege mich hin und warte auf ein Erdbeben.
Der Keller war gruselig, dunkel, kalt, feucht, an manchen Stellen klemmten so kleine Fratzen oder Statuen, wahrscheinlich irgendwas mit dem fragwürdigen Gott Bacchus. Mir kamen sie vor wie Teufel, es roch nach Schwefel. Die Vorstellung, dass mein Teenager-Großvater, noch ein halbes Kind, seine Tage in diesem Keller verbringen musste, zog mir den Stecker.
»We are all just prisoners here …«
Ich kann weder Cava noch Crémant noch Champagner trinken, ohne für einen Moment an dunkle Keller zu denken.
»... of our own device.«
Aber sobald der düstere Moment vorbeigezogen ist, macht der Britzel natürlich sofort Spaß, und ich denke an all die Situationen, in denen wir Pink Champagne on Ice trinken können oder sollten. Geburtstag, Weihnachten, Silvester, Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Hochzeit, Scheidung, Hausdurchsuchung, Beamtenbeleidigung, Roadmovie, Sonnendeck, Gartendeck, an der Ecke zur Nacht, Erste Liga für den FC St. Pauli, Zweite Liga für den HSV.
Mein Großvater hat es ungefähr so gemacht. Weil, was soll man denn sonst machen, wenn das Menschsein knallt, wenn der Zusammenhang zwischen Leben und Tod und der Liebe dazwischen sich zeigt, wenn die Ewigkeit der Endlichkeit die Hand gibt, wenn der Himmel aufreißt und klar wird: Wir sind keine Maschinen.
Im Sommer werde ich auf eine Insel fahren und zum ersten Mal, seit ich eine Studentin war, vier Wochen Ferien machen. Ich werde im Meer schwimmen und in der Sonne liegen, ich werde viel lesen und viel schlafen, ich werde mich gut eincremen und manchmal weniger gut, ich werde verbrennen und mich schälen, und ich werde ohne meinen Sohn sein in diesen Wochen, denn er ist groß genug, um allein nach Spanien zu fahren, in einem verdammten Bus. Ich werde das Löwenmutterdasein also an den Nagel hängen, meine Freiheit genießen und an ihr leiden, und am Ende der Bucht liegt ein Hotel mit einer Bar, in der schon der junge Freddie Mercury getrunken hat, ich tippe auf Pink Champagne on Ice.
»Some dance to remember, some dance to forget.«