Meinen ersten Weinbrand trank ich mit zwölf. Ich erinnere mich an einen See, eine Minigolfanlage, eine sonnige Terrasse, Kaffeekännchen, Erdbeerkuchen mit Sahne. Es war Sonntag, ein Ausflug mit Oma und Opa, eigentlich schön, aber diesmal war etwas anders. Zum ersten Mal langweilte mich die Gemütlichkeit der alten Menschen mit ihren Spazierstöcken und Blousonjacken, zum ersten Mal wollte ich kein Pumuckl-Eis, ich wollte etwas anderes, ich wollte etwas Neues.
»Ich geh runter zum See«, sagte ich und ging natürlich nicht runter zum See, sondern rüber zum Kiosk. Ich hatte ein paar Münzen in der Hosentasche und große Lust auf ein kleines Abenteuer. Die Auswahl war enorm: Bier in sämtlichen Varianten, Weißwein, Rotwein, Sekt, ich konnte mich nicht entscheiden – bis ich an der Kasse, zwischen den Kaugummis und dem Topf mit den Losen, dieses Chantré-Fläschchen entdeckte: 0,1 Liter, 36 Prozent – genau richtig, dachte ich, handlich, unauffällig, nicht zu viel, nicht zu wenig.
»Ist für meinen Opa«, sagte ich, hockte mich auf eine Wippe, trank die Hälfte, würgte ein wenig, trank noch zwei, drei Schlucke und warf die Flasche ins Gebüsch. Ich wankte zurück, halb stolz, halb von Gewissensbissen geplagt, beim Minigolf landete ich hinter Oma und meiner kleinen Cousine auf Rang drei. In den Jahren danach habe ich oft darüber nachgedacht, warum ich mich damals für Chantré entschieden habe. Ich habe nur eine Erklärung: Ich muss ein Gefühl von Vertrautheit damit verbunden haben. Das Gefühl, dass mir nur dieses Fläschchen Chantré geben konnte, wonach ich mich sehnte. Zumindest suggerierte das in den Achtzigerjahren jeder zweite Werbespot: »Wenn einem also Gutes widerfährt, das ist schon einen Asbach Uralt wert.« Oder: »So riesig werden die Unterschiede nicht sein. – Riesig nicht, aber fein.« Oder: »Darauf einen Dujardin.«
In diesen Spots war alles bernsteinfarben, die Männer trugen Tweedsakkos, die Frauen Abendkleider, fast immer hockte jemand in einem dunkelgrünen Ohrensessel, im Hintergrund flackerte ein Kaminfeuer, die Menschen lächelten milde. Ich dachte damals nicht: Oh Gott, wie helmutkohlhaft, wie deutsch, wie eng. Ich dachte: Hey, so lässig kann das Leben sein, wenn man Weinbrand trinkt. Rückblickend wirkt es so, als würden wir heute eine aus den Fugen geratene Welt genauso verzweifelt mit Ayurveda-Massagen bekämpfen wie damals ihre lähmende Eintönigkeit mit Weinbrand.
In den Jahrzehnten danach hat Weinbrand in meinem Leben keine Rolle gespielt. Vor ein paar Jahren entdeckten ihn ein paar amerikanische Rapper für sich. Von 2015 bis 2018 war Hennessy die meistzitierte Marke in den Top 20 der Charts, gleich hinter Rolls-Royce und Ferrari. »Pass me the Courvoisier«, sang Busta Rhymes, Kanye West und Jay-Z brachten gleich eine ganze Flasche zur Grammy-Verleihung mit.
Und heute? Ich kenne Menschen, die Heumilch oder japanischen Whiskey trinken, aber Weinbrand? Ich habe überlegt, wem so ein Gläschen Weinbrand gut zu Gesicht stünde und bin bei Alexander Gauland gelandet. Ich meine das nicht polemisch. Es passt einfach: das Sakko, die dunkelgrüne Krawatte mit den gelben Hunden. Genau wie ein isotonischer Sportdrink zu Heiko Maas passt, passt ein Cognacschwenker zu Gauland. Ich habe übrigens nie wieder Weinbrand getrunken, bis heute nicht, und ich glaube, das bleibt auch noch ein Weilchen so.