Ich trinke auf dich

In der Schulzeit trank unser Autor Wodka-O, um dazuzugehören. Beim ersten Abi-Treffen nach zehn Jahren fragt er sich nun: Warum wollte ich das noch mal?

Foto: Erli Grünzweil

Die Abiturprüfung ist der einfachste Test der Oberstufe. Schwieriger ist das Labyrinth voller sozialer Stolperfallen, durch das man davor irrt, gefährlicher als ein Biotop in der Wildnis und hierarchischer als das indische Kasten­system. Wer sich danach wirklich wiedersehen will, ist Gaffer oder Masochist. Daher klopfte ein kleiner Nervenzusammenbruch an, als die Nachricht kam: zehn Jahre Abi-Treffen.

Immerhin ein besonderes Jubiläum. Nach fünf Jahren hat man noch nichts erreicht, nach zwanzig sind die Karten schon verteilt. Danach geht es nur um Zweit-Ehen, Kartoffelsalat, Stau am Brenner und das Warten auf das Ende. Aber zehn Jahre nachdem der Startschuss fiel, schaut man zum ersten Mal nach rechts und links: Wer sprintet? Wer stolpert? Wer hat das Rennen ganz geschmissen und sich Eis schleckend an die Seitenlinie gestellt?

Also kehre ich für einen Abend zurück ins Jahr 2013. Ich habe die Leute aus meinem Jahrgang nur als 18-, 19-, 20-Jährige im Kopf. Gerade volljährig, fährt man mit dem Polo an die Tanke, kauft ’ne Pulle Wodka, einfach weil man’s jetzt kann, mischt den Wodka mit Orangensaft aus Tetra Paks zu Wodka-O und malträtiert den Leib, bis man morgens nach Hause torkelt, der Wagen bleibt stehen, klaut ja keiner uff’m Dorf. Ich wollte früher unbedingt dazugehören, allein um nicht noch mehr aufzufallen als ohnehin schon. Fragte jemand, wer eine Silvesterparty schmeißt, hob ich die Hand. Verlangte jemand, dass alle Schnaps tranken, schenkte ich nach. Und brüllte jemand »Auf den Chinesen!«, prostete ich zu. Es hat zu lange gedauert, bis ich realisierte, wie demütigend das ist.

Meistgelesen diese Woche:

Die Getränkekarte heute: Aperol, Wein, Bier im Glas, alles sehr gediegen, kein Wodka, kein O.

1 hat seine Freundin mitgebracht, unklar, ob als mentale Krücke oder um einfach alle zu verwirren. Letzteres klappt oft.

2 schaut jeden, der weggezogen ist, wehmütig an und sagt: »Puuuh, du hast es rausgeschafft«, nur um dann sehr lange vom renovierten Eigenheim zu erzählen.

3, die früher jede Diskussion mit dem Satz »Das ist MEINE MEINUNG« im Keim erstickte, beendet heute nach ihrem Auslandssemester ihre Plädoyers mit »Aber WHO AM I to judge?«.

4 platzt in Gespräche und erzählt dann jedem, dass er nach dem Abi erst mal mit dem Rad durch Südostasien gereist ist, einfach mal raus, bevor es richtig losgeht, das war richtig geil, sagt er, die Thais haben eine ganz andere Lebenseinstellung als wir, na ja, und jetzt bin ich in Berlin und – Na, Bruder, was geht? Wir quatschen später, ja? Alles klar, Bruder – so, sorry, also jetzt bin ich in Berlin und … aber na ja, das können wir ja später vertiefen.

5 antwortet auf Lebensneuigkeiten mit »Ach ja, das hab ich schon auf Facebook gesehen!« und schreibt jedem, der so blöd ist, immer noch im Schlund dieser Datenfressmaschine zu verweilen, zum Geburtstag auf die Pinnwand »Alles Gute! LG«.

Und 6, der früher allen gefallen wollte, zählt nun Anekdoten auf, um zu zeigen, dass er jetzt ganz anders ist, dass er es geschafft hat. Bloß nicht dieser Ausländer sein, der gegen die Almans nicht anstinken kann.

»Hey, China!« Es kommt so beiläufig, dass ich es fast nicht mitbekomme. Neben mir ein bekanntes Gesicht, der Name will mir nicht einfallen. Wir haben auf Partys oft Tequila getrunken. Ich lächle, grüße, fühle mich ertappt. Ein Teil von mir ist immer noch dieser eingeschüchterte Ausländer. Dieser Moment zeigt, dass ich immer noch nicht ganz dazugehöre, nie dazugehören werde, egal wie hart ich arbeite. Dass ich anders bin als er. Aber auch, dass das gut ist. Warum wollte ich da ­unbedingt dazugehören? Also danke für diese Lehre, namenloser Junge. Ich trinke auf dich.