Acht Kilometer vor der Seward-Halbinsel von Alaska liegt Shishmaref. Das Dorf existiert seit Jahrhunderten, heute leben dort 591 Menschen. Die Männer fahren seit je mit Hundeschlitten, in letzter Zeit auch mit Motorschlitten, über das vereiste Meer und jagen Robben. Die Frauen häuten und pökeln dann die erlegten Tiere. Anfang der neunziger Jahre bemerkten die Jäger, dass die See immer später fror und das Eis im Frühjahr eher zu tauen begann. Während man früher dreißig Kilometer hinausfahren konnte, war das Eis nun schon auf halber Strecke matschig. Weil es mit Motorschlitten zu gefährlich wurde, gingen die Männer nun mit Motorbooten auf die Jagd. Noch etwas hatte sich geändert: Shishmaref liegt an der höchsten Stelle nur sieben Meter über dem Meer, die Häuser sind klein, kompakt und nicht besonders robust. Weil das Meer nun später fror, war Shishmaref weniger geschützt vor Sturmfluten. Im Oktober 1997 wurde ein vierzig Meter breiter Streifen am Nordrand der Ortschaft weggerissen, einige Häuser zerstört. Im Oktober 2001 bedrohten vier Meter hohe Wellen den ganzen Ort. Im Sommer 2002 beschlossen die Einwohner, aufs Festland umzuziehen. Im letzten Jahr wurde eine Studie über mögliche neue Ansiedlungsorte erarbeitet. Der Umzug der kleinen Ortschaft wird vermutlich mindestens 180 Millionen Dollar kosten. Fast alle großen Gletscher der Welt schrumpfen. Die Ozeane erwärmen sich. Der Unterschied zwischen Tag- und Nachttemperaturen sinkt, Tiere ziehen sich in den Norden zurück, Pflanzen blühen immer früher. Am dramatischsten zeigen sich diese Veränderungen in den am dünnsten besiedelten Regionen der Erde, etwa in Shishmaref. Wie hart die globale Erwärmung den hohen Norden treffen würde, sagten bereits die frühen Klimamodelle voraus. Aber heute kann man die Erwärmung messen und mit bloßem Auge beobachten: Die Arktis schmilzt. Der größte Teil der arktischen Landfläche – und fast ein Viertel der nördlichen Erdhalbkugel – liegt in Permafrostzonen. Einige Monate nach meinem Besuch in Shishmaref fuhr ich mit Vladimir Romanovsky, einem Geophysiker und Permafrostexperten an der University of Alaska, durch das Landesinnere. Bei meiner Ankunft in Fairbanks, wo Romanovsky lebt, war die ganze Stadt eingehüllt in einen dichten Dunst, der nach brennendem Gummi roch. Die Leute meinten, ich könne von Glück reden, dass ich erst jetzt gekommen sei, zwei Wochen zuvor sei es viel schlimmer gewesen. »Selbst die Hunde trugen Atemmasken«, erzählte mir eine Frau. Ich muss wohl gelächelt haben. Jedenfalls sagte die Frau: »Ich mache keine Witze.« Fairbanks, die zweitgrößte Stadt Alaskas, ist von Wald umgeben. Praktisch jeden Sommer kommt es nach Blitzeinschlägen zu Waldbränden. Vergangenes Jahr fingen die Brände schon früh an, im Juni. Zweieinhalb Monate später brannte es immer noch. Ende August, zur Zeit meines Besuchs, waren 2,5 Millionen Hektar vernichtet – ein Rekord. Der Zusammenhang zwischen der verheerenden Wirkung der Flammen und dem Wetter war eindeutig. Es war ein ungewöhnlich heißer und trockener Sommer, die Durchschnittstemperatur in Fairbanks hatte Rekordmarken erreicht. Außerdem hatte es seit Beginn der Aufzeichnungen nur zweimal weniger geregnet als in diesem Sommer. Am nächsten Tag holte mich Romanovsky zu einer Stadtrundfahrt ab. Er kommt, wie die meisten Permafrostexperten, aus Russland. Die Sowjets sind gewissermaßen Erfinder der Permafrostforschung, nachdem sie beschlossen hatten, ihre Gulags in Sibirien zu errichten. Permafrost ist laut Definition jeder Boden, der mindestens über die letzten zwei Jahre gefroren war. In Ostsibirien reicht der Permafrost fast bis in 1500 Meter, in Alaska bis in mehrere hundert Meter Tiefe. Fairbanks liegt in einer Region von so genanntem diskontinuierlichen Permafrost. Das heißt, der Boden ist in der Stadt nicht überall, sondern an einzelnen Stellen gefroren. Einer der ersten Haltepunkte unserer Tour war ein etwa zwei Meter breites und anderthalb Meter tiefes Loch, das sich in einem Stück Permafrost unweit von Romanovskys Wohnung gebildet hatte. In der Nähe zeichneten sich noch größere Löcher ab, die das Straßenbauamt mit Kies gefüllt hatte. Diese Löcher, so genannte Thermokarste, waren plötzlich entstanden, als der Permafrost wie eine morsche Diele einsackte. Auf der anderen Seite der Straße zog sich ein langer Graben hin. Er sei aufgebrochen, als ein Stück vereister Untergrund taute, erklärte Romanovsky. Die Fichten, die neben dem Graben wurzelten, standen nun schräg in der Landschaft, wie vom Sturm gebeugt. Die Bewohner der Region nennen solche Bäume »betrunken«.
Anschließend zeigte mir Romanovsky ein leer stehendes Haus, das in zwei Teile gespalten war. Der größere Teil neigte sich nach rechts, die Garage nach links. Das Haus war in den Sechzigern oder frühen Siebzigern gebaut worden. Vor zehn Jahren begann der Permafrost, auf dem es stand, zu tauen. Romanovskys Schwiegermutter gehörten einst zwei Häuser im selben Viertel. Auf sein Drängen hat sie beide verkauft. »Vor zehn Jahren interessierte sich kein Mensch für Permafrost«, sagte er. »Jetzt wollen auf einmal alle Bescheid wissen.« Die Messungen von Romanovsky und seinen Kollegen der University of Alaska in der Umgebung von Fairbanks zeigen: Die Bodentemperatur ist bereits so weit angestiegen, dass sie mancherorts nur noch ein Grad unter dem Gefrierpunkt liegt. Wo der Perma-frost angegriffen wurde, durch Straßen, Häuser oder Grünflächen, ist der Boden schon weit gehend aufgetaut. Das Alter des Perma-frosts lässt sich schwer bestimmen. Romanovsky schätzt, dass der größte Teil der Permafrostböden in Alaska während der letzten Vergletscherungsperiode entstand. Das heißt: Wenn der Boden nun taut, geschieht das zum ersten Mal seit mehr als 120000 Jahren. »Wir leben in einer hochinteressanten Zeit«, sagte Romanovsky. Am nächsten Morgen brachen wir zum 700 Kilometer nördlich gelegenen Ort Deadhorse in der Prudhoe Bay auf, um dort Daten von Messstationen abzulesen, die Romanovsky dort aufgebaut hatte. Die Straße war für den Öltransport in Alaska gebaut worden. Die Pipeline verlief parallel zur Straße auf Stützpfeilern, wegen des Permafrosts. Am späten Nachmittag erreichten wir die erste Station. In dem weißen Container standen auch zwei Monitore. An einen schloss Romanovsky seinen Laptop an. Aus dem gleichen Grund, weshalb es in einem Bergwerk heiß ist – wegen der Hitze, die vom Erdmittelpunkt aufsteigt –, wird Permafrost mit zunehmender Tiefe immer wärmer. Bei stabilen klimatischen Verhältnissen misst man die höchsten Temperaturen auf dem Grund eines Bohrlochs. Je höher man steigt, desto kälter wird es. Am niedrigsten sind die Temperaturen dann an der Permafrostoberfläche. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Temperaturprofil in Alaska jedoch verändert: Die wärmste Stelle im Permafrost ist noch immer ganz unten, aber am kältesten ist er nun irgendwo in der Mitte. Zur Oberfläche hin wird der Permafrost wieder wärmer. Das spricht eindeutig für eine Erwärmung des Klimas. »Die Lufttemperaturen schwanken stark und taugen deshalb nicht zur Beobachtung von Trends«, erklärte Romanovsky. »In einem Jahr hat man in Fairbanks ein Jahresmittel von null Grad. Dann sagen die Leute: ›Aha, es wird wärmer‹. Im nächsten Jahr hat man ein Jahresmittel von minus sechs Grad und alle sagen: ›Wo ist denn nun die globale Erwärmung?‹ Verglichen mit Geräuschen, sind die Signale in der Atmosphäre sehr gering. Permafrost wirkt wie ein Filter. Darum können wir die Trends sehr viel leichter an den Temperaturen des Permafrosts beobachten.« In den meisten Gegenden Alaskas hat sich der Permafrost seit den frühen achtziger Jahren um drei Grad erwärmt, in manchen Landesteilen sogar um fast sechs Grad.
Wenn man in der Arktis herumläuft, bewegt man sich meist nicht auf Permafrost, sondern auf der so genannten tauaktiven Schicht. Die Tiefe dieser Schicht variiert zwischen ein paar Zentimetern und einem Meter, sie gefriert im Winter und taut im Sommer auf. Sie ist der Untergrund, der das Wachstum von Pflanzen ermöglicht. Das Leben in dieser Schicht entwickelt sich ähnlich wie in den gemäßigten Zonen. Mit einem entscheidenden Unterschied: Die Temperaturen sind so niedrig, dass abgestorbene Bäume und Gräser nicht vollständig verrotten. Aus den halb verrotteten alten Pflanzen entstehen neue, und wenn sie absterben, beginnt der Kreislauf von vorn. Die organische Materie aus der tauaktiven Schicht sinkt in den Permafrostboden, wo sie Tausende von Jahren in einer Art botanischem Koma aufbewahrt wird. Permafrost funktioniert auf diese Weise als Lagerstätte für Kohlenstoff. Wenn die Temperaturen steigen, besteht die Gefahr, dass sich dieser Lagerungsprozess umkehrt. Seit Jahrtausenden tiefgefrorene organische Materie könnte zerfallen und Kohlendioxid freisetzen – oder das noch gefährlichere Treibhausgas Methan. In Teilen der Arktis läuft dieser Prozess bereits ab. Niemand weiß genau, wie viel Kohlenstoff im weltweiten Permafrost lagert, geschätzt wird die gesamte Menge auf 450 Milliarden Tonnen. »Das ist wie eine Fertigmischung – es braucht nur etwas Wärme, dann fängt das Zeug an zu kochen«, sagte Romanovsky. »Es ist eine Zeitbombe, die nur auf etwas mehr Wärme wartet.« Am 18. September 1997 verließ die Des Groseilliers, ein 106 Meter langer, leuchtend rot gestrichener Eisbrecher, den Hafen von Tuktoyaktuk an der Beaufortsee. Das Schiff wird normalerweise von der kanadischen Küstenwache benutzt, doch diesmal war eine Gruppe amerikanischer Geophysiker an Bord. Sie planten das Schiff in eine Eisscholle zu rammen, um anschließend eine Reihe von Experimenten durchzuführen, während die Eisscholle samt dem Schiff durch das Arktische Meer treibt. Jahrelang hatten sich die Wissenschaftler vorbereitet und natürlich auch die Ergebnisse einer früheren Arktis-Expedition im Jahr 1975 studiert. So wie damals suchten die Forscher eine Eisscholle von durchschnittlich drei Meter Dicke. Doch als sie in ihr Zielgebiet kamen, stellte sich heraus, dass es keine drei Meter dicken und auch kaum noch zwei Meter dicke Eisschollen gab. Sie beschlossen also, die beste Eisscholle zu nehmen, die sie finden konnten, und entschieden sich für eine, die 45 Quadratkilometer groß und an manchen Stellen zwei Meter, an anderen nur einen Meter dick war. Auf dem Eis errichteten sie Zelte für ihre Messinstrumente. Außerdem wurde aus Sicherheitsgründen eine Vorschrift erlassen: Wer auf das Eis wollte, musste eine zweite Person sowie ein Funkgerät mitnehmen. Zwölf Monate saß die Des Groseilliers im Eis fest und trieb in dieser Zeit etwa fünfhundert Kilometer nordwärts. Trotzdem war nach Ablauf des Jahres das Eis im Durchschnitt weniger dick, mancherorts um ein Drittel. Im August 1998 waren so viele Forscher eingebrochen, dass eine weitere Vorschrift nötig wurde: Das Verlassen des Schiffs war nur noch mit angelegter Schwimmweste erlaubt. Donald Perovich erforscht seit dreißig Jahren das Meereis. Ich besuchte ihn in seinem Büro in Hanover in New Hampshire. Perovich arbeitet im Cold Regions Research and Engineering Laboratory (CRREL), einem Forschungsinstitut der US-Army. Es wurde 1961 gegründet, in Erwartung eines kalten Krieges. Man rechnete damit, dass die Sowjets über den Norden einfallen würden. Fotos von der Des Groseilliers-Expedition, an der Perovich als leitender Wissenschaftler teilnahm, schmücken heute sein Arbeitszimmer. Bei dieser Expedition studierte er mit einem Spektroradiometer die Verhältnisse auf der Eisscholle. Das Instrument misst den Lichteinfall, wenn man es in die Sonne hält, und die Lichtreflexion von der Erde, wenn man es auf den Boden richtet. Das eine dividiert durch das andere ergibt einen Faktor: den Albedo. Eine ideale weiße Fläche, die alles Licht reflektiert, hätte einen Albedo von eins, eine ideale schwarze Fläche, die alles Licht absorbiert, dagegen einen Albedo von null. Der Albedo auf der Erde liegt bei 0,3. Das bedeutet: Knapp ein Drittel des Sonnenlichts wird reflektiert.
Perovich bat mich, mir vorzustellen, wir würden von einem Raumschiff aus, das sich über dem Nordpol aufhält, auf die Erde blicken. »Es ist Frühling, das Eis ist schneebedeckt und strahlend weiß. Die Schneedecke reflektiert mehr als achtzig Prozent des einfallenden Sonnenlichts. Der Albedo liegt zwischen 0,8 und 0,9. Und jetzt stellen wir uns vor, das Eis schmilzt weg und es bleibt nur noch der Ozean. Der Albedo des Ozeans liegt unter 0,1. Der Albedo einer schneebedeckten Eisfläche ist hoch, der höchste Wert, den es auf der Erde überhaupt gibt. Und der Albedo von Meerwasser ist niedrig, der niedrigste Wert, den es auf der Erde überhaupt gibt. Statt des besten Lichtreflektors haben wir nun also den schlechtesten.« Je mehr eisfreies Wasser, desto mehr Sonnenenergie fließt in die Erwärmung des Ozeans. Das führt zu einem deutlichen Rückkopplungseffekt. Experten sehen ihn als Hauptgrund für die rasche Erwärmung der Arktis an. Das Eis der Antarktis enthält Spuren der Atmosphäre aus einer Zeit, die mehr als vier Vergletscherungsperioden zurückliegt – winzige Bläschen, die winzige Mengen Luft einschließen. Es zeigt auch, dass die Kohlendioxidkonzentration heute signifikant höher ist als zu irgendeiner Zeit in den letzten 420000 Jahren. Perovich stellte mich seinem Kollegen John Weatherly vor, mit dem er in den letzten Jahren daran gearbeitet hat, die während der Des Groseilliers-Expedition gesammelten Daten in Computer-Algorithmen zu übertragen, wie sie für Klimaprognosen verwendet werden. Weatherly bemerkte, einige Klimamodelle – weltweit gibt es etwa 15 große Modelle – sagten voraus, bis 2080 werde das ewige Eis in der Arktis vollständig verschwunden sein. Im Winter werde sich zwar weiterhin Eis bilden, doch im Sommer bleibe das Nordpolarmeer völlig eisfrei. »Wir werden das nicht mehr erleben«, sagte Weatherly, »aber unsere Kinder.« Später sprach ich mit Perovich über die langfristigen Aussichten für die Arktis. Er unterstrich, das Klimasystem der Erde sei so gewaltig, dass es sich nicht so leicht ändere. »Einerseits denkt man deshalb, es ist robust. Es muss ja auch robust sein, sonst würde es sich die ganze Zeit ändern.« Andererseits bewiesen Klimaaufzeichnungen, dass die Annahme falsch ist, eine Veränderung, wenn sie denn eintritt, würde sich ganz allmählich vollziehen. Perovich zitierte einen Vergleich, den er von einem befreundeten Gletscherforscher gehört hatte. Der hatte das Klimasystem mit einem Ruderboot verglichen: »Man kann es einmal ins Schaukeln bringen und es pendelt sich wieder ein. Und auch beim zweiten Mal pendelt es sich wieder ein, aber irgendwann kippt es um in seinen zweiten stabilen Zustand – mit dem Kiel nach oben.«