Als das französische Magazin Le Tigre vor einigen Monaten ein sogenanntes Google-Porträt veröffentlichte, die detaillierte, unverhüllte Lebensgeschichte eines Menschen, die nur aus dessen Spuren im Internet zusammengesetzt war, reagierte der Porträtierte geschockt. In Zeitungsinterviews bekannte der junge Architekt aus Bordeaux, nach Veröffentlichung des Artikels kaum mehr schlafen zu können, und kündigte einen Prozess gegen das Magazin wegen Verletzung der Privatsphäre an.
Dieses Ansinnen musste der Architekt, ein besonders aktiver Nutzer des Web 2.0 (er hatte über die Jahre allein 17 000 Fotos auf die Datenbank Flickr gestellt), schon bald wieder verwerfen; es war sofort klar, dass es keine juristische Grundlage für seine Klage geben würde. Der Streit um den Artikel wurde in den Medien Anfang des Jahres weltweit gemeldet, erzählte dieses »Google-Porträt« doch eine faszinierende Geschichte: Vielleicht zum ersten Mal hatte jemand die Probe aufs Exempel gemacht und die Informationen, die jeder Nutzer freiwillig oder unfreiwillig im Internet hinterlässt, vor allem in den sozialen Netzwerken, zu einer intimen Biografie verdichtet.
Das Porträt in Le Tigre machte für einen Moment die Kehrseite jener längst selbstverständlichen Praxis sichtbar, im Netz ein möglichst umfassendes Bild von sich selbst herzustellen. Welche Medien, welche Orte hat es noch vor zehn, zwanzig Jahren gegeben, das eigene Leben in der Öffentlichkeit zu präsentieren? Das Poesiealbum? Das Schwarze Brett an der Schule? Heute dagegen sind die Techniken, andere an der eigenen Existenz teilhaben zu lassen, allgegenwärtig – nicht nur in den sozialen Netzwerken wie Facebook, My Space, StudiVZ oder Xing, sondern neuerdings auch per Handyortung.
Die »Loopt«-Funktion des iPhone oder das »Latitude Tool« des Google-Handys ermöglichen es, andere Personen nach deren Einverständnis in Echtzeit zu lokalisieren – »eine unterhaltsame Art, sich denen, um die man sich sorgt, nahe zu fühlen«, wie es etwa im Firmenblog von Google heißt. Noch vor fünf Jahren war die satellitengesteuerte Ortung per GPS vor allem eine umstrittene kriminalistische Technologie.
Ende 2004 musste das Bundesverfassungsgericht nach der Klage eines verurteilten Terroristen darüber entscheiden, ob die Polizei Handys und Autos per GPS überwachen darf; im Rahmen des Verfahrens sagte ein Mitarbeiter des Bundeskriminalamts damals, die Technik würde ohnehin nur in besonderen Fällen, allenfalls bei zehn Personen im Jahr, für die Fahndung eingesetzt. Und genau in dieser Verschiebung liegt vielleicht das Bemerkenswerteste an Einrichtungen wie Facebook oder Google Latitude: dass Formen der Wissensproduktion, die lange nur als Polizei- und Fahndungstechniken eine Rolle spielten, seit ganz kurzer Zeit vorwiegend im Namen der »Freundschaft« und »Kommunikation« Anwendung finden.
Wenn man vor wenigen Jahren davon sprach, das »Profil« eines Menschen zu erstellen, war damit zumeist das psychiatrische Gutachten eines Serienmörders gemeint. Und auch der private, spielerische Gebrauch der Ortungstechnik stand überhaupt nicht zur Debatte: Heute dagegen lokalisiert man einen alten Bekannten per GPS in der Nähe des Büros, um sich zum Mittagessen zu verabreden, und abends beim Joggen legt man den »Sensor Chip« von Nike in den Schuh, eine Art elektronische Fußfessel des Web 2.0., um später auf der Website des Unternehmens die eigene Laufleistung mit der der anderen Mitglieder zu vergleichen.
Eine erstaunliche Umwandlung: Mehr als zweihundert Jahre lang ist es immer das kriminalistische, medizinische oder psychiatrische Interesse an abweichenden Biografien gewesen, das die wichtigste Triebfeder des Wissens über den Menschen und seine Individualität ausgemacht hat. Nun scheint die Feier der »Freundschaft«, der »Community« diese Funktion übernommen zu haben.
Die öffentliche Darstellung der eigenen Biografie rückte vermutlich zum ersten Mal in den späten Achtzigerjahren in den Blickpunkt, mit der zunehmenden Bedeutung des »Lebenslaufs«. Damals hörte man von Schul- und Studienfreunden immer häufiger, dass ein bestimmter Kurs »lebenslaufrelevant« sei oder eine Auslandsreise vor allem auch »für den Lebenslauf« unternommen werde.
Zur gleichen Zeit tauchten in den Schreibwarenläden und Kaufhäusern die ersten Exponate einer neuen Bewerbungskultur auf, eine Fülle von Mappen, Ordnern, Ratgebern und Computerprogrammen, die eigens für Kandidaten auf Stellensuche produziert wurden und eine vollendete Bewerbung versprachen, deren Brillanz sich kein Personalchef entziehen könnte. In der Fetischisierung des Lebenslaufs lässt sich rückblickend vielleicht die erste Spur jenes Selbstdesigns erkennen, wie es in den sozialen Netzwerken heute notwendig und allgegenwärtig ist.
Eine spröde Auflistung von Lebensdaten verwandelte sich innerhalb kurzer Zeit zum Schaubild der eigenen Biografie, inklusive Mannschaftssport-Erfahrung und politischem Engagement. Forciert wurde diese Entwicklung von den Vorgaben der Arbeitgeber, die, wie es Unternehmensberatungen und Elite-Akademien bis heute ausrufen, nicht mehr in erster Linie an tadellosen Noten interessiert sind, sondern an »soft skills« und »spannenden Persönlichkeiten«.
Worum es bei den Präsentationstechniken des eigenen Selbst geht, ist vor allem eines: die Verknüpfung eines sozialen mit einem ökonomischen Interesse. Der Anspruch, ein kosmopolitisches und gesellschaftlich integriertes Leben zu führen, hat sich unauflöslich mit der Hoffnung verschränkt, dass sich dies eines Tages auf dem Arbeitsmarkt auszahlen und der Karriere förderlich sein würde.
Das Berufsleben ist – und das eint Regierungsprojekte wie die »Ich-AG« und scheinbar dissidente Lebenskonzepte wie die »digitale Boheme« – nicht mehr einfach ein biografischer Strang neben anderen, sondern soll die gesamte Existenz umspannen. Arbeit und Freizeit, berufliche und persönliche Kontakte sind eins, angetrieben von demselben Talent zum »Networking«.
Wenn man eine Linie zieht von den ersten LebenslaufProfis vor zwanzig Jahren zu den heutigen Selbstmanagern im Netz, dann muss man diesen Zusammenhang immer in Erinnerung behalten: dass die verheißungsvollen, freien Web-2.0-Kategorien wie »Kommunikation«, »Austausch« oder das von den Facebook-Betreibern mantrahaft wiederholte »Sharing« ihrem Ursprung nach einer ökonomischen Logik gehorchen. Kommunizieren heißt: im Modus des Privaten geschäftliche Verbindungen knüpfen.
In erstaunlicher Geschwindigkeit und Konsequenz ist durch diese Umwandlungen ein neues Menschenbild entstanden. Man kann es am deutlichsten daran erkennen, wie sich die allgemeine Haltung zu Fragen der Erfassung gewandelt hat, der Produktion von Wissen über das eigene Leben. Die letzte Volkszählung in Deutschland im Jahr 1987 wurde von einer der größten Protestbewegungen der Achtzigerjahre begleitet.
Monatelange Debatten gingen der Zählung voraus, die, wie es etwa die Grünen in ihren Boykottaufrufen formulierten, »allein zur Unterdrückung und Ausbeutung« dienen sollte. Der Akt der Erfassung barg in den Achtzigerjahren enormes Erregungspotenzial, was sich auch daran zeigte, dass diese Volkszählung eigentlich schon vier Jahre früher stattfinden sollte, nach einer Verfassungsbeschwerde aber ausgesetzt wurde. Erst die Verabschiedung verschiedener Gesetze zur »informationellen Selbstbestimmung« schuf die Voraussetzung, dass die Volkszählung schließlich durchgeführt werden konnte.
Wer sich heute den schmalen Erfassungsbogen ansieht, mit den insgesamt rund 30 Fragen zu Person und Haushalt, ist von der Zurückhaltung und Diskretion der Datenerhebung überrascht. Und für einen 22-jährigen Social-Network-Nutzer des Jahres 2009 müssen die aufgebrachten Demonstrationen und Podiumsreden aus seinem Geburtsjahr vollends wie Zeugnisse einer rätselhaften Massenhysterie wirken. Die Datenerhebung einer Volkszählung ist heute kein nennenswertes Ereignis mehr, und konsequenterweise wurde der EU-Beschluss, 2011 eine neue, europaweite Zählung durchzuführen, vor knapp drei Jahren auch in aller Stille getroffen.
Stellt man die Protestbewegung von 1987 neben die Millionen deutscher StudiVZ- oder Flickr-User in Deutschland, fällt vor allem auch die erstaunliche Befreiung von kollektiven Ängsten auf. Im Vergleich zu den Achtzigerjahren, in denen die Reden vom »Überwachungsstaat« allgegenwärtig waren, leben wir in einer auffällig paranoialosen Zeit. Die Menschen sind vielleicht gläsern geworden, aber das in aller Freiwilligkeit und Souveränität.
»Big Brother is watching you« – ja, gerne, wo sind die Kameras? Im Jahr 2000, 13 Jahre nach der Volkszählung, lief bekanntlich die erste Staffel jener Fernsehshow, die anfangs noch für kulturkritische Auseinandersetzungen sorgte, nun aber seit vielen Jahren zum Inventar der Fernsehwelt gehört. Ebenso wie der Begriff der »Erfassung« ist also auch der der »Überwachung« einer grundlegenden Neucodierung unterzogen worden: »Big Brother« zerstört Individualität nicht mehr, sondern bringt sie hervor.
Aufschlussreich an all diesen Umstellungen ist jedoch, dass die alte Rede vom »Datenschutz« keineswegs verstummt. Im Gegenteil: In einem Zeitungsinterview mit Spiros Simitis, dem ersten Datenschutzbeauftragten in Deutschland, fiel angesichts der Überwachungsskandale bei der Telekom und der Deutschen Bahn kürzlich sogar der Satz: »Der Datenschutz ist so gut im Geschäft wie seit 25 Jahren nicht mehr.«
Dennoch wirkt dieser Befund im Zeitalter von Facebook und Google Latitude beinahe anachronistisch. Es scheint, als würden derzeit ein vierzig Jahre alter politischer Diskurs und eine fünf Jahre alte Medienpraxis unabhängig voneinander existieren, in zwei Parallelwelten, obwohl die eine die andere Tag für Tag obsoleter macht; die Datenaskese der Bürgerrechtler wird vom Datenhedonismus der Nutzer sozialer Netzwerke und Tracking-Dienste weggespült.
Orientiert sich das Konzept des Datenschutzes nicht tatsächlich an einem Menschenbild, das spätestens seit dem Siegeszug des Web 2.0 an Relevanz verloren hat? Und genauso überkommen wirkt der zugrunde liegende Machtbegriff, weil die Datenschützer weiterhin eine übergeordnete Instanz annehmen, die ihre Untergebenen überwacht, bespitzelt, aushorcht – den »Staat« oder den »Konzernchef«. Für die Arbeitsweise eines Unternehmens mag diese Diagnose vielleicht noch zutreffen und die »Quelle« des Datenmissbrauchs lokalisiert werden. In jenen Communitys aber, die von Abermillionen Nutzern mit persönlichen Texten, Bildern und Videos versorgt werden, kommt man mit diesen Kategorien nicht mehr weit.
Was soll der Kampf gegen den Zugriff auf private Informationen bewirken, wenn die Profile in den sozialen Netzwerken alles preisgeben – und das im klaren Bewusstsein der User, dass ihre Daten jederzeit einsehbar sind und an Dritte vermittelt werden? Das »Beacon Advertising Program« auf Facebook etwa macht Unternehmen die Vorlieben der Nutzer zugänglich und sorgt für maßgeschneiderte Werbung auf jeder einzelnen Profilseite. Zudem ist bekannt, dass Personalabteilungen großer Unternehmen das Internet mittlerweile für die Überprüfung von Bewerbern nutzen. Die klassische Rede des Datenschutzes dagegen wirkt heute wie eine komplexe, funktionslos gewordene Maschine, die schon abgestellt worden ist, aber noch eine Zeit lang ausläuft.
Wenn man die Achtzigerjahre als Dekade der Paranoia bezeichnen kann, ist das nun zu Ende gehende Jahrzehnt von dieser Angststörung weitgehend unberührt. Es hat jedoch eine neue entwickelt. Mit Kategorien wie »Erfassung« und »Überwachung« mag bei den unter Dreißigjährigen heute spielerisch und selbstbewusst umgegangen werden; was dagegen allgegenwärtig ist, wenn man in die Kollegstufen und Universitäten schaut, in die Praktikantenzimmer der Agenturen oder Redaktionen, ist ein Unbehagen, das man vielleicht als »Biografieangst« bezeichnen könnte.
Bin ich gut genug? Führe ich ein ebenso interessantes und erfolgreiches Leben wie die anderen? Zweifellos gibt es faktische, mit der Wirtschaftslage und der Arbeitsmarktsituation zusammenhängende Erklärungen für diese Unsicherheiten. Einen beträchtlichen Anteil hat aber womöglich auch jene Erziehung zum fortwährenden Selbstdesign, die mit dem Fetisch des Lebenslaufs begann und in den sozialen Netzwerken maßgeblicher Bestandteil des Alltags geworden ist.
Von Zeit zu Zeit erlangen Schüler oder Studenten traurigen Ruhm, die sich diesen Zusammenhängen mit größtmöglicher Radikalität entziehen, in Erfurt, Winnenden und anderswo. In den Berichten über die Amokläufe steht dann immer mit seltsamer Verlässlichkeit, der Täter sei »besonders unauffällig« gewesen. Es scheinen also gerade die Verlierer des Aufmerksamkeitsspiels zu sein, die plötzlich mit aller Wucht ausbrechen, so als wollten sie an einem Vormittag wettmachen, was sie jahrelang an Selbststilisierung versäumt haben.
In den Wochen nach einer solchen Tat wird pausenlos über den Allgemeinzustand der Gesellschaft diskutiert, viel grundlegender, als es nach der blutigsten Familientragödie der Fall wäre. Denn die Amokläufe an Schulen scheinen, mehr als alle anderen Verbrechen, eine Aussage zu treffen über die Gegenwart. Als würde sich in ihnen für einen Moment jener Wettbewerbscharakter des Lebens entladen, der unsere Zeit vielleicht stärker prägt als alles andere.