Anmerkung: Die Videos aus der Edition 46 des SZ-Magazins waren nach Erscheinen des Hefts vier Wochen lang an dieser Stelle zu sehen. Inzwischen sind sie nicht mehr online verfügbar. Wir bitten um Verständnis.
1 ROOM 309, 3 min 15 sec SUE DE BEER, 39, New York
»Die Welt ist eine Folge von Räumen, Tagen, Menschen«
In einem Hotelzimmer verdichtet sich unser Leben zur Momentaufnahme. Oft bleiben wir nur eine Nacht. Wenn es hell wird, stehen wir auf, öffnen die Vorhänge, holen unsere Sachen aus dem Badezimmer. Wir stopfen Klamotten in Koffer, ziehen Reißverschlüsse zu und werfen die Zeitung weg, die auf dem Tisch lag. Bis vor wenigen Stunden aber haben wir hier getrunken, geküsst, nach dem anderen verlangt. In Room 309 zeigt Sue de Beer Bilder einer Affäre. In Erinnerungsfetzen ziehen sie vorbei, mal schwarz-weiß, dann wieder in Farbe: Das Leben einer Nacht, ein paar Stunden nur, die mit dem Klicken des Türschlosses unwiederbringlich vorbei sind.
2 GREATEST SHOW ON EARTH, 10 min 14 sec, SVEN JOHNE, 36, Berlin
»… und dann, meine sehr verehrten Damen und Herren, freuen Sie sich mit mir auf die zauberhafte Mademoiselle Cécile Joliesse. Sie trägt heute abend ihr wohl schöns-tes Kleid: Dupionseide, sehr kurz, sehr knapp. Cécile ist erst 17 Jahre alt. Das Reiten ist ihre Leidenschaft …«
In Greatest Show on Earth zeigt der Künstler Sven Johne einen halbseidenen Ansager im Rampenlicht einer leeren Bühne. Gleich soll sie beginnen Die größte Show auf Erden. Aber wo ist das Publikum? Zu wem spricht er? Und hört er jemals wieder auf damit? Johne pervertiert das Prinzip »Zirkus«, er kritisiert das »Höher, Schneller, Weiter«, die Ausbeutung von Mensch, Tier und Material.
3 STRINGS OF AFFECTION, 9 min 43 sec, EMMANUELLE ANTILLE, 40, Lausanne
SZ-Magazin: Die Frau in Ihrem Film wirkt traurig. Wer ist sie?
Emmanuelle Antille: Sie wirkt gar nicht traurig, finde ich. Und es ist meine Mutter, aber das spielt keine Rolle. Ich drehe mit ihr, weil sie sich ganz natürlich vor der Kamera bewegt. Sie schauspielert nicht. Die Szenen sollen dokumentarischen Charakter haben, ich drehe oft mit meiner Familie.
Warum spannt sie Fäden durch die Wohnung?
Sie spannt Fäden wie Gedanken. Sie kreiert einen mentalen Raum und macht dadurch ihre Beziehungen zur Umwelt sichtbar. Sie ist dabei ganz frei. Gleichzeitig wird sie, gerade weil sie ihren Gedanken Raum gibt, auch durch sie beschränkt. Frei und nicht frei, abhängig und unabhängig, um dieses Paradox geht es mir. Und um eine weibliche Innensicht. Die sieht man selten. Meistens werden Frauen aus einer männlichen Perspektive dargestellt.
Und was bedeutet die Winterlandschaft, die zwischendurch zu sehen ist?
Das ist die reale Außenwelt, im Gegensatz zur gedanklichen in der Wohnung. Mich interessiert die Grenze zwischen Realität und Fiktion. Was ist normal? Was verrückt? Und ab wann beginnt uns etwas zu stören? 4 FOREVER CAN BEGIN, 2 min 21 sec, ZILLA LEUTENEGGER, 44, Zürich
»Forever can begin«, singt Michael Jackson in You Are Not Alone. Zilla Leutenegger gefiel die Zeile und sie machte sie zum Titel ihres Kurzfilms, einer abgefilmten Rauminstallation: Die besteht aus einer Wand, auf die eine Liege gezeichnet ist. An der Wand lehnt ein Cello, das Leutenegger selbst gebaut hat. Auf Wand und Cello wird ein Film projiziert: Er zeigt die Künstlerin, wie sie zum ersten Mal im Leben Cello spielt - auf einem richtigen Instrument. Die Aufnahmen hat Leutenegger abgezeichnet. Deshalb ist sie im Film nur gemalt zu sehen, dafür ist der Ton echt.
5 NATIONALPARK, 5 min 15 sec, CHRISTOPH BRECH, 48, München
»Das Leben - flüchtig wie ein Schatten«
Eigentlich hatte sich Christoph Brech vorgenommen, auf dem Familienausflug in den Bayerischen Wald mal nicht zu filmen. Aber dann entdeckte er im Nationalpark diesen Schatten, den der Holzsteg des Baumwipfelpfads auf den Waldboden warf. Auf einmal sah er nur noch die bewegten Schatten; der karge Waldboden wurde zur Projektionsfläche, zur Bühne für das Treiben auf dem Pfad, er schnappte sich die Kamera seiner Cousine - und filmte.
6 THE OPENING, 7 min 20 sec, JULIAN ROSEFELDT, 47, Berlin
SZ-Magazin: Nehmen Sie in The Opening den Kunstmarkt auf die Schippe?
Julian Rosefeldt: Ja, ich zeige eine Ausstellung in einem typischen Beton-Kunstraum mit einem typischen Publikum: das Sammler-Ehepaar, die Künstlerkollegen, Groupies, Journalisten. Alle diskutieren über diese weiße Skulptur in der Mitte. Die ist aber nur die Karikatur eines modernen Kunstwerks, ein Fetisch.
Und irgendwann kleben die Besucher wie Fliegen an der Wand.
Ja. Ich habe in einem Rotor gedreht, einem zylindrischen Raum, der sich so schnell dreht, dass die Menschen ihr Gleichgewicht verlieren und an die Wand gedrückt werden. Ist eine alte Kirmes-Attraktion, die wir für einen Tag zum Kunstraum umfunktioniert haben.
Wieso sieht man die Drehung nicht?
Weil die Kameras sich mitdrehen.
Und warum verliert die Kunstgemeinde das Gleichgewicht?
Weil sie hysterisch geworden ist. Es ist der Höhepunkt einer schwindelerregenden Entwicklung, die ich kommentiere. Aber es steckt noch ein anderes Motiv darin: Der Mensch ist äußeren Kräften ausgesetzt, die er weder kontrollieren noch aufhalten kann.
7 SAILOR, 9 min 48 sec, HILLARY LLOYD, 48, London
»Ich ziehe es vor, nichts über mein Video zu schreiben«
Sagt Hilary Lloyd, die letztes Jahr für den renommierten Turner Prize nominiert war. Also: anschauen, nachdenken, selbst urteilen. 8 LIFE IS AN OPINION, FIRE A FACT, 6 min 13 sec, KAREN YASINSKY, 47, Baltimore
Was passiert mit uns, wenn wir einen Selbstmord beobachten? Eine Selbstmordszene zeigt das Resultat, aber nie die Gedanken und Gefühle, die zu ihm geführt haben. Die Tat bleibt isoliert: Eine Frau ist in den Tod gesprungen, sie blutet am Kopf. Ein Mann verbrennt sich selbst. In Life is an Opinion, Fire a Fact zeigt Karen Yasinsky Filmfragmente, die keine Geschichte ergeben. Manche sind nachgezeichnet, andere abgefilmt. Sie sind durch Störbilder ihres alten Fernsehers getrennt, die einen eigenen Rhythmus schaffen und uns daran erinnern, dass wir sicher in unserem Wohnzimmer sitzen. »Life is an Opinion« ist übrigens ein Zitat des römischen Kaisers Marcus Aurelius: »Unser Leben ist das Produkt unserer Gedanken.« 9 OZONE, 2 min 22 sec, JACCO OLIVIER, 40, Amsterdam
»Ich male dicke Farbschichten auf kleine Holzbretter und mache ein Foto davon. Dann male ich etwas drüber, mache wieder ein Foto und so weiter, bis ich Hunger habe oder das Telefon klingelt. Am Computer schneide ich die Fotos dann so aneinander, dass der Betrachter sich zwischen den einzelnen Schichten bewegen kann.« (Jacco Olivier)
Mit der Vertonung von Michael van Noort klingt das, als bewege man sich unter Wasser. 10 SONNTAG 2, 11 min 46 sec, JOCHEN KUHN, 58, Ludwigsburg
»Warum werden Menschen am Sonntag melancholisch?«
Der Sonntag ist ein besonderer Tag. Er konfrontiert uns mit vielen Fragen: Arbeite ich, um auszuruhen, oder ruhe ich mich aus, um zu arbeiten? Wenn ich für diesen »Tag des Eigentlichen« die ganze Woche über arbeite, warum verschlafe ich ihn dann? Genieße ich die Stille des Sonntags oder sehne ich mich zurück nach der Arbeitswut des Alltags? Weiß ich am Ende nichts mit mir anzufangen?
Für seinen Film hat Jochen Kuhn 90 Bilder gemalt und sie mit einem Diafilm abfotografiert. Die Dias hat er auf Leinwände projiziert, die er auch bemalt hat, um sie schließlich mit einer digitalen Kamera abzulichten.
Künstler 11-17
11 VERTICAL ON MY OWN, 3 min 9 sec, A K DOLVEN, 59, London und Lofoten
Vollmond auf den Lofoten, 200 Kilometer nördlich des Polarkreises: Hier ist Norwegens bekannteste Künstlerin A K Dolven aufgewachsen. Für Vertical on my own haben sich ihre Familienmitglieder und Freunde in den Schnee gestellt. Ihr Schatten ist das Einzige, was sich bewegt. Eine Szene der Stille und des Friedens - wenn dieses komische Geräusch nicht wäre. Für Ausstellungen muss Dolven ihren Film auf eine 15 Meter breite Wand projizieren, so lang sind die Schatten im Norden.
12 STRAUSS OK, 4 min 36 sec, JEANNE FAUST, 44, Hamburg
»Mein Film basiert auf einem Anzeigenmotiv von Gucci: Männer in weißen Kitteln, die in einem Florentiner Atelier stehen und Leder zerschneiden. Gucci nutzt dieses Foto aus dem Jahr 1921 für Werbezwecke. Es soll die Marke mit alter Handwerkstradition, Authentizität und Beständigkeit in Verbindung bringen. Ich glaube, gute Werbung fasst eine gesellschaftliche Stimmung zusammen und erweckt einen Wunsch, den sich der Einzelne zu erfüllen versucht. Mein Film unterläuft dieses System.« (Jeanne Faust) 13 PIANO CHAIR, 3 min 52 sec, ROBIN RHODE, 36, Berlin
Ein Pianist, der sein Klavier nicht zerstören, sondern erstechen, zerhacken, verbrennen und aufhängen will. In Rhodes Animationsfilm Piano Chair geht es aber um viel mehr als nur die Wut des Musikers auf sein Instrument. »Es geht um das Eindringen der Moderne ins koloniale Südafrika während der Rassendiskriminierung.« Der Flügel scheint der Täter zu sein, der Hocker der stumme Zeuge dieser Gewaltattacke. »Der Rhythmus der Bilder«, sagt Rhode, »erinnert an Musik von Prokofiew.« Dessen Solowerke für Klavier seien manisch und selbstzerstörerisch - wie sein Film.
14 REBEL REBEL, 8 min 40 sec, MARTIN BRAND, 36, Köln
SZ-Magazin: In Ihrem Film wird ziemlich viel geschrien. Worum geht es?
Martin Brand: Um Jugendkultur und Identität. Rebel Rebel basiert auf Aufnahmen, die ich in der Metal- und Deathcore-Szene rund um den Musiker David Beule gemacht habe. Ich zeige die Musiker beim Proben, beim Warmsingen oder ganz alltäglichen Dingen wie Computerspielen.
Wie sind Sie auf den Protagonisten David Beule gekommen?
Ich habe Jungs auf der Straße angesprochen, von denen ich annahm, dass sie Musik machen. Reiner Instinkt. Irgendwann habe ich David getroffen und wusste sofort: Der ist es. David hat eine ungebremste Heftigkeit, eine unglaubliche Power, er ist rastlos und faszinierend.
Warum schreien die Jungs so?
Das Shouten gehört zu dieser Art von Musik. Es drückt das Bedürfnis aus, sich radikal zu äußern. Es hat etwas Archaisches, und ich wollte unbedingt wissen, was dahintersteckt. Das Shouten ist wie das Tätowieren ein Ausdruck ungebremsten Lebens. Eine zeitgenössische Form des Rock ’n’ Roll.
15 SUDDEN DESTRUCTION, 4 min BJØRN MELHUS, 46, Berlin
Und wieder ein Hotelzimmer. Diesmal steht ein Mann am Fenster und kündigt einen Krieg an. Im Fernsehen zählt ein Moderator Endzeit-Szenarien auf, daneben erwacht ein regloser Körper zum Leben und spricht mit gespenstisch verzerrter Stimme von der unmittelbar bevorstehenden Zerstörung, der »sudden destruction«. Für seinen Film hat Bjørn Melhus auf Youtube nach Endzeit-Träumen gesucht. Tausende Menschen haben dort unter dem Stichwort »sudden destruction« ihre apokalyptischen Prophezeiungen hochgeladen, die meisten von ihnen mit christlich-religiösem Hintergrund. Sie predigen aus Hobbykellern und Wohnzimmern, manche haben sich zurechtgemacht, andere wirken wie aus dem Schlaf gerissen. Allen gemein ist eine lustvolle Sehnsucht nach Zerstörung, bei der die Guten errettet werden. Aus dem Chor der Hobbyprediger hat Melhus drei Stimmen ausgewählt und eine Tonspur erstellt, die eine eigene Geschichte erzählt. Eine Geschichte, die mal wie eine Séance, dann wie ein exorzistischer Akt wirkt. Die Figuren verkörpert Melhus selbst, wie ein Medium lässt er die Stimmen durch sich sprechen.
16 IM SCHIFFBRUCH NICHT SCHWIMMEN KÖNNEN, 8 min 23 sec, MARCEL ODENBACH, 59, Köln
»Am Meer sitzen und von der Ferne träumen. Aber was ist, wenn die Ferne zur Heimat wird?« Dann, so haben es die Afrikaner Marcel Odenbach erzählt, wird die alte Heimat zur neuen Fremde. Odenbach musste lange suchen, bis er illegale Einwanderer fand, die bereit waren, mit ihm über ihre Erfahrungen zu sprechen. Er ist mit ihnen nach Paris gereist und in den Louvre gegangen. Die Männer aus Nigeria und Kamerun saßen vor dem »Floß der Medusa« von Théodore Géricault, dem Bild, das die Kolonialgeschichte Europas schildert und das Meer zeigt, über das auch diese Männer nach Europa kamen. Sie führten lange Gespräche, an Rückkehr aber dachte keiner.
17 SENTIMENTAL FUTURIST, 4 min 51 sec, SHANA MOULTON, 36, New York
Shana Moulton ist bekannt für ihre ironischen und humorvollen Video-Arbeiten und Performances. Seit Jahren untersucht die Künstlerin die Wechselwirkung von Konsum und Kunst. Bis heute ist sie überzeugt davon, dass sie ihren besten Film im Alter von 15 gedreht hat: ein Remake der legendären Black-Lodge-Szene aus Twin Peaks.
Sentimental Futurist ist alles auf einmal: melancholisch, absurd, spannend, bildungsbürgerlich und sehr komisch. »Ich habe versucht, eine Oil-of-Olaz-Werbung mit den großen Frauenfiguren der Kunstgeschichte zu verbinden«, sagt Shana Moulton. Das war die Grundidee. Als Soundtrack wählte sie eine Chorversion des Liedes The First Time I Ever Saw Your Face, das in den Fünfzigerjahren die Oil-of-Olaz-Werbung untermalte. Die Frauen holte sie sich aus dem bekannten Youtube-Video Women in Art von Philip Scott Johnson - mit seiner Erlaubnis. Es geht um Schönheit in diesen fünf Minuten. Um Schönheit und wie wir sie uns zu verschiedenen Zeiten vorgestellt haben und immer noch vorstellen.
Redaktion: Lisa Frieda Cossham, Tobias Haberl