Steine im Weg

Am Ende seiner großen Karriere führt Alfred Hrdlicka, der Bildhauer der geschundenen Skulpturen, einen verzweifelten Kampf: mit sich selbst.

Alfred Hrdlicka trägt die Knöpfe an den Ärmeln seines blau-weiß gestreiften Hemds offen. Mit einer raschen Bewegung entblößt er plötzlich die Unterarme, streckt sie nach vorn und sagt: »Sehen Sie, da ist überhaupt kein Fleisch mehr dran, nur noch Haut und Knochen.« Es stimmt.

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Hrdlickas Blick ist verächtlich, anklagend. Er macht sich und seinem Körper bittere Vorwürfe. Hrdlicka sitzt im Zeichenatelier oberhalb seiner prachtvollen Wohnung in der Wiener Dorotheergasse an einem großen Holztisch, neben ihm Angelina, seine zweite Ehefrau. Materiell gesehen führen die beiden das Leben eines Ehepaars mit einer Ministerpension, bloß exaltierter und schräger im Auftreten. Aber Alfred Hrdlicka lehnt sich nicht zufrieden zurück. Er krümmt sich. Alles an ihm drückt aus, dass er jetzt, als alter Mann, seinen schwersten, vielleicht aussichtslosen Kampf führt. Denn zum ersten Mal in seinem Leben hat Alfred Hrdlicka das Fleisch nicht auf seiner Seite. »Alle Macht in der Kunst geht vom Fleisch aus.« Der Satz stammt vom jungen Hrdlicka. Der durfte das mit Recht behaupten und es zu seinem Schlachtruf machen, weil er es nämlich beweisen konnte. Er formte aus Stein Fleisch – »die eigentliche Pointe der bildenden Kunst« – und gleichzeitig Kunst von Weltrang. Er und seine Arbeiten waren umwerfend rabiat und der Kritiker der Wiener Presse, der im Juni 1960 die erste Ausstellung des jungen Bildhauers rezensierte, fühlte sich »von zahlreichen ausgesprochenen Brutalitäten abgestoßen«. Hrdlicka bahnte den Körpern, die er schuf, unter Einsatz seines eigenen Körpers den Weg. Bis ihn eines Tages sein Körper im Stich ließ.

Jeder darf wissen, was Hrdlickas Verfall ausgelöst hat, er hat die Schriftstellerin Susanne Ayoub ein Buch darüber schreiben lassen (Alfred Hrdlicka und der Fall Flora, Molden Verlag). Seine Langzeitfreundin Flora S. hatte sich am 26. Januar 1999 das Leben genommen. Hrdlicka stürzte in eine schwere Depression. Er hörte auf zu arbeiten, schrieb nicht mehr, lag im Bett und starrte an die Decke.

»Ich habe zu der Zeit immer mit zwei Händen getrunken, weil mit einer hätte ich alles verschüttet. Und im Kaffeehaus hat mir die Angelina, meine Frau, die Schale gehalten. Sie hören aus meiner Erzählung, dass ich selber nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Ich erzähle es Ihnen einfach, wie es wirklich war.« Grotesk sei es gewesen, sagt er, wenn er an den Zustand denkt, in dem er sich noch vor kurzem befand. Er konnte nur kleine Trippelschritte machen, der Weg von seiner Haustür quer über die Straße zum »Café Hawelka« war ihm zu anstrengend, da musste er Pausen machen. Er hatte Halluzinationen, mitten in der Nacht stand er auf, weckte Angelina und sagte ihr, da liege eine Frau in seinem Bett, die er heiraten müsse. Zu der Zeit war er bei sechs oder sieben Ärzten in Behandlung und »medikamentös überversorgt«.

Plötzlich aber, im Dezember vor mehr als einem Jahr, rappelte sich der alte Mann wieder hoch. Hrdlickas Hauspsychiater Dr. Lesch hatte beobachtet, wie sich sein Patient Wodka einschenkte, ohne zu zittern. »Hrdlicka«, sagte Lesch, »Sie haben doch eine ruhige Hand, fangen Sie wieder an zu arbeiten.« Angelina legte Zeichenpapier auf, Hrdlicka begann linkisch darauf zu kritzeln und bald konnte er wieder zeichnen und malen. Ein ganzer Zyklus entstand und vergangenen Juni stellte Hrdlicka zur Überraschung aller in der Galerie Hilger fünfzig Arbeiten unter dem Titel Serail aus. Man gratulierte ihm, die Zeitungen vermeldeten seine Rückkehr, »Schön, dass er wieder da ist«, stand im Katalog zur Ausstellung und Hrdlicka selbst freute sich natürlich auch, wieder da zu sein.

Aber er wusste auch, dass nun erst sein eigentlicher Kampf auf ihn wartete. Eigentlich hätte das Treffen in seinem Bildhaueratelier stattfinden sollen, das inmitten eines verwunschenen Gartens im Wiener Prater liegt, gleich hinter der Pferderennbahn Krieau. Es ist das letzte noch erhaltene Gebäude der Weltausstellung von 1873. Hrdlicka hat hier den größten Teil seines Lebens verbracht, aber er kommt nicht mehr oft hierher. Angelina sagt, es sei nicht gut für ihn, in das Prateratelier zu gehen. Hrdlicka nimmt einen Schluck Wodka. Versinkt kurz in sich.

Dann geht er in seiner Wohnung auf und ab und führt vor, wie ihm seine Physiotherapeutin das richtige Gehen wieder beigebracht hat. Nicht auf den Boden schauen, sondern vor sich einen Punkt fixieren. Es amüsiert ihn, dass er wieder gehen lernen musste. Plötzlich, fast beiläufig, sagt Hrdlicka: »Wir könnten auch ins Atelier fahren. Vielleicht nächste Woche. Ich ruf Sie an.« Alfred Hrdlicka will an seinen Arbeitsplatz. Zu dem Stein, der dort seit fünf Jahren unfertig auf ihn wartet.

In der Einfahrt vor dem Atelier steigt Hrdlicka aus dem Fond des Autos und geht die Stufen hinauf in Richtung Eingang. Der große Arbeitsraum ist voll von Skulpturen. In einer Ecke steht der »Straße waschende Jude« aus Stein, das Modell der Skulptur am Platz vor der Albertina in Wien. Hrdlicka genießt das Staunen, das sein Atelier Besuchern einflößt. Die schiere Größe, das himmlische Oberlicht, die versammelten Hrdlickas. »Das Atelier ist ideal. Eine kleine Kirche. Ich hab Riesendinger hier gemacht. Es ist ideal, das steht außer Zweifel. Nur meine Voraussetzungen sind jetzt nicht mehr die besten.«

(Lesen Sie auf der nächsteen Seite: Er hat akuten Sauerstoffmangel bei der Geburt überlebt, die Nazizeit und eine Zahntechnikerlehre)

Plötzlich verschwindet er. Nach einiger Zeit deutet Angelina, dass ihr Mann hinten in einer Art Aufenthaltsraum ist und dort wartet. Ein Wohnzimmer mit einem Kühlschrank, einer Spüle, einem Tisch mit Sesseln. An der Wand hängen Bilder vom Meister selbst, eine Version des Abendmahls nach Leonardo. Er macht keine Anstalten, in den Arbeitsraum zu gehen. Er sitzt nur da. Ein Mann von 77 Jahren, dessen breiter Schädel noch den Koloss von einst erahnen lässt. Ein alt gewordener Kämpfer mit einer sauberen Bilanz; viele Siege, wenig Niederlagen.

Er hat akuten Sauerstoffmangel bei der Geburt überlebt, die Nazizeit und eine Zahntechnikerlehre. Er hat trotz des Vorwurfs, sozialistischen Realismus zu produzieren, Weltkarriere als Bildhauer gemacht. Er hat sein Mahnmal gegen Krieg und Faschismus am Albertinaplatz gegen die Österreichische Volkspartei und die Kronen Zeitung durchgesetzt. Er hat seine eigenwillige Sprache aus Hochdeutsch und Wiener Idiom, gleichzeitig genuschelt und glasklar, zum Markenzeichen gemacht und als Polemiker viel Spaß gehabt. Er hat als Kommunist kandidiert, sich einen Stalinisten schimpfen lassen und nebenbei am Kunstmarkt Preise erzielt, die die Theorie des Mehrwerts an ihre Grenzen führen.

»Das einzige physische Debakel im Moment ist, dass ich nicht steinbildhauern kann. Das belastet mich sehr. Das ist die Wahrheit. Soll ich den Gesunden spielen? Das ist ja ein völliger Unsinn. Ich kann nicht steinbildhauern. Ich hab es ein paar Mal versucht, auch zuletzt wieder. Da schleiche ich verschämt zu einem Stein. Vorige Woche war ich dort mit Angelina und Alfred Zöttl, meinem Gießer, und als die weg waren, bin ich raus und hab mir gedacht, ich zeig es ihnen. Aber es ist so, als würde ich mit dem Finger gegen die Tischplatte hauen. Es stimmt mich traurig.« Hrdlickas Wirbelsäule ist schief. So schief, dass er keinen seiner Anzüge mehr tragen kann. Und weich sei er geworden, urteilt er selbst. »Ich bin ein asymmetrisches Weichtier.«

Alfred Hrdlicka hatte früher einen Körper wie ein Spitzensportler und liebte es, Schweres anzupacken. Beim Schlosser Blaha in Simmering, schwärmt er, lag einmal eine Traverse, die wog 230 Kilo, und Hrdlicka konnte sie für ganz kurze Zeit hochziehen. »Ich hab unheimliche Hände gehabt.« Hände, die ihn selbst faszinierten. Hände, mit denen er die rechte Faust von Sonny Liston, dem legendären Boxweltmeister im Schwergewicht, meißelte. Der Gedanke an den Körper, den er einmal hatte, lässt Hrdlicka nicht los. Hätte die Depression ihn nicht fast aufgefressen, wäre er jetzt zwar auch schon alt, aber sicher noch besser beisammen. Er hatte seinen Bildhauer-Körper aufgegeben und damit fast schon sich selbst und jetzt will er ihn und sich wieder haben.

»Woran haben Sie hier zuletzt gearbeitet, ehe Sie vor gut fünf Jahren aufgehört haben?«

»Vorn steht diese Riesenfigur, dieser weiße Marmorblock. Das war das Letzte. Das große Nicaragua-Mahnmal. Aber Nicaragua ist viel früher eingegangen, als ich eingegangen bin, jetzt hab ich ja Nicaragua überlebt, jedenfalls die linke Regierung.«

»Wie lange hätten Sie für die Nicaragua-Skulptur noch gebraucht?«
»Die könnte schon fertig sein. Fünf Jahre ist eine lange Zeit.«

»Hier haben Sie die meiste Zeit Ihres Lebens verbracht?«
»Das kann man sagen. Es hat Zeiten gegeben, da hab ich der Angelina noch Kunstunterricht gegeben, und meine Frau, die Barbara, und ich, wir haben uns um zehn im Café getroffen. Da haben wir unsere Sachen zusammengeschnürt, was zum Essen, und sind hierher gekommen zum Arbeiten. Ich hab nebenbei noch geschrieben. Die Angelina hat meistens auf der Rückseite Landschaftszeichnungen gemacht. Es war eine schöne, eine seltsam bewegte Zeit. Ich hab drin gebildhauert, die beiden Damen sind draußen gesessen. Wir haben jeden Tag gearbeitet, viele, viele Stunden. Eigentlich eine ganz proletarische Ziffer – acht Stunden steinbildhauern pro Tag.«

»Haben Sie hier übernachtet?«
»Oft. Da hinten steht noch ein Doppelbett seligen Angedenkens.«

Hrdlicka leidet. Er trinkt wie immer Wodka, stetig, in kleinen Dosen. Im Hinterzimmer sitzen und reden ist der einfachere Teil des Besuchs im Atelier. Draußen im Arbeitsraum wartet der unfertige Stein. Irgendwann steht er auf und geht nach draußen. Noch spielt er den Museumsführer, die Hände in den Taschen, die Perspektive eines kunsthistorischen Zeitzeugen. Da steht der große, weiße Block.

»An welcher Stelle haben Sie zuletzt gearbeitet?«
»Das, was ich zuletzt gemacht hab, von der Empfindung her, den Rücken weg, das hab ich weggeschlagen. Es ist unwiderruflich, dass ich hier zuletzt gearbeitet hab, aber dann den Stein nicht mehr weiterbearbeitet habe. Das soll eine kniende Figur sein, da kommt noch eine hohe Figur. Aber was nicht passiert, passiert nicht.« Hrdlicka wendet sich ab. Der Stein ist zu mächtig, die Aufgabe nicht zu bewältigen.

»Sie sehen, das Werkzeug ist ja vorhanden. Das war die Arbeitsmütze. Eigentlich hab ich ja ganz kurze Haare, weil ich mir oft die Brause über den Schädel halte. So ein Hammer ist halt ein Ding. Das ist aber ein Stockhammer, kein Schlaghammer. Aber wenn ich den jetzt in die Hand nehme, weiß ich beiläufig, warum ich mich so fürchte, wieder Stein zu hauen. Denn das sind ja nicht ganz kleine Dinger.« Hrdlicka hält den schweren Stockhammer mit beiden Händen und nähert sich dem Stein. »Mit dem kann ich ja noch einen Schlag machen. Ich würde dann eher so schlagen.« Hrdlicka sagt den Satz im Konjunktiv.

Aber dann nimmt er tatsächlich den Hammer auf Augenhöhe und versucht, auf den Stein zu schlagen. Der Hammer fällt mehr, als dass er geschlagen wird. Der Stein zeigt keine Spuren. Hrdlicka wuchtet den Hammer wieder hoch, lässt ihn wieder auf den Stein niederfahren. »Der hat ein Gewicht, der Stein. Sehen Sie, dass man gleich große Trümmer wegschlägt, ist Unsinn...« Er setzt ab. »Sie sehen, dass es doch eine sehr Zeit raubende Beschäftigung ist. Und wenn Sie hier die Striche sehen, da schlage ich die Konturen. Aber da muss man vorsichtig sein, denn wenn man die Kontur zerschlägt, verliert man den Faden.« Er schlägt wieder, setzt dann ab und ist außer Atem. Er muss sich setzen, hält den Hammer noch in Händen.

»Das, was Apollo Marsyas angetan hat, habe ich meinen Skulpturen angetan, sie geschunden, gehäutet, zu Tode gearbeitet«, sagte Hrdlicka auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Er bemerkte nicht, was er dabei seinem eigenen Körper antat; er schuf Gladiatoren und einen Sisyphus und nahm es mit jedem Stein auf, den er sich selbst in den Weg gestellt hatte. »Für große Sachen verwende ich den Stockhammer, ein herrliches Ding. Zum Konturenschlagen, Sie sehen ja, dass der eine Führung hat, er ist sehr schmal, hat ein unglaubliches Gewicht, aber er ist sehr fest. Und da kann man Konturen – Richtlinien, würde ich eher sagen – schlagen. Die Konturen muss man ja dann meißeln. Er ist ein idealer Hammer, aber schwer.« Hrdlicka zeichnet mit schwarzer Kreide Konturen auf den Stein: »Eigentlich gehört die Sache so, das ist zu weit heraußen, das gehört so, dann geht das über, das ist ein Bein, und das andere Bein sollte eigentlich so etwas wie ein Standbein sein. Aber jetzt bin ich ein bissl draußen, denn ich hab ja, wie gesagt, lang nicht mehr gearbeitet. Aber das sind eigentlich die Hilfsmittel eines Steinzeitlers. Ich war eigentlich ein Steinzeitmensch.«

Hrdlicka war der glücklichste Steinzeitmensch des 20. Jahrhunderts. Er musste sich körperlich verausgaben, um zufrieden zu sein. Er lächelt, wenn er daran denkt.

»Wenn man oben arbeitet, da hat es bis zu 40 Grad. Dann geh ich runter und halt mir den Gartenschlauch über den Kopf. Ich hab mich immer gewundert, warum Leute auf Urlaub fahren, um das zu machen, was ich zu Hause machen kann: schwitzen und abkühlen. Maschinen können sich nicht messen mit der Schlaghand. Die Schlagkraft ist etwas Unheimliches. Weil man sprengt. Eine Maschine schneidet, sie sprengt nicht. Ein Schlag ist etwas anderes. Etwas Kontrolliertes und zugleich wirklich Formendes, wenn man feierlich reden will. Das kann man mit keiner Maschine machen. Körpergefühl ist ein großer Teil der Bildhauerei. Mich hat einmal jemand besucht, um mich abzuholen, es war Winter, zehn Grad unter null, und ich hab nackt aufgemacht, ich kam aus der Dusche. Und hab gesagt: grüß Gott. Das war ein unglaubliches Körpergefühl, dass man sich so entspannen kann. Aber die haarige Geschichte ist, dass ich in einer Traumwelt gelebt habe, so, als würde ich noch mit 70, 80, wenn es sein muss, auch mit 90 noch steinbildhauern können. Ich hab nie gedacht, dass das einmal vorbei sein könnte. Ich war dahinter wie der Teufel. Jetzt hab ich vor allem eines im Sinn: dass ich wieder bildhauern könnte. Das ist das, was mich am meisten bewegt. Die Bildhauerei ist eine egozentrische Beschäftigung. Auf Grund der Anstrengung, auf Grund der Zeitdauer. Wenn man 78 ist – oder bin ich 77?, ist ja egal – und man weiß, wie bedeutend Zeitdauer ist, um Kunst zu machen, dann wird man schon sehr nachdenklich. Die Zeit ist für das Schöpferische ein Faktor. Das alles hat mit Zeit zu tun. Wie spät ist es eigentlich?«

Es ist halb fünf. Hrdlicka hat viel geredet, fast einen Monolog gehalten. Er dreht und wendet die Fakten. Ändern kann er sie nicht, sie stehen da wie der große weiße Block. Aber Hrdlicka braucht es manchmal, davor zu stehen und seinem Ende als Steinbildhauer zu begegnen. »Ich kann mir ein Leben ohne Bildhauen nicht vorstellen«, sagte er 1996. »Es ist meine große Leidenschaft. Aber wenn man nicht arbeiten kann, bleibt einem nichts anderes übrig, als dass man sich selbst bedauert. Und da ich hier mit vielen Menschen zusammen war, auch mit vielen Frauen, ist das hier ein sehr nostalgischer Boden.« Zum Abschied stehen Alfred Hrdlicka und Angelina draußen auf dem Stiegenaufgang. Sie werden noch hier bleiben. Sie umarmen einander lang. Drinnen steht der unvollendete, große, weiße Block.