Die kleine Wohnung in Spandau sah aus, als hätte das Paar seinen letzten Streit fast zelebriert. Im Schlafzimmer waren die Erinnerungsfotos aus den Rahmen gebrochen und in Stücke zerrissen worden; am Boden lagen Haarbüschel und zwei zerfetzte Halsketten; der kleine Weihnachtsbaum im Wohnzimmer war umgestürzt. Neben dem Baum fanden die herbeigerufenen Polizisten die Leiche eines athletischen Mannes in T-Shirt und Boxershorts; er war nach einem Stich in den Bauch verblutet. Auf der Messerleiste in der Küche fehlte das längste.
Madara G., eine 29-jährige Buchhalterin aus Riga, hat in dieser Nacht, nach dem russisch-orthodoxen Weihnachtsfest am 6. Januar, ihren Freund Jevgenij erstochen, mit dem sie ein Vierteljahr zuvor nach Berlin gezogen war. Sie selbst hat im Morgengrauen den Notruf verständigt. Jetzt sitzt die Angeklagte in dem kleinen Gerichtssaal, eine schmale, mädchenhafte Frau in Jeans und rosafarbenen Turnschuhen, die wie in Rekordzeit gealtert wirkt, ausgemergelt vor Schmerz. Am ersten Verhandlungstag wollte sie selbst über den Ablauf der Tat sprechen, erlitt jedoch nach wenigen Worten einen Zusammenbruch. Am zweiten Tag hält sie die ganze Sitzung über die Augen geschlossen, sagt kein Wort, und während vorn am Richtertisch die Fotos vom Tatort begutachtet werden, merkt man der zitternden Angeklagten an, wie auch sie das Geschehen jener Nacht fortwährend vor sich ablaufen lässt. Zwei Rekonstruktionen des Falles: die äußerliche des Gerichts und die inwendige der Täterin.
Das ganze Augenmerk des Verfahrens richtet sich auf die Frage, ob die Angeklagte in Notwehr gehandelt hat. Dem Messerstich ging eine stundenlange Auseinandersetzung voraus; zudem hat Madara G. am Morgen nach der Tat ausgesagt, dass sie von ihrem Freund ebenfalls mit einem Messer bedroht worden sei.
Jevgenij, ein früherer Leistungsschwimmer in Lettland, muss laut einer Erklärung, die der Verteidiger später vorliest, ein sehr eifersüchtiger Mensch gewesen sein. Er konnte es vor allem nicht ertragen, dass Madara fließend Deutsch sprach, weil sie einige Jahre lang in Österreich gelebt hatte, und so in Berlin viel leichter zurechtkam als er. Deshalb kam es immer wieder zum Streit. An Weihnachten wollten sie sich eigentlich versöhnen, mit einem festlichen Essen und Geschenken. Jevgenij überreichte ihr an diesem Abend ein Paar Turnschuhe (und man fragt sich unwillkürlich, ob es die sind, die sie im Gerichtssaal trägt).
Wie aufgelöst die Angeklagte nach ihrer Tat gewesen sein muss, wird an dem Tonbandmitschnitt des Notrufs deutlich, den der Richter vorspielt. Ein erschütterndes Dokument: Es ist die Stimme der Anruferin zu hören, die ihre Adresse nennt und dann immer wieder völlig durcheinander in das Telefon schreit: »Bitte, schnell kommen, mein Freund stirbt, viel Blut, schnell!« Am anderen Ende eine männliche Stimme, mit Berliner Akzent, komplett ungerührt: »Jetzt lassen Sie mich auch mal reden!« – »Was?« – »Das heißt: Wie bitte! Welche Hausnummer?« – »11, bitte kommen, schlimm, ganz schlimm!« – »Jetzt reden Sie nicht so viel, dann kann ich Ihnen auch helfen.«
Gegen Ende der Verhandlung tritt der psychiatrische Gutachter auf, ein älterer Herr, der in weitschweifiger Manier vom Leben der Angeklagten berichtet. Er erzählt von ihrer Kindheit in zerrütteter Familie, von ihren Jahren in Linz mit Anfang zwanzig, wo sie einen Sohn bekam – das Sorgerecht liegt inzwischen bei dessen Vater in Österreich, weil Madara G. zu oft den Wohnort gewechselt hat. Nach Ansicht des Gutachters ist sie »überdurchschnittlich intelligent«, doch diese Betonung schadet ihr eher, was die Einschätzung der Tat betrifft. Denn er glaubt nicht, dass Madara G. im Affekt gehandelt habe.
Das Urteil lautet dennoch auf Freispruch – im ersten Moment eine Erlösung für die Angeklagte. Doch wie kann dieses Leben nun weitergehen? In Berlin kennt sie kaum einen Menschen, im Streit mit dem Kindsvater in Linz gilt sie fortan als Mörderin, zurück in Riga könnte sie jederzeit auf Jevgenijs Familie treffen. Madara G. ist wieder eine freie Person, doch so verstört wie sie hat selten jemand den Gerichtssaal verlassen.
Illustration: Christoph Niemann