Angeklagt: Thomas H., 38, Altenpfleger
Delikt: Testamentfälschung
Besondere Kennzeichen: verführbar und reumütig
Auf einmal glaubte Thomas H., dass ihm etwas zustehe. Eineinhalb Jahre lang hatte er seine Nachbarin gepflegt, in einem Mietshaus im Wedding, dort wo die Straßen nach afrikanischen Ländern benannt sind. Wenn er ein Klopfen hörte an der Wand, wusste er, dass sie Hilfe brauchte oder einfach nur Gesellschaft, denn außer dem Sozialdienst dreimal in der Woche und einer Freundin, die für sie zur Bank ging, gab es niemanden mehr in ihrem Leben. Die Verwandtschaft bestand aus zwei Neffen, der eine in Mexiko, der andere unbekannt verzogen. Thomas H. erledigte auch die Einkäufe, das Wechselgeld durfte er behalten. Doch ansonsten wollte er nichts von ihr nehmen. Dann starb die alte Frau.
Er ahnte, dass sie ein wenig Geld zurückgelegt haben musste, denn sie hatte oft für die Kirche gespendet. Und es gab kein Testament, das wusste er aus ihren Erzählungen. Also schrieb er es am Tag nach ihrem Tode selber, setzte sich als Alleinerben ein und legte das Blatt mit der gefälschten Unterschrift in eine Schublade. Thomas H. erhoffte sich ein paar tausend Euro, vielleicht etwas mehr. Die Nachbarin hinterließ fast eine halbe Million, ein Betrag, bei dem das Vermögen erst nach grafologischen Gutachten freigegeben wird. Der dilettantische Fälscher fiel auf und gestand sofort.
»Ich verstehe mich selber nicht mehr«, sagt Thomas H., ein drahtiger Mann mit Nickelbrille und Stoppelhaaren, der trotz der kühlen Temperatur im Gerichtssaal nur ein ärmelloses schwarzes T-Shirt trägt. »Das war alles unvereinbar mit meinem Ethos als Altenpfleger.« Er drückt sich akkurat, fast ein wenig gespreizt aus, sagt »Ableben«, wenn er »Tod«, und »Verbindlichkeiten«, wenn er »Schulden meint, und als er vom Richter gefragt wird, warum er keine Bezahlung für seine Tätigkeiten eingefordert habe, antwortet er: »Der Gelderwerb stand überhaupt nicht im Vordergrund.« Man habe sich sogar geduzt nach einer Weile. Irmtraud und Thomas. Ob er nach ihrem Tod der Ansicht gewesen sei, das Erbe verdient zu haben? Er weicht dieser naheliegenden Frage aus, kratzt sich nur lange am bloßen Oberarm und sagt: »Ich würde jederzeit wieder helfen, wenn nebenan jemand in der Wohnung liegt.«
Die Erdichtung des »Letzten Willens« muss Thomas H. wie eine verführerische Möglichkeit erschienen sein, auch ohne jedes Fälscherwissen. Denn das private Testament zeichnet sich wie kein zweites Schriftstück durch eine Unverhältnismäßigkeit von Erscheinungsform und offizieller Wirkung aus; es kann noch so flüchtig und formlos hingekritzelt werden und setzt dennoch Reaktionen in Gang, die ganze Lebensgeschichten verändern. Zudem liegt der Anreiz für den Fälscher darin, dass der einzige Zeuge, der dazu imstande wäre, den Betrug zweifelsfrei aufzudecken, für immer verstummt ist. Testamente werden nicht gelesen, solange ihr Verfasser lebt.
Thomas H.s Reue wirkt vor Gericht so überzeugend, dass Staatsanwalt und Verteidiger in ihren Forderungen kaum voneinander abweichen. Der Angeklagte wird zu acht Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt, einer vergleichsweise milden Strafe, weil er, so sein Anwalt, »einer der Täter ist, die in ihrem Leben nur einmal straffällig werden«. Beim Anblick der Toten muss der Einfall, das Testament zu fälschen, wie ein plötzlicher Impuls über den Pfleger gekommen sein. Keine Hinterlist, keine lange angestaute kriminelle Energie steuerte diese Tat, sondern nichts als die günstige Gelegenheit. So urteilt das Gericht.
Und doch hat der Angeklagte seine Zerknirschung derart behende vor sich hergetragen, dass man mit einem Rest an Zweifel die Plädoyers verfolgt. Niemand wird je sagen können, ob er in den Gesprächen mit der einsamen Nachbarin genauere Einblicke in ihren Wohlstand erhalten hat, ob der Fälschungsplan nicht doch aus längerer Berechnung heraus entstanden ist. »Ich habe naiv gehandelt«, sagt Thomas H. am Ende des Prozesses. Dieser Satz signalisiert aufrichtiges Bedauern. Er könnte aber auch den Ärger darüber ausdrücken, dass nun zwei Männer in seinem Alter gesucht werden, in Mexiko und irgendwo in Deutschland.
Illustration: Christoph Niemann