Es ist kalt in Berlin. Fast alle Beteiligten im Saal sind erkältet. »Kaugummi oder Hustenbonbon?«, fragt die strenge Richterin den Angeklagten, bevor sie das Verfahren eröffnet, so wie eine Oberstudienrätin zu Beginn des Unterrichts einen Schüler maßregelt. Es ist ein Hustenbonbon, das darf er im Mund behalten. Die Richterin selbst trägt ein wärmendes Tuch um den Hals, sie scheint zu frieren, und man denkt sofort, dass die Temperatur im Saal das spätere Urteil nicht begünstigen wird. Gibt es Statistiken über den Zusammenhang von Witterung und Strafmaß bei Gerichtsprozessen?
Tino Sch., ein massiger junger Mann in Jeans, Kapuzenpulli und Nike-Turnschuhen, hat am 1. Mai des vergangenen Jahres an der Veranstaltung »Krise beenden – Kapitalismus abschaffen« in Kreuzberg teilgenommen. Er soll mehrere Glasflaschen auf Polizeieinheiten geworfen und einen Freund mit Böllern aus seinem Rucksack versorgt haben. Zunächst versucht der Staatsanwalt, das Geschehen an diesem Abend zu rekapitulieren. Er verliest die Schlachtrufe der Demonstranten, die seit dreißig Jahren unveränderten Klassiker wie »A.C.A.B. – All Cops Are Bastards«, und dem adretten, leicht lispelnden Würdenträger ist anzumerken, wie viel Mühe ihm das Aussprechen dieser Slogans bereitet. Er legt die größtmögliche Distanz zwischen sich und die Worte, wie jemand, der mit ausgestrecktem Arm einen übelriechenden Beutel Richtung Mülltonne trägt.
Da der Angeklagte schweigt, kann das Gericht allein durch die Befragung der Zeugen über das Geschehene Aufschluss erlangen. Geladen sind vier Polizisten, zwei Berliner und zwei Bremer Beamte. Unabhängig voneinander observierten sie Tino Sch. und seinen Freund als zivile Ermittler und gaben der Einsatzleitung den Hinweis zur Verhaftung. Die Polizisten, alle um die dreißig, mit sorgfältig gegelten Haaren, erinnern in Sprache und Aussehen an eloquente Fußballprofis. Sie sagen »lediglich« anstatt »nur« und »zeitnah« anstatt »bald«. Der alte Punk-Schlager ist nicht mehr zeitgemäß; diese Cops sind keine brutalen »Bastards«, sondern versierte, vielleicht allzu beflissene Repräsentanten ihrer Behörde.
Im Vergleich zum Angeklagten geben sie allerdings die souveränere Figur ab. Denn in Person von Tino Sch. hat die Gemeinschaft der Politaktivisten keinen rühmlichen Vertreter aufzubieten. Er macht einen eher stumpfen Eindruck, und es bleibt zweifelhaft, ob seine Anwesenheit bei der Demonstration in irgendeinem Zusammenhang mit dem politischen Anliegen gestanden hat.
Jeder der Polizisten wird nun mit seiner Erinnerung an den Vorfall konfrontiert. Einige Beobachtungsdetails weichen voneinander ab, doch alle Zeugen bestätigen den Kern der Vorwürfe: Der Angeklagte habe die Flaschen »mit Anlauf« geworfen, »wie beim Schlagballwerfen bei den Bundesjugendspielen«, und sich nach den Treffern mit seinem Begleiter abgeklatscht. Die Wiederholung der Fragen wirkt ermüdend, wird aber immer dann hochinteressant, wenn es darum geht, wie die Berliner und Bremer Zivilpolizisten einander inmitten der Demonstranten identifiziert haben.
In diesem Moment erweisen sich die wortgewandten Zeugen sofort als schmallippig: »Na ja, man erkennt einander halt, an bestimmten Verhaltensweisen«, sagt einer, und ein anderer meint: »Wenn Sie nichts werfen oder nicht Schau-lustiger sind, gibt es nicht mehr so viele Möglichkeiten.« Welche Codes sorgen dafür, dass beim Zusammentreffen von verdeckten Ermittlern sofort Klarheit herrscht? Ist es ein Zeichen an der Kleidung? »Es gibt ein Kennwort, das man geschickt einbauen kann«, verrät schließlich einer der Beamten. »Und als das von den Kollegen bestätigt wurde, ist der Apparat angelaufen.«
Der Staatsanwalt fordert sechs Monate Jugendhaft auf Bewährung; die fahrige, überaus nervöse Verteidigerin hält nach den vielen Widersprüchen in den Zeugenaussagen Freizeitarbeit für angemessen. Als die Richterin zur Urteilsverkündung erscheint, zieht sie ihr Halstuch ein wenig enger und verkündet mit heiserer Stimme ein Strafmaß, das sogar noch über dem Antrag der Staatsanwaltschaft liegt.