Kurze Prozesse (XV)

Eine Hochzeit, eine Schlägerei und ein ratloses Gericht: Plötzlich kann sich niemand mehr erinnern.

Angeklagt: Ahamad El-N., 27, Autohändler, und Mamoud El-N., 26, berufslos
Delikt: schwere Körperverletzung, bei einer Schlägerei unter Hochzeitsgästen
Besondere Kennzeichen: gut gelaunt und mit den Opfern längst versöhnt

Das Scheitern des Gerichts zeichnet sich bereits ab, als der Richter den Familienstand der Angeklagten abfragen will. Einer der beiden weiß nicht, was er antworten soll. »Na, ob Sie ledig sind, verheiratet, geschieden«, präzisiert der Richter. Nach Rücksprache mit seinem Verteidiger gibt der Angeklagte an: »Verheiratet nach islamischem Recht.« Mit den Kategorien der deutschen Justiz, das wird vom ersten Moment an klar, sind diese Biografien nicht zu erfassen.

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Eine Straftat ist geschehen: Bei einer Hochzeitsfeier in Neukölln kam es zu einer Massenschlägerei zwischen zwei libanesischen Großfamilien; einige Gäste bekämpften sich später noch mit Messern und Totschlägern. Die Ereignisse in dieser Nacht sind verlässlich dokumentiert, durch Vernehmungsprotokolle, Fotos von blutenden Opfern und großflächiger Berichterstattung in der Boulevardpresse. Doch jetzt, im Verhandlungssaal, bleibt nicht viel davon übrig; die Wirklichkeit der Tat zerrinnt dem Gericht Minute für Minute unter den Fingern. Nach dem Vorfall wurden zwei Festgäste, Ahamad und Mamoud El-N., als Rädelsführer identifiziert. Das zentrale Opfer ihrer Attacken ist jedoch nicht mehr auffindbar, »unbekannten Aufenthalts verzogen«, wie der Richter sagt. Und auch die anwesenden Zeugen, die in der Tatnacht angaben, von Ahamad und Mamoud misshandelt worden zu sein, erwecken den Eindruck, dass hier schon alles geklärt ist, familienintern, unabhängig von der hiesigen Justiz.

In den Pausen stehen die Angeklagten und die beiden Zeugen zusammen, lässige Mittzwanziger mit Hemden über den löchrigen Jeans. Sie reden laut, lachen, und erst als einer der Anwälte ihnen zu verstehen gibt, dass diese Vertrautheit auf das Gericht womöglich irritierend wirken könnte, setzen sich die beiden Zweiergruppen zumindest auf verschiedene Bänke. Alle vier Männer tragen denselben Nachnamen; das Gericht konnte im Vorfeld jedoch nicht klären, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie zueinander stehen. Die rituelle Eingangsfrage an die Zeugen – »mit den Angeklagten nicht verwandt und nicht verschwägert?« – wird zwar gestellt, aber der Richter wartet nicht einmal die Antwort ab.

Der Auftritt des ersten Zeugen dann ist ein kunstvoll zelebriertes Schauspiel der Verweigerung: »Da soll irgendwas passiert sein auf der Feier damals«, sagt der Richter. »Ist schon lange her, ich kann nichts dazu sagen«, antwortet der Zeuge, dessen Stimme und Körperhaltung plötzlich von akuter Müdigkeit befallen sind.
»Doch. Versuchen Sie mal.«
»Nee … tut mir leid, das ging alles so schnell. Ich weiß nur noch: Irgendwann war ich wieder zu Hause.«
»Und was war vorher?«
»Keine Ahnung. Mein Gedächtnis ist ja sehr schlecht.«
Auch der zweite Zeuge stellt sofort klar: »Ich kann mich an nichts erinnern.« Der Richter kontert sarkastisch: »Aha, Sie sind ja sicher täglich in polizeiliche Großeinsätze verwickelt«, was der Vernommene, der im Gegensatz zu seinen Bekannten nicht perfekt Deutsch spricht, zögerlich bejaht. Da meldet sich sein Vorgänger, der mittlerweile hinten in der Zuschauerbank sitzt: »Er versteht Sie doch gar nicht!«, ruft er, plötzlich hellwach und konzentriert. Der Zeuge wird vom Richter entlassen und geht grinsend aus dem Saal.

In diesem Moment muss das Gericht kapituliert haben. Denn als der Staatsanwalt nach einer kurzen Beratung wieder Platz nimmt, dauert das Verfahren noch drei Minuten. Er plädiert auf Freispruch, infolge des Mangels an verwertbaren Informationen, der Richter folgt ihm und spricht von »Zeugen, die wir versucht haben zu hören«. Das Gericht weiß, dass es zur bloßen Folklore degradiert worden ist.

Beim Hinausgehen fragt einer der Freigesprochenen höflich nach dem Weg zur Toilette: »Kennen Sie sich hier aus?« Ein Justizbeamter schickt ihn in den Flur nebenan. Nur wenn es um die elementarsten Bedürfnisse geht, ist Verständigung an diesem Vormittag erwünscht. Ansonsten demonstriert der Fall einen prekären Konflikt: zwischen einem Milieu, das die staatlichen Institutionen nicht benötigt, und einer Institution, die genau das nicht zulassen darf.

Illustration: Christoph Niemann