Angeklagt: Rene M., 44, gelernter Elektromechaniker
Delikt: Sprengung eines Geldautomaten
Besondere Kennzeichen: strebsam, aber unverbesserlich
Wenn es stimmt, dass sich die Welt in den letzten 15 Jahren stärker verändert hat als früher innerhalb eines Jahrhunderts, dann müssen entlassene Langzeithäftlinge diese Beschleunigung am deutlichsten spüren. Rene M. saß seit 1998 wegen wiederholten Bankraubs im geschlossenen Vollzug. Als er im September 2010 freikommt, beginnt er schon nach einigen Wochen mit der Planung einer neuen Straftat. »Ich müsste weiter ausholen«, antwortet Rene M., ein ernster, asketisch wirkender Mann mit kurz rasierten Haaren, auf die Frage des Richters, wie er sich diesen schnellen Rückfall erklärt. Nach der Entlassung sei er bei seiner Verlobten untergekommen und habe eine Stelle als Energiemechaniker gesucht – eine Berufsausbildung, die er, ebenso wie das Fachabitur, in den Jahren der Haft absolviert hatte. »Man konnte sich aber überall nur online bewerben, und davon hatte ich keine Ahnung.«
In der Art, wie er das Wort »online« ausspricht – beziehungslos, stumpf, wie ein Klanggebilde ohne Sinn –, offenbart sich seine Fremdheit in der heutigen Zeit. »Es hatte sich alles verändert«, sagt Rene M., »der Euro und alles. Berlin, das war für mich wie Ausland.« Auf die Bewerbungen bekommt er nicht einmal Absagen, und als seine Verlobte ihre Arbeitsstelle verliert, versucht er die Geldsorgen so zu lösen, wie er es gewohnt ist: Er beschließt, einen Geldautomaten zu sprengen. Zusammen mit einem jungen Bekannten stiehlt Rene M. Autos, um die Umgebung nördlich von Berlin auszukundschaften. Wochenlang dauern diese Irrfahrten über die Dörfer, weil kein Standort sowohl die taktischen als auch die moralischen Voraussetzungen Rene M.s erfüllt: »Es durfte keine Polizeiwache in der Nähe sein. Und das Bankgebäude musste unbewohnt sein, damit keine Leute zu Schaden kommen.«
Der Alltag eines Berufsverbrechers, wie ihn der Angeklagte erzählt, ist von der Angst vor polizeilicher Überwachung bestimmt, von Schlaflosigkeit, Übermüdung und unwägbaren Zwischenfällen. Einmal halten die beiden in der Nähe einer Bank: »Dann sehen wir: ›Parken nur mit Parkscheibe‹ und wollen umparken, aber das Auto springt nicht mehr an.« Aus Furcht davor, dass ihn ein DNS-Abgleich überführen könnte, sprüht Rene M. Sitze und Lenkrad mit Haarspray ein und zündet sie beim Aussteigen an. Doch er verkokelt nicht nur die Plastikoberflächen, sondern das ganze Auto brennt aus.
In Lindow, einem malerischen Ort in der Prignitz, finden die beiden schließlich einen Bankomaten, der allen Kriterien entspricht. 130 000 Euro hätten sie erbeutet, ein unerwartet hoher Betrag für eine Dorffiliale. Doch obwohl die Explosion, durch ein Gasgemisch aus dem Baumarkt herbeigeführt, das Gerät fast auseinanderreißt, bleibt die innere Kassette mit dem Geld verschlossen. Als Rene M. flüchten will, trifft gerade das Spezialeinsatzkommando der Polizei ein; Zivilfahnder haben über Wochen hinweg jeden Schritt, jeden Autodiebstahl observiert und nur den Moment einer gewichtigen Tat abgepasst.
Der Staatsanwalt, der mit Nachnamen tatsächlich »Klage« heißt, sagt in seinem Plädoyer, »dass die Resozialisierung in die Hose gegangen« sei. Und genau von dieser Frage handelt der Fall Rene M.: ob das, was die Justiz »Resozialisierung« nennt, überhaupt glücken kann – oder ob es nicht vielmehr zum Konzept Gefängnis gehört, dass dieses Wunschziel unerreichbar bleibt. Rene M. holte in Haft Berufsausbildung und Abitur nach, eine unübliche Leistung, und doch wurde auch er sofort wieder rückfällig. Man muss sich fragen, welchen Anteil das Gefängnis an diesem Problem hat, eine Institution, die Verbrecher nicht nur aufnimmt, sondern auch hervorbringt.
Rene M. erhält wie jeder Angeklagte das letzte Wort des Verfahrens. Er sagt: »Ich werde alles, was in meiner Macht steht, tun, um mich zu ändern. Auch wenn niemand mehr daran glaubt.« Die Richter und Schöffen nehmen diese Worte ohne jede Regung auf, so als wollten sie seine Vermutung bekräftigen, da erklingt plötzlich eine Stimme aus dem Zuschauerraum. »Doch, ich glaube daran!«, ruft eine korpulente Frau laut in den Saal hinein. Es ist Rene M.s Verlobte. Er schaut kurz auf und lächelt. Dann verschwindet er für fünf weitere Jahre in Haft.
Illustration: Christoph Niemann