Die Nacken der Angeklagten: In der Wahrnehmung des Gerichtsreporters, hinten auf der Zuhörerbank, geben sie ein zentrales Motiv ab. Richter, Schöffen und Staatsanwalt sind frontal zu sehen, Verteidiger und Sachverständige immerhin von der Seite. Doch die Angeklagten nehmen meistens direkt vor dem Richterpult Platz und schauen für die Dauer des Verfahrens nur in diese Richtung. Aus der Einschränkung der Perspektive können sich falsche Schlüsse ergeben, so wie bei Stefanie D., die der Beihilfe zum Bankraub angeklagt ist. Von hinten sieht die zierliche Gestalt mit den blonden Haaren wie eine Schülerin der 11. Klasse aus. Dann dreht sie sich um, und das Gesicht will nicht zum Hinterkopf passen; es wirkt zwanzig Jahre älter als der restliche Körper, fast ausgemergelt.
Stefanie D., eine langjährige Heroinkonsumentin, ist angeklagt, einen Freund bei drei Banküberfällen in Neukölln unterstützt zu haben. Laut einer nachträglichen Aussage des Täters soll sie in der Nähe der Banken mit Wechselkleidung gewartet und das Geld in Empfang genommen haben. Nach seiner Festnahme Anfang letzten Jahres war davon noch keine Rede gewesen; erst bei einer erneuten Vernehmung im Mai – »genau an meinem Geburtstag«, wie die Angeklagte verbittert sagt – gab er Stefanie D. plötzlich die Mitschuld. Sie glaubt den Grund für diesen Sinneswandel zu kennen: Seitdem er in Haft ist, hat sie den Kontakt zu ihm abgebrochen. »Ich hätte niemals gedacht«, sagt sie, »dass ich aus Rache jetzt noch in die Sache reingezogen werde.«
Als Zeuge wird auch der Haupttäter vernommen, ein Mann namens Hildebrandt, der mehr als doppelt so alt ist wie die Angeklagte. Er hat in Berlin und Spanien als Zuhälter gearbeitet, später saß er wegen Drogenhandels sieben Jahre in einem japanischen Gefängnis. Ob Stefanie D. und er ein Liebespaar waren, bleibt offen; auf jeden Fall haben sie sich die kleine Wohnung der Angeklagten und die Drogen geteilt. Stefanie D. arbeitete vor den Überfällen eine Zeit lang als Prostituierte.
Ein Justizbeamter führt den Zeugen in den Gerichtssaal. Obwohl er nachlässig gekleidet ist, in viel zu weite Jeans und eine abgewetzte Strickjacke, wirkt er keinesfalls verwahrlost; im Gegenteil, er strahlt auch unter diesen Umständen Würde und Charisma aus. Kurz rasierte Haare, dunkelblonde Bartstoppeln, eine Gesichtsfarbe wie braungebrannt, auch wenn das kaum möglich sein kann nach einem Dreivierteljahr in Haft. Bei seinem Anblick verschwindet auch sofort die Verwunderung, warum sich eine junge Frau mit einem wohnsitzlosen Mann Mitte fünfzig zusammengetan hat.
Er nimmt auf seinem Stuhl Platz, zwischen Richterpult und Angeklagter. »Sie sollen gegen die hinter Ihnen sitzende Stefanie D. aussagen«, sagt der Richter. Hildebrandt dreht sich um und schaut sie ruhig lächelnd an, ein wenig zu lange, zwei oder drei Sekunden. Dieser Blick verströmt widersprüchliche Temperaturen, er schmeichelt und droht gleichermaßen.
Man glaubt beinahe, verschiedene Schichten in diesem Blick unterteilen zu können: An seiner Oberfläche ist er voller Charme und Zuneigung; darunter aber geht er in Arroganz und schließlich in eine Grundschicht von Verachtung über.
Der Zeuge wird gefragt, ob die Vorwürfe der Angeklagten zuträfen, doch er verweigert die Aussage. Die Vernehmung dauert daher nur wenige Momente, und als Hildebrandt wieder aufsteht, sieht er Stefanie D. noch einmal mit durchdringenden Augen an. Alles Ausgesparte an diesem Fall – das Liebesverhältnis zwischen einem Berufsverbrecher und einer jungen Drogensüchtigen, Fragen der Macht und der Hörigkeit – scheint in diesem Blickwechsel auf.
Dass Stefanie D. freigesprochen wird, zeichnet sich früh ab. Das Gericht folgt ihrer Version, dass die behauptete Mittäterschaft nur eine Reaktion auf ihre Lossagung gewesen ist. Wie sie jetzt ihr weiteres Leben gestalten werde, fragt der Richter am Ende. »Ich habe einen Welpen, den ich großziehen möchte«, antwortet Stefanie D. Brüchiges Fundament einer neuen Existenz. Hildebrandt hat fünf Jahre Haft zu verbüßen; wäre dieser Fall ein Film, müsste man um die Angeklagte am Tag der Entlassung bangen.
Illustration: Christoph Niemann