Angeklagt: Ferdal H., 25, abgebrochene Tischlerlehre, seitdem arbeitslos
Delikt: schwere Körperverletzung, Raub
Besondere Kennzeichen: extreme Höflichkeit und eine knallrote Wollmütze
Der Wahnsinnige hinter den Gittern der Anklagebank blickt freundlich und fast sanftmütig in den Saal hinein. An seiner verminderten Schuldfähigkeit besteht für das Gericht kein Zweifel. Ferdal H. hat die Wohnung der Eltern in Steglitz auf der Suche nach Geld für seinen Drogenkonsum etliche Male verwüstet, die Mutter mit dem Tode bedroht, den Vater mit Fäusten oder einem Messer verletzt. Die Mutter trägt ihre Ersparnisse seitdem in eingenähten Geheimtäschchen am Körper. Ferdal glaubt, dass sein Vater ihm das Herz des Bruders transplantiert habe: eine Fantasie, die beweist, dass auch Wahnvorstellungen ihre Geschichte haben. Kaum einer hält sich heute noch für Gott oder Kolumbus; stattdessen ist es eine nur vierzig Jahre alte medizinische Technik, die den Rahmen absteckt für die krankhafte Einbildung.
Doch die rasende Brutalität der Taten lässt sich mit der Erscheinung des Beschuldigten nicht in Einklang bringen. Ferdal, ein hübscher Mann mit kurzen schwarzen Haaren, trägt Koteletten und einen eleganten V-Ausschnitt-Pullover; wenn er von der Richterin zu einem Verhandlungsdetail befragt wird, antwortet er mit ruhiger Stimme, in Berliner Tonfall. Ist dieses Auftreten nur das Resultat gelungener Medikation in der Gefängnispsychiatrie? »Meine Mitarbeiter sind begeistert von seiner Höflichkeit«, erzählt auch der gesetzliche Betreuer, der als Zeuge vernommen wird. Immer wieder versucht man vergeblich, im Blick des Beschuldigten ein Zeichen der lauernden Verwirrung zu entdecken.
»Er hat eine fantastische Doppelbuchführung«, sagt der Betreuer: in Gegenwart der Eltern unberechenbar, gegenüber allen anderen Menschen aufmerksam und verständig. Dieser Wandel erscheint ihm untypisch für einen Menschen mit Wahnvorstellungen. Der Betreuer tut deshalb die Aussage Ferdals, sein Vater habe ihn als Kind regelmäßig vergewaltigt, nicht als weitere Blüte der paranoiden Verstörung ab, sondern nimmt sie ernst: Könnte es nicht sein, dass elterlicher Missbrauch die Psychose hervorgebracht hat?
Dann wäre das Verhalten des Sohns nicht allein als schicksalhafte, von frühem Drogenkonsum beförderte organische Erkrankung zu bewerten, sondern hätte seine Ursache in einem familiären Konflikt. Ferdals Geschichte wirkt plötzlich wie das Zerrbild jeder prekären Ablösung eines Kindes von den Eltern. Und wie so oft vor Gericht zieht sich die Kluft zwischen den Angeklagten und den Urteilenden, zwischen den abweichenden und den institutionell verankerten Biografien im Saal für einen Augenblick zusammen: Wie weit, so scheinen sich viele im Raum zu fragen, ist die Normalität der eigenen Existenz von der des Wahnsinnigen entfernt?
Diese irritierende Öffnung des Falles dauert aber nur einen Moment lang an. Denn nun hat der psychiatrische Sachverständige das Wort, ein Grandseigneur seines Fachs, der die Ergebnisse der Untersuchung im sonoren Brustton wissenschaftlicher Überzeugung vorträgt. Jede seelische Krankheit ist einzuordnen – die »paranoid-halluzinatorische Psychose« als Code 10 F22.0 der internationalen Klassifizierungsliste – und mit der richtigen Medikation in den Griff zu bekommen. Die komplizierten Namen der Psychopharmaka, die Ferdal erhält, gehen dem Sachverständigen fließend über die Lippen. »Wenn er zu viel kriegt«, sagt er, »wird er psychotisch.«
Er empfiehlt die Überstellung in eine psychiatrische Klinik und die Unterbindung jedes Kontakts zu den Eltern: eine Maßnahme, die im Urteil des Gerichts dann übernommen wird. Zudem prophezeit er eine lebenslang notwendige Einnahme von Psychopharmaka. Während der Sachverständige sein Referat verliest, meldet sich plötzlich Ferdal zu Wort: »Ich bekomme aber noch eine dritte Tablette«, sagt er leise. »Am Abend. So eine blaue, da steht ›xp‹ drauf, glaub ich.« Der Psychiater ignoriert den Beschuldigten, spricht einfach weiter. Eine unmissverständliche Geste: Die Krankheit ist ein biochemisches Faktum im Hirn, ohne jede Verknüpfung zur Lebensgeschichte, weitgehend anästhesierbar durch die richtige Kombination von Tabletten. Ferdal sagt nichts mehr und setzt sich eine leuchtend rote Wollmütze auf, gegen die Januarkälte im kaum beheizten Saal.
Illustration: Christoph NIemann