Vor ein paar Tagen schickte ein Freund, er ist junger Vater, ein Foto mit den Worten: »Bin jetzt so weit.« Auf dem Foto war ein brauner Flakon mit türkisfarbenem Etikett zu sehen, CARE und BOND stand in großen Buchstaben drauf, es sah aus wie ein Duftspray aus einem Berlin-Mitte-Hotel. Er also auch.
Natürlich war in dem Fläschchen kein Raumduft. Sondern CBD-Öl. CBD ist die Abkürzung für Cannabidiol, ein Molekül, das aus der weiblichen Hanfpflanze stammt und gegen Angst, Schmerzen, Schlafstörungen und Nervosität helfen soll. Und zwar, das ist das große Versprechen, ohne dabei zu berauschen, zu verkatern oder abhängig zu machen. CBD fehlt im Gegensatz zu seinem Verwandten Tetrahydrocannabinol, THC, die psychoaktive Wirkung, weshalb man es legal in Apotheken oder im Internet kaufen kann. Und obwohl die Pharmakologie des Stoffs noch nicht gut erforscht und die Rechtslage nicht komplett eindeutig ist, kommt CBD immer häufiger in Psychotherapien zum Einsatz und wird als Alternative zu synthetischen Schlaf- oder Beruhigungsmitteln und illegalen Drogen genutzt.
Im Schaufenster des Headshops um die Ecke verstauben keine Glasbongs mehr, dort prangt ein nagelneuer Aufsteller, der für CBD-Öl in »Top-Qualität« wirbt; in den Onlineshops von Drogerieketten wie dm und Rossmann kann man CBD mit einem Klick seinem Shampoo- oder Windelkauf hinzufügen; in der Apotheke meines Vertrauens stehen Lutschpastillen mit CBD neben den Em-eukal-Hustenbonbons (die es mittlerweile natürlich auch mit Hanf-Geschmack gibt). Und wenn ich mit dem Fahrrad durch die Stadt fahre, habe ich keine Chance, die riesigen Plakatwände zu übersehen, auf denen eine Berliner Firma die Wirkung ihrer CBD-Produkte mit Einhorn-Küssen und Meeresrauschen auf der Zunge vergleicht.
Vom medizinischen Therapeutikum zum Lifestyleprodukt: Die Karriere, die CBD gerade hinlegt, ist steil. Das Berliner Startup Vaay, verantwortlich für die Einhorn-Plakate und eine CBD-Produktpalette, die mittlerweile auch Duftkerzen oder eine Creme gegen Periodenschmerzen beinhaltet, verzeichnet laut ihrem Sprecher Thilo Groesch aktuell ein zweistelliges Prozent-Wachstum – pro Monat. Soeben wurde bekannt, dass Prominente wie der Fernsehmoderator Klaas Heufer-Umlauf und Fußballer Mario Götze öffentlichkeitswirksam in Vaay investieren. Die deutsche CBD-Branche rechnet dieses Jahr mit einem Umsatz von etwa 180 Millionen Euro, bis 2023 sollen es rund 550 Millionen Euro sein. Im Rest der Welt sieht es nicht anders aus: Das Marktforschungsunternehmen »Research and Markets« prognostizierte im September, dass der weltweite Umsatz von CBD-Produkten von 967,2 Millionen US-Dollar im Jahr 2020 auf 5,3 Milliarden in 2025 wachsen wird, was einer jährlichen Wachstumsrate von über 40 Prozent entspricht.
Diese Zahlen sagen ziemlich viel aus über die Welt und Gesellschaft, in der wir leben. Einerseits gibt es offenbar viele Menschen mit psychischen Erkrankungen oder anderen körperlichen Problemen, mit Ängsten, Nervosität oder Schmerzen, denen CBD zu helfen scheint – was eine sehr gute Nachricht ist, denn im besten Fall können sie so auf andere Arzneistoffe verzichten. Und andererseits gibt es eine steigende Zahl an Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, ohne fremde Hilfe runterzukommen von ihrem Stress und der Hektik des Lebens.
»Andererseits gibt es eine steigende Zahl an Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, ohne fremde Hilfe runterzukommen«
Cannabidiol mache nicht high, sondern »es bringt dich in Ordnung. Es ballert nicht, es balanciert«, steht auf der Website von Vaay. Nein, es ist sicher kein Zufall, dass CBD gerade, pardon, in aller Munde ist.
Zumindest ist das mein Eindruck, was aber auch daran liegen kann, dass die Menschen um mich herum zu jener Zielgruppe gehören, die CBD mit seinen Versprechungen besonders packt: mitteljung (oder mittelalt, je nach Perspektive), berufstätig, digitalaffin, zahlungswillig (denn CBD-Produkte sind alles andere als günstig), womöglich gerade Eltern geworden, offen für Gesundheitstrends, und, besonders wichtig: auf der Suche nach Ausgleich, Ruhe, »Selfcare«. Danach, irgendwie wieder »balancierter« zu werden. Auch in unserem Kühlschrank steht ein Fläschchen. Wir haben es zu Beginn des Teil-Lockdowns bestellt, in Erinnerung an das Frühjahr, als wir im Homeoffice zwei kleine Kinder betreuten, von denen immer eins trotzte, zahnte, Essen durch die Küche warf oder einfach nicht schlafen wollte. Dazu die unsichtbare Bedrohung von außen, die völlig neue Arbeitssituation. Wie oft saßen wir damals abends auf der Couch, abgekämpft wie nach einem Ironman-Triathlon, dabei hatten wir die Wohnung doch maximal zum Einkaufen verlassen. Aber in Wahrheit braucht es noch nicht mal eine Pandemie, um Menschen in der Rushhour-Lebensphase, wie diese Altersspanne zwischen 25 und 40 gern euphemistisch genannt wird, an den Rand ihrer Kräfte zu bringen.
Von CBD habe ich zum ersten Mal vor zwei Jahren von einer italienischen Freundin gehört, die einige Zeit in New York lebte. Mittlerweile hat sie zwei Töchter, zu dem Zeitpunkt zwei und vier Jahre alt, dazu einen 80-Prozent-Job im Marketing, einen Hund und eine nervige Haus-Umbau-Baustelle. Sie raunte mir damals auf dem Spielplatz zu, seit sie abends Hanföl nehme, habe sie das Gefühl, weniger schnell auszuflippen und nachts tiefer schlafen zu können. Warum sie nicht einfach ein Glas Rotwein trinke, fragte ich sie, und ihre Antwort erklärt viel über den Erfolg von CBD: »Weil ich dann jeden Abend mindestens eine halbe Flasche bräuchte, und ich schlafe schlechter, wenn ich getrunken habe. Wenn der Wecker um halb 6 klingelt, wäre ich völlig zermatscht. Außerdem hätte ich Angst, Alkoholikerin zu werden.«
CBD passt perfekt zum Zeitgeist: Es gibt einem das Gefühl, alles im Griff zu haben, weil man eben nicht der Versuchung von Alkohol oder illegalen Drogen erliegt. Stattdessen wählt man die Variante, die einem verspricht, gesund, weil natürlich zu sein. Oder, wie Vaay von sich behauptet: »Wir sind die Guten.« Tatsächlich ist die Wirkung nicht mit jener von THC zu vergleichen, sie ähnelt mehr dem Gefühl nach drei Saunagängen. »Es macht, dass ich mich ein bisschen schwerer und weicher fühle«, sagt der Freund, der gerade Vater geworden ist, »als würde ich unter eine große, weiche Wolldecke kriechen.«
CBD passt nicht nur zum Zeitgeist, es kommt auch gelegen in einer Zeit, in der viele Menschen gestresst und zugleich verunsichert und verängstigt sind. Wenn man Glück hat, hat einen die Coronapandemie ins Homeoffice geworfen, ohne Vorbereitung und mit Seelenchaos zwar, aber immerhin hat man noch Arbeit. Womöglich sogar gleich mehrere Jobs: Arbeitnehmer*in, Erzieher*in, Lehrer*in, Köch*in, alles gleichzeitig, was es natürlich noch komplizierter macht, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit aufrecht zu erhalten. Doch wer Pech hat, dem hat Corona seine Arbeit genommen und stattdessen Existenzängste und Zukunftssorgen gebracht. Oder eingesperrt in einer engen Wohnung, aus der es kaum Entkommen vor Konflikten oder gar Gewalt gibt.
Er überrascht deshalb nicht, dass der CBD-Konsum seit dem Beginn der Pandemie im Frühjahr deutlich gestiegen ist. Laut einer Recherche der »Deutschen Welle« wurden an manchen Tagen im März in den USA fast doppelt so viele Cannabisprodukte verkauft wie im Vormonat. Thilo Groesch, der Sprecher von Vaay, sagt, die Umsätze seiner deutschen Firma seien im Lockdown sogar um 30 bis 40 Prozent gewachsen.
Doch weil Hanfprodukte für viele Menschen - im wahrsten Sinne - noch immer nach 68er-Kiff-Kommune riechen, haben Firmen wie Vaay damit angefangen, dem Ganzen ein neues, Millennial-kompatibles Image zu verpassen. So wie aus der zuvor eher esoterisch angehauchten Bastmatten-Yogawelt der perfekte Sport für die pastellfarbene Instagram-Welt wurde. Dabei geht es im Kern sogar um das Gleiche: achtsamer und damit gesünder zu leben. Wieder bei sich selbst anzukommen, weil man sich irgendwo zwischen Unsicherheiten, ständiger Leistungsbereitschaft und andauernder Erreichbarkeit verloren hat.
»Kein Wunder, dass die Erlaubnis-Vokabel ›Gönn dir‹ so populär in den letzten Jahren wurde«
Der britische Independent fragte vor einiger Zeit sogar, ob Cannabisprodukte »der neue Avocado-Toast« seien. Als Lifestyleprodukt wird CBD von überwiegend in den Achtzigern oder frühen Neunzigern Geborenen genutzt, die einerseits viel vom Leben wollen, sich zugleich aber deutlich mehr Gedanken über die Konsequenzen ihres Handelns machen. Der Rausch hat keinen guten Ruf mehr. Hinzu kommen die Sorgen um die eigene Zukunft und jene dieses Planeten und ein stark gestiegenes Gesundheitsbewusstsein, das Alkohol oder Zigaretten nur noch in Ausnahmefällen zulässt. Kein Wunder, dass die Erlaubnis-Vokabel »Gönn dir« so populär in den letzten Jahren wurde: Betont werden muss nur, was eben nicht die Regel ist.
Natürlich ist es in vielerlei Hinsicht besser, Dinge zu konsumieren, die legal sind, die nicht abhängig machen oder starke Nebenwirkungen haben. Trotzdem könnte man sich die Frage stellen, warum wir uns überhaupt so weit bringen, sie konsumieren zu müssen. Für eine Pandemie, psychische Krankheiten oder chronische Schmerzen kann niemand etwas, die will, soll jeder und jede mit allen Mitteln bekämpfen, die Hilfe versprechen. Was ich meine, ist der oft künstliche Stress, mit dem wir unser Leben anstrengender machen, als es eigentlich ist. Den Druck, den wir uns auferlegen, weil wir uns nicht zugestehen, auch mal durchhängen zu dürfen, sondern immer performancebereit sein wollen. Weil zum Stresshaben das Stressabbauen zwangsläufig dazugehört, konnte eine ganze Entspannungsindustrie entstehen: »Wellbeing«, die neudeutsche Umschreibung von ganzheitlichem Wohlbefinden, das sowohl mentale als auch physische und soziale Faktoren einschließt, zählt zu den wirtschaftlichen Wachstumsbranchen.
Und statt das Hamsterrad einfach mal anzuhalten, greifen wir lieber zu konsumistischen Lösungen, die diese Branche uns anbietet: kaufen Produkte, die so viel kosten wie ein Abendessen in einem schicken Restaurant, buchen eine Reise in ein Wellness-Resort, um mal den »Akku aufzuladen«. Und um anschließend noch leistungsstärker und gesünder weiterrödeln zu können wie zuvor. Wir stoppen so das Hamsterrad nicht nur nicht, wir treiben es sogar an. Die Journalistin Teresa Bücker schrieb hier vor einiger Zeit in ihrer Kolumne, dass jetzt doch die Zeit wäre, sich zu überlegen, wie wir nach dieser Pandemie eigentlich leben wollen – und ob nicht doch einen Ausweg aus dem kapitalistischen Leistungssystem gibt. Wie recht sie hat.
Warum soll es denn ein Problem sein, für das es Abhilfe braucht, ab und zu müde und erschöpft oder aufgekratzt und nervös zu sein? Das ist doch völlig normal, gerade in Zeiten wie diesen. Das scheinen wir aber verdrängt zu haben, weil es nicht passt in unsere Vorstellung einer Welt, in der alle Gefühle ausbalanciert und das ganze Streben auf eine möglichst hohe Lebensproduktivität hin ausgerichtet sein soll.
Wer sich künstlich hochfährt, muss sich künstlich runterfahren, klar. Notfalls halt mit einem süßen Einhorn-Kuss – der in Wirklichkeit übrigens ziemlich bitter schmeckt.