Alle denken, dass jeder Liebe erlebt hat. Mich nervt die Selbstverständlichkeit, mit der die Leute davon ausgehen, dass man ständig Beziehungen hat, oder eine Beziehung. Immer geht es um Liebe, überall, in Liedern und Filmen und Büchern. Man kommt, als jemand, der noch nie eine Beziehung hatte, nicht vor auf dieser Welt. Man steht daneben und denkt: Bin ich vielleicht kein normaler Mensch? Dann sucht man nach Gründen: Warum kriegen alle das auf die Reihe, nur ich nicht?
So erzählt es Katharina Engel*, sie ist 35 Jahre alt und hat etwas Schneewittchenhaftes, weil sie schmal ist und ein kleines, blasses Gesicht hat, umrahmt von dunklen Locken. Ihr Lächeln ist verhalten, beinahe schüchtern, und in ihren Augen glaubt man Wehmut zu erkennen.
Ehrlich: Das Treffen mit Katharina Engel birgt eine Überraschung. Natürlich muss eine Frau, die noch nie eine Liebesbeziehung hatte, nicht aussehen wie ein Pfannkuchen. Aber dass sie so hübsch sein würde, hätte man nicht gedacht.
Zu unserer Begegnung kam es so: Katharina Engel hatte eine wütende Mail ans SZ-Magazin geschrieben, weil in einer Ausgabe, die nur von der Liebe handelte, niemand vorkam, der noch nie verliebt war. Ob uns eigentlich klar sei, schrieb sie, dass es Leute gebe, »Mitte dreißig, nicht dumm, nicht hässlich, nicht sozial inkompetent, die nicht mitreden können, wenn alle Welt ganz selbstverständlich von der Liebe spricht?« Und dass es ihnen vielleicht helfen würde zu erfahren, dass sie nicht ganz allein dastehen mit ihrem Problem.
Denn es ist ein Problem, noch nie verliebt gewesen zu sein, und das wird größer, je mehr Zeit vergeht. Man entwickelt sich immer weiter weg von dem, was als normal angesehen wird. Irgendwann ist man so verspannt, dass gar nichts mehr geht. Wer die Worte »noch nie verliebt« im Internet eingibt, stößt auf Sätze wie: »Ist das unnormal? Ich bin zwölf und war noch nie verliebt.« 18-Jährige verzweifeln darüber, noch Jungfrau zu sein. Oder Zwanzigjährige darüber, immer nur kurze Beziehungen gehabt zu haben.
Heute ist jeder selbst verantwortlich für sein Unglück. Oder verpflichtet zum Glück. »Wenn früher jemand keinen Partner gefunden hat, war das Schicksal, so sah man es selbst und die Umwelt auch«, sagt der Paartherapeut Michael Mary. »Heute versagt man im Lebens- oder Liebesmanagement.«
Dabei fing bei Katharina alles genauso an, wie es meistens beginnt: Als Teenager verknallte sie sich ein paar Mal, war aber zu schüchtern, den ersten Schritt zu tun. Also merkte niemand etwas, geschah nichts, litt sie still vor sich hin.
Dann gab es einen Jungen, der wurde so etwas wie ihr Freund, vier oder sechs Wochen lang, genau kann sie das nicht sagen, es gab keine richtige Beziehung und somit auch kein richtiges Beziehungsende. Darum findet Katharina, »das zählt nicht«. Auch wenn die Art von undefinierter Beziehung eigentlich normal ist unter 16-Jährigen.
Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte in dieser Phase, mit diesem Jungen. Sie war unsicher. Die Angst, etwas falsch zu machen, blockierte sie. Bald war der Junge mit einem anderen Mädchen zusammen. Sie blieb zurück, noch verschüchterter. Die Schuld für dieses erste Scheitern suchte sie bei sich und trägt sie seitdem mit sich herum. Dann passierte nichts mehr. Sie verließ die süddeutsche Kleinstadt, aus der sie stammt, machte eine Ausbildung zur Buchhändlerin, lebte in München und lebte in Hamburg, sie sang im Chor und ging in Sportclubs, paddelte zu zweit im Kajak und spielte Volleyball, fuhr Fahrrad in einer Gruppe. Sie lernte viele Leute kennen, auch später bei der Arbeit im Buchverlag, und es verliebten sich Männer in sie. Aber sie, sie verliebte sich nicht.
Es gab keine Umarmungen zu Hause.
Mit dreißig wurde ich rappelig. Auf jede verdammte Hochzeit musste ich allein gehen, das ist echt anstrengend. Vor dem Brautstrauß bin ich jedes Mal davongelaufen. Vielleicht hätte ich mal was ändern sollen. Aber ich kann mit dem ganzen Hochzeitsthema nichts anfangen, ich weiß ja nicht mal, was eine Beziehung ist. Irgendwann verkrampft sich das Verhältnis zu allen Männern. Wenn man bei jedem anfängt nachzudenken, wäre das jetzt einer oder nicht? Das ist ja totaler Quatsch.
Mir ist klar, dass ich nicht schlecht aussehe. Doch gutes Aussehen hilft nichts. Man braucht Mut. Damit meine ich mich selbst. Und die Hemmschwelle, mit jemandem zusammenzukommen, wenn man noch nie mit einem Mann zusammen war, wird immer größer. Ich habe Freundinnen, die gehen abends in einen Club und reißen irgendwelche Typen auf. Das geht für mich nicht. Ich hätte Angst davor. Ich habe nie den Mut aufgebracht zu spielen, zu flirten. Ist doch komisch, wenn man noch nie mit jemandem zusammen war. Wann soll man dem Typen erzählen, dass man sexuell unerfahren ist?
Sie erzählt stockend. Ist ja auch kein angenehmes Thema. Außerdem hat sie nicht gerade Übung darin, über solche Dinge zu reden. Ihre Eltern fragen nicht und haben auch nie gefragt, was denn so los ist bei ihr, privat. Höchstens an Geschichten aus ihrem Berufsalltag waren sie interessiert. Es gab keine Umarmungen zu Hause, nichts Überschwängliches, keine Gefühle.
Eine ihrer beiden viel älteren Schwestern ist ewiger Single wie sie, beruflich ausgelastet, immer viel um die Ohren. Sie wohnt in einer WG und hat das Thema Liebe für sich abgeschlossen. Aber sie hat, »wenigstens«, sagt Katharina, ein paar gescheiterte Beziehungen hinter sich. Die andere Schwester ist verheiratet und hat zwei Kinder. Ihr sagt Katharina manchmal, dass sie nicht glücklich ist. Diese Schwester meint, das sei ja alles kein Wunder, so wie es bei ihnen zu Hause war. Wie die Eltern mit Gefühlsdingen umgegangen sind.
Katharinas beste Freundin seit der ersten Klasse, verheiratet, ein Kind, ist eine der wenigen, mit denen sie offen über ihr Problem spricht. Sie tröstet sie dann: »Irgendwann findest du schon jemanden.« Katharina denkt in so einem Moment, aufgebracht inzwischen: Oder eben auch nicht!
Wenn sie eingeladen wird, fürchtet sie sich vor der Frage, ob sie jemanden mitbringen möchte. Sie antwortet so etwas wie: »Ich glaube, mein Freund hat da frei.« Und lacht. Die anderen wissen, dass das gelogen ist. Aber das Thema ist damit abgehakt für den Abend.
Mit ihren Freunden, die in Beziehungen leben und Kinder haben, ist ein Zusamensein oft schwierig. Vor allem, wenn sie sich beklagen. Oder sich streiten. Oder sich darüber beklagen, dass sie oft streiten. Katharina findet, sie sollten froh sein, sich zu haben. Sie weiß, dass Streit zur Liebe oder zur Partnerschaft gehört. Aber sie glaubt, dass die Leute nicht zu schätzen wissen, wie es ist, jemanden zu haben, mit dem man das Leben teilt. Und dass das keine Selbstverständlichkeit ist.
Der Druck, den andere ihr machen, das Gefühl, nicht zu passen, ist oft schlimmer für sie als ihre Sehnsucht. Allerdings, meint der Paarberater Michael Mary, »ist der innere Konflikt eigentlich immer da, das Außen stößt einen nur darauf. Denn auch wenn man jahrelang allein klarkommt und ein gutes Leben führt, wird der Zustand irgendwann zum Problem. Weil man nur über die Bestätigung eines anderen das Gefühl bekommt, als Mensch liebenswert und einzigartig zu sein.«
Den Rat, dass sie einfach nicht mehr suchen, sondern locker lassen soll, hat sie natürlich auch gehört. Nur wie das gehen soll, hat ihr keiner verraten. Sie hat versucht, die Hoffnung aufzugeben. »Denn hoffen heißt warten«, sagt sie. Es ist ihr nicht gelungen.
Der nächste Schritt: an den eigenen Erwartungen etwas ändern. Katharina hat sich, wie wahrscheinlich fast alle, gewünscht, dass die Liebe einfach so passiert. Dass man sich beim Bäcker gegenüber steht und die Erde bebt. Oder so. Um sich davon zu lösen, hat sie die Online-Partnervermittlung Parship ausprobiert. Drei Wochen lang hat sie im Netz jeden Abend Partnervorschläge gelesen, aussortiert, beantwortet, zehn Männer getroffen. Nichts.
Bei Parship war es auch so: Sie haben verschiedene Ratgeberthemen, aber darin beziehen sie sich auf Leute, die schon Beziehungen hatten und auf ihren Erfahrungsschatz zurückgreifen können. Ich habe deshalb an Parship geschrieben, jetzt haben sie einen Ratgeber für Leute in ihr Programm genommen, die noch nie eine Beziehung hatten.
Man ist ein Alien. Und denkt eines Tages: Die anderen sehen mich auch so. Wenn das erst mal eingetreten ist, kriegt jeder anzügliche Spruch wie »lange nicht gefickt, oder?«, von dem man ja weiß, dass er nur so dahingesagt ist, eine Bedeutung. Natürlich lache ich mit – obwohl ich gar nicht wirklich weiß, was gemeint ist. Man sieht es auch in Filmen, liest darüber in Büchern, ist ja nicht wirklich so, als käme man von einem anderen Planeten.
Auf dem Oktoberfest hat einer mich mal angemacht, und als ich mich nicht drauf eingelassen habe, hat er gesagt, »die hat ja wohl noch nie«. Das war, als wäre ich ertappt worden. Ich habe mich total erschrocken. Und mich gefragt: Sieht man das?
Seit Kurzem hat Katharina nun doch einen Freund. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick, sie haben sich nicht beim Bäcker gesehen, die Erde hat nicht gebebt. Sie haben sich, wenn man so will, klassisch kennengelernt: über Freunde. Und sich einander langsam angenähert.
Er ist ähnlich unerfahren wie sie, also das Gegenteil eines Draufgängers. Aber wenn sie coolen Typen gegenüberstand, dachte sie ohnehin immer: Das ist so ein cooler Typ, das kann nichts werden. Mit ihrem Freund hat sie das Gefühl, als gingen zwei Vorsichtige zusammen aufs Glatteis. Tröstlich. Nicht bedrohlich.
Vor Kurzem war sie bei ihren Eltern zu Besuch und hat ihnen Bilder gezeigt, da saß ihr Freund auf ihrem Bett. Ein Mann, den die Eltern noch nie gesehen hatten. Sie reagierten nicht. Als es um die Geburtstagsfeier des Vaters ging, sagte sie, Sven kommt mit, okay? Die Eltern fragten nicht, wer ist denn Sven? Beim Essen taten alle so, als hätte es Sven immer schon gegeben.
Dann machte sie es offiziell und stellte ihren ersten Freund ihren Eltern vor, etwas, was andere zwanzig Jahre früher machen. »Ich glaube, wir sind jetzt so ungefähr bei Alter 17 oder 18 angekommen«, sagt sie. In ihren Augen ist keine Wehmut mehr zu sehen, sondern ein Funkeln. Sie schlüpft in ihren Dufflecoat und beeilt sich, denn sie hat ein Date. Mit ihrem ersten Freund.