Der Tag, an dem ich mein erstes Bravo kaufte, ist mir noch genau vor Augen. Meine Mutter musste in einem Bürogebäude etwas abgeben und ich wartete auf sie in dem Schreibwarengeschäft nebenan, um mir einen der Silberpfeil- oder Lasso-Comics zu besorgen, die ich Woche für Woche las. In den fein säuberlich geordneten Regalen fand ich die Hefte nicht, und als ich noch ein wenig verloren in dem Laden herumstöberte, um nicht auf der Straße warten zu müssen, fiel mein Blick auf eine bunte Zeitschrift neben der Kasse. Die grobe Aufteilung des Titelblatts ist mir bis heute in Erinnerung, mit Schriftzügen und Fotos von Popstars, die mir teilweise fremd, teilweise aus den Hitparaden-Sendungen im Radio und im Fernsehen bekannt waren.
Die größte Anziehungskraft ging jedoch von der Abbildung eines halb nackten Mädchens links oben auf dem Umschlag aus. Mit klopfendem Herzen und dem Geld, das ich eigentlich für den Indianercomic bekommen hatte, bezahlte ich das Heft. Wie meine Mutter diesen Kauf, den unvermittelten Wandel meiner Lektüre aufnahm, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls gehörte ich von diesem Zeitpunkt an, ich war acht oder neun, auf Jahre hinaus zu den regelmäßigen Bravo-Lesern.
Es ist eigentümlich, dass sich dieser Moment, dieses Bild so tief ins Gedächtnis eingraviert haben. Wer könnte etwa noch die allererste Ausgabe der Tageszeitung benennen, die er am Frühstückstisch gelesen hat, oder das erste Kinderbuch? Diese Anfänge ereigneten sich beiläufig, schleichend. Dass die erste Begegnung mit Bravo dagegen als biografisches Ereignis Bestand hat, bekommt man immer wieder zu hören, in Artikeln und Aufsätzen über die Zeitschrift oder in Unterhaltungen mit Freunden.
Vielleicht hat es mit dem deutlicheren Einschnitt zu tun, der mit dem Kauf des Hefts verbunden war: eine Art Initiation in eine neue Lebensphase, die erste, im Rückblick fast befremdlich frühe Ablösung von der Kindheit. Bravo feiert in diesem Jahr Jubiläum. Am 26. August 1956 erschien die erste Ausgabe des zu Beginn noch als »Zeitschrift für Film und Fernsehen« etikettierten Heftes, das seinen Schwerpunkt jedoch rasch auf deutsche und amerikanische Popmusik verlagerte und innerhalb weniger Jahre eine Auflage von weit über einer Million erzielte. Das wichtigste Markenzeichen und der Grund, warum das erste Bravo eine solche Zäsur markierte waren jedoch nicht die Starschnitte, Foto-Lovestorys oder Teen-Talent-Wahlen (die Vorboten heutiger Castingshows), sondern die Aufklärungsseiten, die in den vergangenen Jahrzehnten zweifellos das Heranwachsen ganzer Generationen in Deutschland geprägt haben.
In dem vom Archiv für Jugendkulturen herausgegebenen Band 50 Jahre Bravo schreibt die Psychologin Renate Freund: »Wir sind ein Volk, das in seiner Jugend in Bezug auf Wissen über und Kultur im Umgang mit Sexualität in einem Ausmaß dem Einfluss von Bravo ausgesetzt war, von dem die etablierten pädagogischen Institutionen von Kirche und Staat nur träumen können.« Man müsste noch genauer sagen: nicht nur in seiner Jugend, sondern bereits in einem weitaus jüngeren Alter. Denn lag das Kennzeichnende früher Bravo-Lektüre nicht genau darin, dass man Woche für Woche von Dingen erfuhr, zu denen man selbst erst Jahre später in der Lage sein sollte?
Das Heft lieferte die Anleitung für Trockenübungen im Reich der Sexualität. Ich erinnere mich, dass ich die zwischen Starporträts, Schicksalsreportagen und Hitlisten eingestreuten Aufklärungsgeschichten von meiner ersten Ausgabe an aufmerksam las, schließlich war ja das Foto auf der Titelseite der entscheidende Anreiz zum Kauf gewesen. Es ist wahrscheinlich die Gemeinsamkeit vieler Bravo-Leser, dass umfassendes Wissen vor jeder Erfahrung stand, dass man von Sex als 13- oder 15-Jähriger nicht mehr durch ein Ereignis, eine Begegnung überrascht werden konnte, sondern umgekehrt diese ersten Ereignisse sich immer schon vor dem Hintergrund eines angefüllten Bilderreservoirs bewähren mussten. Das Jubiläum der Bravo ist ein guter Anlass, um darüber nachzudenken, was die Zeitschrift aus dem Sex ihrer Leser gemacht hat.
»Aufklärung« tauchte in den Bravo-Heften zu Beginn der sechziger Jahre in Form kommentierter Leserbriefseiten auf, von 1963 an unter der Leitung eines »Dr. Christoph Vollmer«. Die reaktionäre Grundausrichtung der Antworten in den ersten Jahren ist überraschend; noch im Jahr 1968 bezeichnete der Berater etwa Homosexualität als »abartig« und heilungsbedürftig und empfahl Jungen mit Neigung zur Selbstbefriedigung, so lange an die frische Luft zu gehen, bis das Verlangen nachlässt. Anfang 1969 betreute dann kurzzeitig eine schwedische Ärztin namens »Kirsten Lindstroem« die Aufklärungsseiten und führte eine Liberalisierung der Empfehlungen ein; im Herbst 1969 nahmen schließlich der berühmte »Dr. Jochen Sommer« und wenig später »Dr. Alexander Korff« ihre Arbeit auf, beides Pseudonyme des Sexualtherapeuten Martin Goldstein, der bis 1984 bei Bravo beschäftigt war. Im Laufe nur eines Jahres vollzog die Zeitschrift eine rasante Kehrtwende. Die weit gehende Dämonisierung der Sexualität war nun größtmöglicher Aufmerksamkeit und Einfühlung gewichen, getreu jener Überzeugung Martin Goldsteins, die er in einem Beitrag zu 50 Jahre Bravo noch einmal äußerte: »Sexuelle Unterdrückung ist eine übliche Handhabe von Machthabern (...). Ich wollte für Befreiung eintreten.«
Aber war es wirklich eine »Befreiung«, die mit den Aufklärungsseiten einherging? Zweifellos wurde nun offen über die Dinge gesprochen, so offen, dass zwei Ausgaben von 1972 wegen der offenherzigen Darstellung gleichgeschlechtlicher Liebe sogar von der »Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften« indiziert wurden. Aber mit den fortwährenden Erlebnisgeschichten über den ersten Kuss, die ersten Berührungen, das erste Miteinanderschlafen war noch ein anderer Effekt verbunden als die bloße Information, als das rückhaltlose Sagen, wie es wirklich ist.
Heft für Heft legte Bravo nun ein festes Erzählmuster über die vagen Wünsche und Vorstellungen seiner jungen Leser. Es wurde eine verbindliche Reihenfolge der Annäherungen bestimmt: An den einfachen Kuss schloss sich der Kuss »mit Zungenschlag« an, an das »Streicheln über der Gürtellinie« (in den späten siebziger Jahren auch mit dem Begriff »Necking« benannt) das »Streicheln unter der Gürtellinie« oder »Petting«, an das Petting schließlich das »Erste Mal«, das Ziel aller Vorstufen und Anstrengungen. Auf den Aufklärungsseiten von Dr. Korff waren alle paar Monate Tabellen abgebildet, in denen man nachlesen konnte, wie viele der befragten Jugendlichen schon welche Stufe der Entwicklung durchlaufen hatten.
Bravo gab also etwas vor, was man »Staffelung der Sexualität« nennen könnte, und ein geglücktes Heranwachsen war gebunden an das Passieren der verschiedenen Stadien, deren genauer Ablauf in den einzelnen Folgen beschrieben wurde. »Beim richtigen Petting...«, hieß es in diesen Artikeln immer wieder oder: »Beim Ersten Mal ist es entscheidend, dass...«
Welchen Einfluss hatte dieser wöchentliche Fortsetzungsroman der sexuellen Initiation auf die Leser des Heftes? Das mittlerweile aus zahlreichen Beratern bestehende »Dr.-Sommer-Team« würde auch heute insistieren, dass es um Anleitung, Wissensvermittlung, eben »Aufklärung« gehe (schöne Pointe der deutschen Sprache, dass sich die epochale geistesgeschichtliche Leistung in der Biografie jedes Einzelnen wiederholt). Doch genauso gut könnte man sagen, dass diese Wissensvermittlung zu einem beträchtlichen Teil auf Willkür und Fiktion beruht: Sie ordnet jene Ansammlung verwirrender, kurioser, demütigender und euphorisierender Erfahrungssplitter, die man Pubertät nennt, zu einer linearen Erzählung und vermittelt jedem Leser, dessen Geschichte von dieser Linie abweicht, das Gefühl unzureichender Normalität. »Sexuelle Unterdrückung ist eine übliche Handhabe von Machthabern«, sagt Dr. Sommer. Sexuelle Befreiung ebenso.
Als kaum der Grundschule entwachsener Leser war ich selbstverständlich davon überzeugt, dass die Beschreibungen der Aufklärungsseiten deckungsgleich seien mit dem, was auf mich zukommen würde. Das Heft bildete gewissermaßen eine natürliche Ordnung der Geschehnisse ab. Vor einigen Jahren blätterte ich noch einmal in einer Bravo-Ausgabe, und wenn es sich in der Zeit zuvor nicht ohnehin deutlich genug erwiesen hätte, wäre diese Lektüre ein letzter Beweis gewesen, dass die natürliche Ordnung eher eine erdachte Sprache mit komplexer Grammatik ist. Innerhalb von 15, 20 Jahren hatten sich nämlich auffällige Verschiebungen im System dieser Grammatik ergeben.
Eine Kategorie wie »oberhalb der Gürtellinie«, ein Begriff wie »Necking« war nun verschwunden; stattdessen stieß ich in den Texten mehrmals auf ein mir völlig unbekanntes Stadium. Mittlerweile war von »Heavy Petting« die Rede, einer hinzugefügten Zwischenstufe auf dem Weg zum Ersten Mal. Für die heute 13-jährigen Leser wird dieser Begriff zweifellos große Autorität haben; wenn sie nicht irgendwann »Heavy Petting« praktizieren, begreifen sie ihre Entwicklung als abweichend. In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren gab es dieses Stadium noch gar nicht; und es wäre umgekehrt ein befremdliches Defizit gewesen, vom Petting nicht direkt zum Ersten Mal überzugehen. Vielleicht macht dieser einzelne Begriff die ganze Paradoxie des aufklärerischen Unternehmens deutlich.
Eines der frühesten Hefte, die ich mir gekauft hatte, bewahrte ich monatelang in der Schublade meines Schreibtisches auf. Mir gefiel das Mädchen auf dem Titelbild, das in dieser Ausgabe (erschienen am 7. September 1978) ausnahmsweise kein Star war, sondern eine Folge der Serie von »Dr. Korff« ankündigte. »Bea« hieß sie, ein braunhaariges Mädchen mit verträumtem Blick und wunderschönen Lippen, und sie erlebte im Heftinnern mit einem »Stefan« ihren ersten Kuss. In der Geschichte von Dr. Korff heißt es: »Er beugt sich über sie und presst seinen Mund fest auf den ihren. Er macht es so heftig, dass er ihr ein bisschen weh tut. Ihre Lippen halten den Druck nicht aus, sie öffnen sich. Im selben Augenblick spürt sie Stefans Zunge in ihrer Mundhöhle. Nun tut es nicht mehr weh. Ganz langsam entspannt sie sich. Behutsam bewegt sie auch ihre Zunge.« Diese Sätze brannten sich dem Neunjährigen tief ein (beim jetzigen Lesen kam sofort wieder das Gefühl von damals zurück, hier würde ich etwas für die Zukunft Wichtiges erfahren). Lange Zeit war ich davon überzeugt, dass sich ein richtiger Kuss tatsächlich so abzuspielen habe, dass man erst einen Widerstand brechen müsse, um in den Genuss des Dahinterliegenden zu gelangen.
Die Aufklärungsgeschichten in Bravo folgten immer dieser Dramaturgie. Es ging um die übergenaue Betonung von Zäsuren, Schwellen, Überschreitungen folgerichtig also, dass sogar in der Beschreibung eines Kusses bereits jene Konstellation vorgeformt ist, die dann in den zahllosen Berichten über das Erste Mal, über das Durchstoßen des Jungfernhäutchens, im Zentrum steht.
Wenn man nach den Bravo-Jahren vielleicht eines gelernt hat: dass es gerade auf das Abbauen der Schwellen ankommt, auf die unbemerkten Übergänge, auf das Spielerische, wie Selbstverständliche, dann stand Aufklärung für das genaue Gegenteil für das Zergliedern dieses Prozesses in einzelne Stationen. Der berühmte Bravo-»Starschnitt« kommt einem in den Sinn, jenes lebensgroße Poster eines Popstars, das in einzelnen Portionen über Monate hinweg in den Heften enthalten ist und von den Lesern zusammengefügt werden muss.
Lieferte die Aufklärungsserie Woche für Woche nicht etwas Ähnliches: einen Starschnitt der eigenen Sexualität? Bravo unterteilte das formlose Ganze der Erwartungen in Etappen. Und wie das vollendete Bild des Stars, mühevoll zusammengesetzt und an der Innenseite der Kinderzimmertür befestigt, niemals realistisch und wie aus einem Guss wirkte, sondern seine Nahtstellen und Ränder preisgab genauso sah nach jahrelanger Bravo-Lektüre auch die Welt der eigenen Fantasien und Wünsche aus. Sex in Lebensgröße, ja, aber als schiefe Aneinanderreihung von Fragmenten.
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