»Meine Regel: tagsüber zehn Zentimeter, am Abend höher«

Seit zwei Jahren ist Carine Roitfeld nicht mehr Chefin der französischen Vogue - und trotzdem geht in der Modewelt nichts ohne sie. Ein Gespräch über wirkungsvolle Absätze und Kosakenbräuche.

Madame schwebt ein. Anders kann man es nicht beschreiben, wie Carine Roitfeld, 58, an diesem kalten New Yorker Wintermorgen das »Mark Hotel« betritt. Nur hat Madame absolut nichts Madamiges an sich: Roitfeld trägt unterschiedliche Diamantohrringe, ein messerscharf geschnittenes graues Kostüm und trotz Eiseskälte keine Strümpfe. Niemals. Dieser Look zwischen Eleganz und Wildheit hat sie berühmt gemacht, und obwohl sie ihre Stellung als Hohepriesterin der Mode – Chefredakteurin der französischen »Vogue« – vor zwei Jahren verloren hat, posten noch heute alle Fashionblogs der Welt, was sie trägt. An ihr kommt niemand in der Modewelt vorbei.

Im Februar erschien die zweite Ausgabe ihres Hochglanzheftes »CR Fashion Book«. Thema: Ballett. Sie sei »besessen« davon, erzählt sie beim Ingwertee. Seit eineinhalb Jahren nimmt sie Ballettunterricht, ihr Körper habe sich komplett verändert. Deshalb jetzt dieses Heft.

In der ersten Ausgabe ging es um Wiedergeburt, da war sie gerade Großmutter geworden. Das »CR« im Titel ist also Programm: Bei Carine Roitfeld geht es immer um Carine Roitfeld.

Später wird sie sich dann in ihrem weißen Mercedes-Jeep durch die Stadt kutschieren lassen. Weißer Mercedes-Jeep? Wirklich? »Er ist ein wenig geschmacklos, aber das ist unterhaltsam. Non?«

SZ-Magazin: Als Sie 2011 nach zehn Jahren die französische Vogue verließen, sagten Sie, es sei ein goldener Käfig gewesen. Wie ist das Leben hier draußen?
Carine Roitfeld: Es ist gut, wieder in der Realität zu sein. Und ich weiß wieder, was es heißt, auf der Straße ein Taxi finden zu müssen.

Für die Vogue haben Sie einen neuen Frauentyp, einen neuen Look erfunden. Wie würden Sie ihn beschreiben?

Erotik-Porno-Schick. Die Frau, die ihn tragen konnte, war sexy, aber immer noch elegant. Nicht vulgär. Ich habe sie auch mal »black-eyed woman« genannt, weil ich ihr immer sehr viel Kajal um die Augen geschmiert habe. Ich mag keine kleinen Modelmädchen mit halb offenen Mündern und Zöpfchen. Die Frauen in meinem Heft waren immer sehr selbstbewusst. Sie sollten zeigen, was sie haben.

Warum funktioniert dieser Look 2013 nicht mehr richtig?

Ich persönlich will nicht mehr so viel Nacktes sehen. Ich will es lieber intellektuell. Und ich will mich amüsieren, wenn ich Frauen für ein Magazin anziehe, ich will mich kaputtlachen am Set. Viele Leute in der Branche nehmen die Mode viel zu ernst.

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Sie haben als erste Modechefin einen schwarzen Transvestiten mit Bart auf das Cover gepackt.
Das war toll, nicht? Und es hat sich verkauft, trotz der üblichen Bedenken. Mein Grundsatz war immer, sehr Klassisches mit sehr Gewagtem zu verbinden. Ich hängte zum Beispiel Christy Turlington die Kette einer Chanel-Tasche um den Hals und die Tasche baumelte an ihrem Rücken herunter. Das sah nach Punk aus, nicht wie die übliche spießige Handtaschen-Werbung. Ich habe in dieser Zeit eine Menge Briefe bekommen.

Nette Briefe?

Nein, sehr fiese Briefe. Drohungen waren auch dabei. Wie bestimmte Leute auf Bilder reagieren, ist unfassbar. Aber es waren deren Fantasien, nicht meine. Ich habe zum Beispiel nie Fotos gedruckt, die meinen Kindern schaden konnten. Keine Magersüchtigen, keine Heroin-Look-Mädchen. Auf meinen Fotos sah man keine Drogen oder Blut.

Aber Diamanten. Und Zigaretten. Das reicht ja heute schon als Skandal.
Vor 30 Jahren hat man jedem Model eine Zigarette in den Mund gesteckt, weil es gut aussah. Das tut es noch immer.

Womit provozieren Sie heute? Ich glaube, Humor ist wieder als Provokationsmittel dran. Deshalb lasse ich Bruce Weber machen, ich folge seiner Verrücktheit blind. Wir haben zum Beispiel Big Ang aus der Reality-Show Mob Wives fotografiert, eine vollbusige Barbesitzerin aus einer Mafiafamilie. Und dann hatten wir noch einen Schimpansen aus Las Vegas im Armani-Smoking. Ich hielt ihn lange im Arm, ich war besessen von ihm.

Wollen wir über Ihre größte Obsession sprechen?

Was könnte die sein?

Ich denke, High Heels. Niemand trägt so hohe Schuhe wie Sie.
Vielleicht noch Lady Gaga. Ich bin stolz auf meine Füße, denn sie sind perfekt. Mein Tanzlehrer ist eifersüchtig auf sie, weil ich sie so gut spreizen kann. Ich könnte Fußmodel werden.

Sie sind also der Beweis, dass jahrzehntelanges Tragen von sehr hohen Absätzen dem Fuß nicht schadet?
Sagen wir so: Ich habe gute Fußgene. Die wichtigste Regel ist aber: Man darf vor der Absatzhöhe keine Angst haben, sonst fällt man hin. Ich würde niemals Ugg Boots oder Flipflops tragen. Das mag der Fuß nicht.

Was ist falsch an Flipflops?
Ich kann das Geräusch nicht ertragen.

Ab wann begannen hohe Schuhe in Ihrem Leben eine Rolle zu spielen?
Als ich den Fotografen Mario Testino traf. Er ist so groß, und um mit ihm auf Augenhöhe zu sprechen, brauchte ich Absätze. Dann konnte ich nicht mehr aufhören, und sie wurden zu meiner Uniform.

Wann sind High Heels zu hoch?

Nie. Meine Regel lautet: tagsüber mindestens zehn Zentimeter, am Abend höher. Stilettos haben übrigens noch andere Vorteile. Wenn er Rückenschmerzen hatte, fragte mich Tom Ford immer, ob ich in Stilettos auf seinem Rücken auf und ab spazieren könnte. Es hat gegen seine Verspannungen geholfen.

Also zieht man am Ende hohe Schuhe doch für Männer an, richtig? In Ihrem Fall für Mario Testino und Tom Ford.
Bei Tom geht die Sache weiter. Ich war und bin seine weibliche Ergänzung. Er fragte mich damals bei Gucci immer: Was würdest du anziehen? Wie hoch darf ein Kleid geschlitzt sein? Wie viel Busen darf man bei der Bluse sehen? Mein Körpergefühl galt ihm als Maß seiner Dinge.

Mit welchem Ergebnis?
Wir haben die Handtasche und die Sonnenbrille sexy gemacht. In den Neunzigerjahren fingen wir an, den Mädchen Handtaschen auf den Laufsteg mitzugeben. Und bumm, plötzlich waren die Taschen sexy. Tom ist ein extrem guter Geschäftsmann. Auf sehr raffinierte Weise hat er dieses ganze Studio-54-Jetset-Ding an seine Handtaschen gekoppelt.

Meine Meditation sind Ballettstunden.

Die Unersättliche Neben ihrem eigenen Magazin CR Fashion Book betreut Carine Roitfeld seit Kurzem als Fashion Editor alle Ausgaben von Harper’s Bazaar weltweit.

In den letzten Jahren sind Sie zum Blog-Star geworden. Mehr noch, Ihre Kinder Julia, Vladimir und Sie werden wie die Kennedys auf einem Blog namens I want to be a Roitfeld gefeiert, betrieben von einer Ihnen unbekannten Person. Ist das eine Ehre oder bloß Stalking?
Ich fühle mich geschmeichelt. Wir stehen da als die Royal Family der Mode. Diese Frau – ich glaube, es ist eine – ist besessen von uns. Aber sie postet nur Nettes und unterstützt mich auf eine merkwürdige Art. Wenn ich auf einer Modenschau auftauche, ist das Bild eine Minute später auf ihrem Blog. Sie schreibt über mein Magazin, die Ausstellung meines Sohnes Vladimir …

Aber?
Aber ich will sie nicht treffen. Es ist gesünder, sie nicht zu kennen, finden Sie nicht?

Doch.
Sie findet eine Menge Bilder aus meiner Vergangenheit, ich möchte gern wissen, wo. Sie vergisst keinen Geburtstag meiner Kinder. Einmal kam eine Frau zu meiner Buchsignierstunde, sie lächelte merkwürdig, vielleicht war sie das. Vielleicht habe ich sie getroffen und weiß es nicht.

Man kann die Bloggerin ein wenig verstehen. Sie ist fasziniert von einer Frau, die selbst noch als Großmutter unfassbar gut aussieht.
Großmutter. Stimmt. Das bin ich seit der Geburt meiner Enkelin Romy. Ich altere allerdings langsam, vielleicht weil ich ein so konservatives Leben führe. Ich hatte zum Beispiel erst mit 40 eine Chanel-Tasche, nicht mit 20 wie die meisten Mädchen heute. Ich bin immer noch mit demselben Mann zusammen, ich habe keine Tattoos oder Piercings, ich habe keine Selbstzerstörung betrieben. Fantasien musste ich nicht ausleben, die wanderten alle gleich in meine Arbeit.

Was ist der Vorteil Ihres Großmutter-Alters?

Ich habe jetzt eine Menge Freiheit. Die will ich für immer behalten.

Könnte man sagen, die Pariser Großmütter sind die heißesten der Welt?
Da sage ich nicht nein, aber die Idee der französischen Frau und ihrer Verführungskunst ist eine Fantasie. Wenn Sie durch Paris laufen und dort die U-Bahn nehmen, werden Sie enttäuscht sein. Die Leute denken immer, dort sitzen Hunderte von Catherine Deneuves, die sich mit Parfum auskennen, über Dior und Chanel parlieren oder die aktuelle Fingernagellänge kennen. Das war mal. Trotzdem gibt es eine Strenge, eine Erziehung zur Verführung bei uns, die ich für gut halte. Sie dürfen in diesem Zusammenhang auch den französischen Ehemann nicht vergessen. Er ist hart. Ich weiß, was mein Mann und sogar mein Sohn von mir in Sachen Kleidung und Aussehen erwarten, und sie lassen mich sofort wissen, wenn ich etwas nicht mehr tragen kann. Ärmellos geht nicht mehr. Da schimpfen sie mit mir. Was man also von der französischen Großmutter lernen kann: dass man sich zwar selbst gefallen muss, aber auch daran denken muss, die anderen zu verführen.

Was halten Sie von den üblichen Anti-Aging-Prozeduren, die Sie als Großmutter befolgen müssten? Yoga, vegetarisches Essen, Saftkuren?
Das wird alles gerade ein wenig langweilig, non? Ich bin übrigens keine gute Yogajüngerin, denn ich denke nicht wie eine. Meine Meditation sind Ballettstunden. Dazu summe ich Chopin.

Wie sieht es mit Fleisch, Wurst und Käse aus?
Bestens. Esse ich alles. In Frankreich haben wir nicht diese harte Anti-Ess-Kultur. Ich will Käse essen dürfen, ohne das Gefühl, gegen ein Gesetz zu verstoßen. Amerikaner haben so viel Kontrolle über sich, wenn es ums Essen geht. Das macht mir manchmal Angst. Sie sind nie faul oder trinken puren Wodka.

Wie kommen wir denn jetzt auf Wodka? Wegen Ihrer russischen Großmutter? Absolut. Ich liebe Wodka, aber ich bin kein guter Kosak.

Was tut ein guter Kosak?
Er wirft das Glas nach dem Austrinken nach hinten.

Werfen Sie nie?
Doch! Ich trinke nur nicht auf Kosakenlevel. Als mein Mann Geburtstag hatte, habe ich ihm eine Party in einem russischen Restaurant geschenkt. Wir waren 15 Leute und haben 200 Gläser nach hinten geworfen. Zack, zack, zack! Ich mag das Geräusch, es macht mich glücklich.

Carine Roitfeld
wurde mit 18 in Paris auf der Straße als Model entdeckt, wurde aber »kein Star«, wie sie sagt. Für »Elle« arbeitete sie als Stylistin und entwickelte mit Mario Testino und Tom Ford für das damals noch etwas angestaubte italienische Modehaus Gucci spektakuläre Kampagnen. 2001 wurde sie Chefin der französischen »Vogue« und schärfste Konkurrenz der US-»Vogue«-Chefredakteurin Anna Wintour. Heute ist sie das, was alle in der Modewelt werden wollen, wenn sie groß sind: eine Stilikone.

Fotos: getty, Sebastian Faena