2016 schien alles noch so unwirklich: »Warum nur stimmen die Amerikaner für den irrlichternden Populisten?« fragte die »Welt« im Juni ungläubig, und im Juli zog »Spiegel Online« nach: »Wo findet der irrlichternde Donald Trump seine Unterstützer?« Zwei Karrieren standen damals kurz vor ihrem Höhepunkt: die von Donald Trump und die des Wortes, das ihn am besten beschreibt.
Im Januar 2017, zu Anfang von Trumps Präsidentschaft, warnte die Zeit davor, seine »irrlichternden Einfälle zu unterschätzen«, im Juni konstatierte der Spiegel, Trumps Regierung verharre in einem Zustand des »irrlichternden Chaos«, im August zeigte sich die Welt beunruhigt, da in Trump immer mehr das »Irrlichtern eines Getriebenen« erkennbar sei, und im Dezember schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung über Maßnamen gegen das »antiwissenschaftliche Irrlichtern im Weißen Haus«.
Das Irrlichtern ist ein Modewort im deutschen Journalismus, besonders in den Politikteilen. Im Jahr 2014 verwendeten die deutschen Leitmedien den Begriff 168 Mal, im Jahr 2017 schon 248 Mal. Schaut man sich nur politische Artikel an, dann verdoppelte sich die Häufigkeit des Wortes Irrlichtern in dem Zeitraum sogar. Eigentlich war das Irrlichtern immer ein Begriff der Feuilletonisten gewesen. Dass es jetzt seine Grenzen ausdehnt, liegt an Donald Trump, denn etwa zwei Drittel des Irrlichterns in den Politikartikeln des vergangenen Jahres entfallen auf ihn und sein Kabinett. Trump ist nicht der erste Politiker, der durch die deutsche Presse irrlichtert. 2015 etwa, auf dem Höhepunkt der Griechenlandkrise, war der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis das Irrlicht des Jahres. Dauerirrlicht der jüngsten Vergangenheit ist der CSU-Chef Horst Seehofer. Aber kein Politiker irrlichtert in den Medien so sagenhaft und so häufig wie der US-Präsident.
Was soll das überhaupt sein: ein Irrlicht? In der Folklore ist ein Irrlicht eine kleine leuchtende Erscheinung, etwa ein Glühwürmchen oder entzündete Sumpfgase, denen ein eigenes Wesen nachgesagt wird. Als Seele eines Toten oder Kobold tanzen Irrlichter ziellos in sumpfigem Gelände hin und her, verwirren den Betrachter und locken ihn mitunter in den Tod. Hillary Clinton erlag in den Rededuellen einem Donald Trump, der scheinbar ziellos hinter ihr hertigerte, während sie über Politik zu referieren versuchte. Unterbrochen von Trumps Drohung, sie ins Gefängnis zu schmeißen, ließ Clinton sich provozieren und tapste in den Sumpf.
Goethe hat das Irrlichtern als Verb schon knapp 200 Jahre vor Trump eingeführt. Goethe hatte großes Interesse an Folklore und Farbenlehre, er ließ immer wieder Irrlichter als handelnde Wesen in seinen Werken auftauchen. Als Verb, das sein Subjekt verspottet, taucht es zuerst im Urfaust auf. Dort überdauerte das neugeschöpfte Wort die Jahrzehnte und Goethes etliche berüchtigte Redigatur-Runden – und schaffte es 1808 endlich in Faust. Der Tragödie erster Teil. Hier empfiehlt der als Faust verkleidete Mephistoteles einem Schüler, ins Collegium Logicum zu gehen, damit seine Gedanken nicht so hin und her „irrlichteliren“. Nachfolgende Dichter feilten die überflüssigen Silben ab und ließen ab den 1860er-Jahren das „Irrlichtern“ in die deutsche Sprache eingehen. Und doch fristete das Irrlichtern ein gutes Jahrhundert ein Dasein als Orchidee: Als sehr poetisches Wort, das selten verwendet wird. Erst seit den 1970er-Jahren zeigt die Wortverlaufskurve nach oben.
Womit wir wieder bei Trump sind: Nein zum Atomdeal, Nein zum Freihandel, Nein zu Europa. Donald Trump, der Geist, der stets verneint, macht sich beim G7-Gipfel aus dem Staub, um den nordkoreanischen Diktator zu treffen. Eine »großartige Persönlichkeit«, wie er findet. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktionen verschwimmen in den USA, dem Land, das schon immer einen Hang zum Fantastischen hatte, und dadurch auch auf der ganzen Welt. Umtriebige Zeiten können fruchtbare für die Kunst sein: Nüchterne Politikjournalisten entdecken unter Trump den Poeten in sich, um das Niedagewesene und Unfassliche zu erklären. Und ist das nicht die vornehmlichste Aufgabe der Poesie? Oder wie Mephistoteles sagt: »Wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.«