»Die besten Träume sind die, in denen ich fliege«

Günter Wallraff ist der Altmeister der riskanten Recherche. Auch dem IS wollte er sich unlängst ausliefern – als Austauschgeisel. Ein Interview über Leben und Tod.

Am mobilen Belastungs-EKG: Wallraffs Bestzeit beim Marathonlauf beträgt zwei Stunden und fünfzig Minuten.

SZ-Magazin: Herr Wallraff, seit einem halben Jahrhundert geistern Sie in den unterschiedlichsten Masken durch die Republik, um gesellschaftliche Missstände aufzudecken. Sie verkleideten sich unter anderem als Waffenschieber, Dienstbote, Boulevardreporter, Napalm-Produzent, Alkoholiker, Mönch, Obdachloser, Türke und Afrikaner. Fragen Sie sich manchmal selbst, wer dieser Günter Wallraff wirklich ist?
Günter Wallraff: Im Gegenteil. Ich bin in diesen Rollen oft mehr ich selbst, als wenn ich in so einer Talkshow sitze. In der Öffentlichkeit wird man schnell auf eine bestimmte Rolle festgelegt.

Woher kommt bei Ihnen das Verlangen, immer wieder eine andere Identität anzunehmen?
Wenn man das so genau wüsste, würde man es sich am Ende nicht antun. Ich hatte schon sehr früh Verlustängste. Meine Mutter fiel nach meiner Geburt ins Koma und lag danach lange im Kindbettfieber. Mit fünf Jahren wurde ich aus wirtschaftlicher Not in ein christliches Waisenhaus gesteckt, weil mein Vater schwer krank in der Klinik lag und meine Mutter arbeiten musste. Die Nonnen waren fürsorglich, aber überfordert. Wir Kinder bekamen unsere eigenen Klamotten abgenommen, alles wurde zusammen gewaschen, und jeder bekam das zurück, was gerade rumlag. Das war eine Entpersönlichung. So verlieren Sie Ihre Identität. Diese frühe Traumatisierung war vielleicht Auslöser und Chance für meine spätere Arbeit.

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Sie sind vor Kurzem 73 geworden. Es heißt, dass Sie Ihren Geburtstag ungern feiern. Warum?
Geboren zu werden ist doch kein Verdienst. Ich mag mich nicht gern feiern lassen. Ich versuche, die belasteten Geburtstage zu umgehen, bin ein bisschen menschenscheu. Wenn mehr als sechs oder zehn Menschen um mich herum sind, werde ich nervös. Bei einem Verlagsfest bin ich mal auf einen Baum geklettert und habe mir das Ganze von oben angeschaut. Die Frankfurter Buchmesse ist das Allergrausamste. Eine Masse von Menschen, von denen man einzelne gern noch mal wieder treffen würde. Aber kein Baum weit und breit.

Gibt es Geburtstage, an die Sie sich gern erinnern?
An meinen fünfzigsten. Den habe ich in Rostock-Lichtenhagen mit Vietnamesen gefeiert, die zuvor dem Pogrom und Brand- anschlag gerade noch entkommen waren. Ihnen habe ich das Fest gewidmet, ohne zu sagen, dass ich Geburtstag hatte. Zu meinem Sechzigsten habe ich eine Lebensversicherung, die frei wurde, für eine Mädchenschule in Afghanistan gestiftet. Ich weihte sie an meinem Geburtstag ein und übernachtete in einer nahegelegenen Krankenstation, die meine Freunde von Cap Anamur gestiftet hatten. In jener Nacht hatte ich diesen Traum des Fliegens. Ich lag auf einer Matratze mit Flöhen, hob plötzlich im Traum ab, kam aber nicht richtig hoch. Irgendwas zog mich wieder runter, ich stemmte mich dagegen – und plötzlich blickte ich in eine Fratze, etwas bläulich Schleimiges, das mich zu Boden zog. Dann verwandelte sich die Teufelsfratze, und plötzlich schaute ich in das strahlende Gesicht eines neugeborenen Kindes. Als ich aufwachte, kam die Ärztin aus dem Krankenhaus, gratulierte mir zum Geburtstag und sagte: Stell dir vor, in der Nacht hat eine 17-jährige Afghanin einen Jungen geboren.

Erinnern Sie sich oft an Ihre Träume?
Die besten Träume sind die, in denen ich die Arme ausbreite, abhebe und über Landschaften und Städte fliege. Das sind Glücksmomente. Fliegen ist für mich etwas absolut Befreiendes. Ich überwinde im Traum die Schwerkraft, lasse los, spüre eine Befreiung, die man sich kaum vorstellen kann. Dann habe ich ein paarmal erlebt, dass ich Leuten unter mir zurufe: Hier, guckt mal, ich habe die Schwerkraft überwunden! Und die tun so, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt. Dann frage ich mich im Traum: Können das andere auch? Aber eins sage ich Ihnen gleich: Mit Esoterik habe ich nichts am Hut!

Sind Sie getauft?
Ich bin sogar doppelt getauft. Das erste Mal evangelisch – mein Vater war katholisch, meine Mutter Protestantin. Als ich sechs Jahre alt war, lag mein Vater wieder einmal dem Tod nahe im Krankenhaus. Weil er sich nach dem Kirchenrecht durch die Heirat mit einer Protestantin angeblich zutiefst versündigt hatte, setzten ihm die Nonnen so lange zu, bis er sich willenlos am Sterbebett noch mal katholisch trauen und mich katholisch taufen ließ. Ich bekam ein Taufkleid übergestülpt, und ein Pfaffe stammelte: »Du wirst jetzt Johannes heißen.« Ich protestierte: »Nein, ich heiße Günter!« Seitdem war ich katholisch. Till Eulenspiegel ist übrigens dreimal getauft, weil er noch mal in einen Bach fiel. Mein Vater aber wurde wieder gesund. Die Nonnen sprachen von einem Wunder.

Haben Sie es auch als Wunder empfunden?
Überhaupt nicht. Mein Vater war einer der ersten Patienten in Köln, die mit Penicillin behandelt wurden. Zehn Jahre später hatte er nicht so viel Glück. Ich war 16, und er lag wieder im Krankenhaus. An einem Rosenmontag besuchten wir ihn, aber als wir in den Saal kamen, war sein Bett nicht mehr da. Wir fanden ihn draußen auf einer Bahre unter einem Leichentuch. Dieses Krankenhaus hatte damals schon einen üblen Ruf. Ich hatte ein ungutes Gefühl, er war zu abrupt gestorben, das war ein Schock für mich.

Und der Anstoß, von nun an Missstände aufzudecken?
Vielleicht war es kein Zufall, dass meine erste Reportage am Fließband bei Ford war, wo mein Vater in der »Lackhölle« seine Gesundheit ruiniert hatte. In seiner Jugend war er ein Abenteurer gewesen und hatte als Kosmopolit die Welt bereist. Er verliebte sich in eine Spanierin und hatte in der Nähe von Madrid einen kleinen Betrieb. Sie heirateten und gingen nach Deutschland, wo die Spanierin an einer Lungenentzündung starb. Dann lernte er meine Mutter kennen, die aus einer großbürgerlichen Familie von Klavierbauern kam. Auch sie war schon einmal verheiratet gewesen, mit einem Gastwirt. Der wurde zum gewalttätigen Alkoholiker und hat im Suff auf meine Mutter geschossen, worauf sie sich von ihm scheiden ließ und später meinen Vater heiratete.

Wann haben Sie mit dem Verkleiden angefangen?
Als Kind habe ich mich als Indianer verkleidet – in einer Zeit, als Cowboys die Helden waren. Ich habe statt Karl May lieber Fritz Steuben gelesen und seine Romane über den Indianerhäuptling Tecumseh geradezu verschlungen, weil darin die Rituale der amerikanischen Ureinwohner lebendig beschrieben sind. Ich habe mal einen Vortrag auf einem Kongress in Zürich gehalten, in dem es um Feindbilder ging. Vor mir sprach der damalige Ministerpräsident von Slowenien, Lojze Peterle, ein konservativer Politiker aus der Dissidentenbewegung. Der erzählte, dass in Jugoslawien die Indianer die staatlich verordneten Helden waren und er sich immer als Cowboy verkleidet hatte. Wir haben uns sehr gut verstanden, wir waren ja beide Dissidenten verschiedener Systeme.

In der DDR galten Sie lange als Kronzeuge für den »Schweinekapitalismus« im Westen. War es Ihnen unangenehm, so vereinnahmt zu werden?
Die DDR-Staatspropaganda hat das sicher versucht. Aber dort haben die Menschen meine Bücher auch zwischen den Zeilen gelesen. Mein Freund Jürgen Fuchs hat mir das nach seiner Ausbürgerung bestätigt: »Deine Bücher und die von Heinrich Böll, die bei uns verlegt wurden, die haben wir anders gelesen, wir haben die Methode gesehen.« Ich war ja Kriegsdienstverweigerer in der Bundeswehr, die haben mich damals nach zehn Monaten passiven Widerstands in die geschlossene Psychiatrie des Bundeswehrlazaretts gesteckt, weil ich partout keine Waffe anfassen wollte. Jürgen Fuchs hat sich innerhalb der NVA dann ähnlich kritisch verhalten und Drill, Kadavergehorsam und östlich gestrickten Militarismus seitenverkehrt in seinem Buch Das Ende einer Feigheit beschrieben.

Wallraffs erste Texte waren Gedichte. Gerade volljährig, veröffentlichte er einige von ihnen Anfang der Sechzigerjahre in der Flugschrift für Lyrik.

1974 ketteten Sie sich aus Protest gegen die griechische Militärdiktatur auf dem Athener Syntagma-Platz an, wurden gefoltert und von einem Militärgericht zu 14 Monaten Gefängnis verurteilt. Später kritisierten Sie die Unterstützung des Pinochet-Regimes in Chile durch konservative deutsche Politiker. Aber zu Menschenrechtsverletzungen in sozialistischen Staaten hörte man von Ihnen nie etwas.
Das stimmt so nicht. Sogar in meiner Verteidigungs- oder besser Anklagerede vorm griechischen Militärgericht prangerte ich die Dissidentenverfolgung in sozialistischen Staaten an und hatte auch wiederholt öffentlich klargestellt: Würde ich in der DDR leben, würde ich dort – so wie ich ticke – wahrscheinlich im Gefängnis oder in der Psychiatrie landen. Andererseits war ich, wie viele der Linken, lange Zeit von einem falschen Lagerdenken befangen. Wir wollten den Rechten keine Argumente liefern, die in dieser Zeit das Apartheidsystem in Südafrika oder Diktatoren wie Pinochet in Chile rechtfertigten. Wir wussten von den Menschenrechtsverletzungen im Sozialismus, haben das aber nicht nachhaltig genug thematisiert.

Das scheint Ihnen heute noch ein schlechtes Gewissen zu machen.
Man muss es zugeben und daraus lernen. Der Tag, als Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert wurde, war wie eine Befreiung für mich. Der rief mich an und fragte: Kann ich bei dir wohnen? Ich sagte spontan Ja. Bis dahin waren meine Bücher zum Teil in hohen Auflagen auch in der DDR erschienen. Nach meinem Engagement für Biermann war damit Schluss. Von da an hatte ich Einreiseverbot bis zur Gorbatschow-Ära. Die fassten meine Bücher nicht mehr an.

Sitzen Sie gern zwischen allen Stühlen?
Unbequeme Sitzhaltung, aber fürs Rückgrat soll’s ganz förderlich sein. Ich wehre mich dagegen, ein Etikett aufgeklebt zu bekommen. Um in den Siebzigerjahren im linken Milieu mitreden zu können, musste man Trotzkist, Leninist oder wenigstens Marxist sein. Ich habe auf Nachfrage immer gesagt: Um mich Marxist nennen zu dürfen, habe ich den Marx nicht gründlich genug studiert. Ich hatte ihn sehr wohl gelesen und finde ihn heute wieder sehr aktuell. Aber ich wollte meine Eigenständigkeit. Für mich ist Gorbatschow seit seiner Glasnost- und Perestroika-Politik einer der ganz Großen, weil er das System- und Lagerdenken des Kalten Kriegs durch Vorleistungen gesprengt hat, als Reagan die Sowjetunion noch als »Reich der Finsternis« bezeichnete und Kohl meinte, ihn mit Goebbels vergleichen zu müssen.

Heute macht Gorbatschow Werbung für Louis-Vuitton-Taschen und hält Vorträge in Sparkassen. Ist das schade?
Wieso denn? Im eigenen Land kaltgestellt, lässt er die Einnahmen seiner humanitären Stiftung zukommen. Ohne ihn hätte es keine friedliche Maueröffnung und Wiedervereinigung gegeben. Ein Generalsekretär vom Schlage Putin hätte damals höchstwahrscheinlich Panzer auffahren lassen und die Gefahr eines Weltkriegs provoziert.

Was haben Sie aus Ihren Fehlern gelernt?
Ich sehe heute die gleichen Verhaltensweisen, wenn es um Islamismus geht. In meinem Bekanntenkreis, ob das nun innerhalb der Gewerkschaften, der Grünen, der SPD oder der Linken ist, erlebe ich häufig eine übertriebene Zurückhaltung, wenn es um Kritik an Menschenrechtsverletzungen geht, die im Namen des Islam begangen werden. Es heißt dann, man würde damit die Rechtsradikalen und Rassisten in ihrem Hass Muslimen gegenüber bestärken. »Islamophobie« ist dann das Totschlagargument, womit jede ernsthafte Kritik tabuisiert werden soll. Der iranische Musiker Shahin Najafi ist mein Freund und hat einige Monate versteckt bei mir gelebt. Seit Jahren wird er durch eine Fatwa und 300 000 Dollar Kopfgeld mit dem Tod bedroht. Vor ein paar Wochen sollte er in Köln ein Konzert geben, und wieder gab es Morddrohungen – nicht nur gegen ihn, sondern gegen jeden, der zum Konzert kommt. Und dann sagten plötzlich ansonsten aufgeschlossene Menschen: Er provoziert aber auch, er muss doch nicht solche Lieder singen. Man weicht zurück, man gibt auf. Aber wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen von Gewalt.

Fand das Konzert statt?
Ja. Erst wollte kaum einer kommen. Ich habe versucht, Öffentlichkeit herzustellen, und öffentlich angeboten, jedem den Eintrittspreis zu zahlen. Die Veranstaltung war dann doch recht gut besucht. Wegducken und falsch verstandene Toleranz sind oft nichts anderes als Ignoranz oder Feigheit.

Sie klingen andererseits immer wieder so versöhnlich. Gibt es jetzt bald Frieden mit dem Springer-Verlag?
Nachdem ich die Bild-Zeitung mit einem gemeingefährlichen Triebtäter verglichen hatte, rief mich deren Chefredakteur Kai Diekmann an und rechtfertigte sich, dass Bild nicht mehr so sei wie damals, als ich den Aufmacher veröffentlichte. Ich hatte den Eindruck, der will etwas ändern. Vielleicht ist aus dem Boulevard-Heroin inzwischen Methadon geworden. Früher war das Blatt ja mit Hetze gegen Ausländer, Linke und Minderheiten jeder Art durchtränkt. Seitdem gab es gab Wellenbewegungen, gelegentlich waren da Chefredakteure, die etwas weniger sensationsgierig, politisch etwas weniger rechts ausgerichtet waren. Dann produzierte Bild etwas weniger Hass, etwas weniger Frauenverachtung, etwas weniger Minderheitenhetze und dergleichen. Die Bild ist heute vorsichtiger geworden, das liegt sicher auch am Zeitgeist, der vulgären Sexismus oder dumpfen Rassismus nicht besonders mag.

Wie finden Sie die Berichterstattung der Bild-Zeitung über Griechenland?
Das war systematische Hetze mit Schlagzeilen wie: »Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen und die Akropolis gleich mit!« Ich kaufe die Bild ja nicht, aber in Zügen oder Restaurants liegt sie manchmal rum. Da habe ich neulich zu meiner Überraschung den Artikel eines jungen Kollegen entdeckt. Der Autor bekennt sich als schwul und hat sich in den USA undercover in eine dieser obskuren Selbsthilfegruppen begeben, die Homosexualität »heilen« wollen.

Jetzt beschäftigt sogar die Bild-Zeitung Wallraff-Schüler?
Der hätte eine reißerische Kolportage daraus machen können, aber seine Reportage war einfühlsam und überzeugend, und er hat die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen respektiert, was ansonsten ja nicht gerade Bild-typisch ist. Diese Selbsterfahrung hätte genauso in der Zeit oder der Süddeutschen erscheinen können. Ich bin immer wieder froh, wenn ich in meiner Grundhaltung irritiert werde. Ich brauche Irritationen.

Die Wandlungsfähigkeit des Bild-Chefs Kai Diekmann dürfte Ihnen doch gefallen. Der tritt mal mit, mal ohne Bart auf, mal im Anzug und mal im Kapuzenpulli.
Die Auflage von Bild ist den letzten Jahren gewaltig eingebrochen. Vielleicht ist seine äußerliche Verwandlung ja Ausdruck für den Versuch einer Neuorientierung. Ich habe Bild schon vor einiger Zeit zum Ansporn attestiert: Es gibt sehr wohl eine Sorte von Triebtätern, die noch therapierbar ist. Das müssen sie aber erst unter Beweis stellen.

»Fühlen Sie sich bedroht?«

Am mobilen Belastungs-EKG: Wallraffs Bestzeit beim Marathonlauf beträgt zwei Stunden und fünfzig Minuten.

Da könnte er sich bei Ihnen Rat holen. Sie versuchen das ja gerade mit Team Wallraff bei RTL, einem Sender, der für Reality-Trash wie das Dschungelcamp bekannt ist.
Bei RTL konnte ich durchsetzen, dass bei einem gemeingefährlichen Rechtsbrecher, dem ich eine Falle stellte und vor dem gewarnt werden muss, diese Szene sogar unverpixelt im Originalton gesendet wurde, nachdem das Öffentlich-Rechtliche sie nicht mal verpixelt und unkenntlich gemacht in einem Beitrag von mir ausstrahlen wollte. Im Übrigen wurde Team Wallraff im vorigen Jahr mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet.

In Team Wallraff filmen Sie und Ihre Mitarbeiter Leute ohne deren Wissen. Laut Paragraf 201 Strafgesetzbuch ist das Ausstrahlen des Originaltons ohne Genehmigung der Betroffenen verboten. Sie tun das bei RTL trotzdem, zum Beispiel in der Reportage über »Burger King«. Warum finden Sie diesen Rechtsbruch in Ordnung?
Das ist immer eine Rechtsgüterabwägung. Ich habe Dutzende Prozesse geführt und sie in der Hauptsache alle gewonnen. Dadurch habe ich den Spielraum des Journalismus und der Meinungsfreiheit wesentlich erweitert. Und darüber lässt sich auch weiter diskutieren und vielleicht über einen neuen Prozess noch ein weitergehendes Grundsatzurteil erstreiten. Jüngst hat das Oberlandesgericht Stuttgart unter Verweis auf das Wallraff-Urteil vom Bundesverfassungsgericht dem Kollegen Jürgen Rose erlaubt, in Rahmen einer Undercover-Recherche als Werkvertragarbeiter auch heimlich angefertigte Filme vom Betriebsabläufen bei Daimler-Benz auszustrahlen. Nur eins ist bei mir absolut tabu: die Intim- und Privatsphäre.

Verklagt wurden Sie auch vom Gerling-Konzern. Dort ließen Sie sich 1973 undercover als Bürobote und Portier anstellen und beobachteten drei Monate lang Schikanen gegen Mitarbeiter. Der autoritäre Konzernherrscher Hans Gerling war persönlich beleidigt, weil Sie an einem Feiertag in sein Büro geschlichen waren und sich dabei hatten filmen lassen, wie Sie sich auf seinem Schreibtisch räkeln. Wie konnten Sie überhaupt so weit in die Höhle des Löwen vordringen?
Ich kannte den obersten Pförtner, der vor Gerlings saalartigem Büro die Stellung halten musste. Das war ein Altgedienter, der wich nicht von der Stelle. Da hatte ich spontan eine Idee. Ich setzte mich zu ihm und sagte: Ein Verwandter von mir ist jetzt Starfighter-Pilot. Da gibt es einen Test, den die machen müssen. Man muss blind links und rechts genau deckungsgleich schreiben können. Ich verband ihm die Augen und forderte ihn auf, mit beiden Händen gleichzeitig das Wort »Gerling-Konzern« zu schreiben, während das Kamerateam auf Zehenspitzen an ihm vorbeischlich.

Ihre Deckung als Portier ließen Sie nach drei Monaten mit einem Knall hochgehen, indem Sie in das Vorstands-Kasino eindrangen, sich zu den Bossen an den Tisch setzten und gleiches Essen verlangten. Waren Sie nervös?
Es ist immer wieder eine Überwindung. Ich hatte mir von einem Freund einen Joint besorgt und war dadurch souveräner und entspannter in der fremden Umgebung mit den Vorstandsdirektoren. Die hatten eine Drei-Klassen-Kantine bei Gerling, und der Vorstandsdirektor brachte es letztendlich auf den Punkt und belehrte mich wörtlich: »Das ist wie im Tierreich: Erst frisst der männliche Löwe, und was der übrig lässt, bekommt die Löwin mit den Jungen, und erst dann kommen die Schakale dran.« Das sei Natur, und ich könne das mit meiner wilden Demonstration nicht aus den Angeln heben. Daraufhin wurde ich auf der Stelle entlassen. Am nächsten Tag gab’s einen rührenden Aufmacher im Kölner Express: »Traum des Botenjungen. Einmal mit den Chefs speisen. Jetzt ist er vom Dienst suspendiert!«

Sie bekommen viel Post von Verrückten. Ein Häftling schickte Ihnen einen im Salzfass versteckten Kassiber mit wüsten Hirngespinsten über Laserstrahlenexperimente. Gehen Ihnen solche Verschwörungstheoretiker auf die Nerven?
Nein, das gehört dazu. Der eben erwähnte Häftling saß damals im Zuchthaus Werl. Ich habe danach trotzdem recherchiert und rausgefunden, dass dort schlimme Haftbedingungen herrschten. Kein Wunder, dass Insassen da verrückt wurden. Inzwischen bekomme ich aber zu 95 Prozent ganz realistische, nachvollziehbare Zustandsbeschreibungen über Arbeitsunrecht. Ob dem Einzelnen wirklich Unrecht geschieht, prüfe ich dann von Fall zu Fall. Aus diesem Grund habe ich zusammen mit meinem Kollegen Albrecht Kieser auch das Büro »work-watch« gegründet, das Betroffenen kostenlose Beratung anbietet.

Training für den Hochseekajak: Wallraff am Kletterseil in seinem Garten.


Sie haben eine Kamera an der Haustür. Fühlen Sie sich bedroht?

Es gab immer mal wieder Drohungen. Eine Zeitlang stand ich unter Polizeischutz. Ich habe ja nicht nur Salman Rushdie hier untergebracht, sondern auch PKK-Dissidenten und andere Verfolgte.

Haben Sie Waffen im Haus?
Nein, ich bin Pazifist. Allerdings habe ich mal welche gefunden. Das Haus ist von 1875, beim Renovieren entdeckte ich unter den Dielen einen alten Säbel und ein Gewehr mit Silberschloss. Das schenkte ich einem taz-Redakteur, weil ich mit einer Waffe nichts anfangen kann. Ein sehr sympathischer Mensch, ein linker Adliger. Leider verlor er dann bei einem Familienfest die Beherrschung, ballerte mit diesem schönen Gewehr in die Kronleuchter des Stammschlosses und schlug – als man ihn entwaffnen wollte – mit dem Schaft alles kurz und klein. Er wurde dann vorübergehend in die Psychiatrie eingeliefert.

Anders als viele Linke kritisieren Sie offen, wenn im Namen des Islam Gewalt verübt wird. Woher kommt Ihr Engagement?
Was jetzt im Namen des Islam im Zusammenhang mit IS passiert, geht mir nahe. Es ist die schlimmste Bedrohung unserer Zeit. Letztes Jahr entführten die IS-Terroristen den Amerikaner Peter Kassig, der in den USA alles hinter sich gelassen hatte, um als ehrenamtlicher Sanitäter in Syrien und Nordirak Menschen egal welcher Religion zu helfen. Ich fühlte mich angesprochen, da er auch noch am 1. Oktober, an meinem Geburtstag, entführt worden war. Ich suchte Kontakt zur US-Botschaft und bot denen an, dass ich mich gegen ihn austauschen lasse. Ich traf dann einen dafür Zuständigen aus der Botschaft, der Arabisch sprach und sich auszukennen schien. Der machte mir klar, dass es für mich so gut wie keine Überlebenschancen gebe. Ich sagte ihm, dass ich das anders sehe: Das würde die doch beschämen, dass einer freiwillig dahin geht, auch noch ein Älterer. Ich habe mir ein Drittel Überlebenschancen gegeben.

Schon bei Ihrer Aktion in Griechenland wurde Ihnen seinerzeit Todessehnsucht unterstellt. Sind Sie lebensmüde?

Oh nein, nicht müde. Ich lebe intensiv und bewusst und spiele für mein Leben gern. Und es kann schon mal vorkommen, dass ich bereit bin, auch mein Leben aufs Spiel zu setzen. Nach dem Motto: Dem Tod zuvorkommen und dem Leben einen letzten Sinn geben. Peter Kassig, ein vorbildlicher Mensch, war halb so alt wie ich und hatte das Leben noch vor sich. Hätte man mich öffentlich massakriert, hätte es in Deutschland eventuell muslimische Jugendliche, die sich zum IS hingezogen fühlen und für die ich wegen meiner Initiativen für Einwanderer vielleicht eine Orientierung bin, nachdenklich gemacht und sie am Ende von Ihrem Entschluss abgebracht. Ich habe in der Zeit sehr unruhig geschlafen. Nach zwei Wochen kam die Antwort der Amerikaner: keine Realisierungschance. Dann habe ich noch mal einen Brief an den US-Botschafter geschickt und bot an, die vom IS in solchen Fällen geforderte Lösegeldsumme über eine Spendensammlung und durch eigene Mittel aufzubringen. Um sie nicht zu kompromittieren, schrieb ich: »Durch die Privatinitiative würde das Lösegeld mithin weder von US-offizieller Stelle gezahlt noch auf andere Weise damit in Verbindung gebracht werden können.« Aber auch darauf ging man zu meiner Verwunderung nicht ein. Inzwischen habe ich erfahren, dass die Amerikaner, wie auch die Briten, aus Prinzip kein Lösegeld zahlen und sogar Angehörige juristisch gezwungen haben, es zu unterlassen, das Lösegeld privat aufzubringen. Und so ließen sie zu, dass Peter Kassig vor laufender Kamera abgeschlachtet wurde.

Glauben Sie, dass Sie damit dennoch irgendwas erreicht haben?
Manchmal sind es kleine Anstöße und Momente, die Größeres bewegen. Ich bin kein Stratege. Ich plane nicht langfristig. Ich mache vieles intuitiv und erreiche plötzlich was, womit ich überhaupt nicht gerechnet habe.

Das klingt existentialistisch.
Ja. Das Geworfen-Sein, das Eigenverantwortliche und Selbstbestimmende.

Sie kommen mir vor wie ein unschuldiger Tor im Abenteuerroman.
Wenn schon, dann Simplicissimus oder in seiner Nachfolge auch Schwejk, das sind schon Vorbilder. Die spielten die Einfältigen und haben so die Würdenträger und »Supergescheiten« in Verlegenheit gebracht und vorgeführt. Ich bewahre mir eine gewisse Naivität und tue so, als könnte alles ganz anders sein. Das heißt, ich finde mich mit dem Vorgegebenen nicht ab. Ich bin einerseits Berufsskeptiker, aber andererseits auch Zweckoptimist. Alles, was mal die einst verspotteten und bekämpften Visionen früherer Generationen waren, ist heute Realität: Arbeitsrechte, Frauenrechte, Minderheitenrechte oder auch der Umweltschutz. Was heute noch gang und gäbe ist, wird in einer künftigen Gesellschaft, die ich nicht mehr erleben werde, anders und besser sein – so hoffe ich. Die naive Weltsicht macht das Leben leichter. Sie lassen manches an Bedrohung gar nicht an sich ran. Wenn Sie sich vorher ausmalen, was alles auf Sie zukommt, tun Sie manches gar nicht erst.

Warum haben Sie einen Grabstein auf Ihrer Terrasse?
Das ist der Grabstein meines Vaters. Meine Mutter hatte nach seinem Tod keinerlei finanzielle Sicherung. Eines Tages besuchte sie an Fronleichnam sein Grab, und es lag eine fremde Frau darin, weil sie die Friedhofsgebühren nicht mehr hatte bezahlen können. Aber der Grabstein lag am Rande, und so steht er jetzt hier. Auf der Rückseite sind die Initialen seiner ersten Frau eingraviert, der Spanierin.

Denken Sie oft an den Tod?
Für mich ist der Tod nicht mit Schrecken verbunden. Schon als Jugendlicher, als ich mich mit Zen-Buddhismus befasste, habe ich mein nur annäherungsweise zu realisierendes Lebensmotto in meinem Tagebuch festgehalten: »Leben, als ob es der letzte Tag sei, und trotzdem nicht anders leben.« Den Tod selbst habe ich sehr früh angenommen. Ich konnte mir nie vorstellen, jemals so alt zu werden.

Warum nicht?
Ich hatte immer ein intensives Leben. Nach 14 Stunden Schwerstarbeit als Türke Ali konnte ich manchmal am Wochenende weder gehen noch stehen und bin auf einer Matratze im Kombi zu meinem Orthopäden nach Freiburg gefahren worden. Der hat mich mit Injektionen wieder in die Senkrechte gebracht. Ich habe stets das Risiko gesucht. An Selbsttötung habe ich nie gedacht, auch wenn ich in schweren Krisen war. Selbst im Endstadium einer schlimmen Krankheit könnte es passieren, dass dann jemand die Chance zur Selbstreflexion seines Lebens erhält. Dann steht er unter Morphium und könnte endlich in einer Palliativklinik in sich gehen und ganz relaxed zum Beispiel die Musik hören, für die er zuvor nie genug Zeit und Muße hatte.

Die schönste Zeit des Lebens im Hospiz?
Könnte am Ende passieren. Was wissen wir denn? Jemand, der sich sein Leben lang fremdbestimmt abrackerte und nie wirklich zu sich selbst kam … Von daher tue ich mich auch so schwer mit dem Thema Sterbehilfe. Da spielen doch oft auch finanzielle Interessen eine Rolle, das wird in einer immer mehr durchkommerzialisierten Leistungsgesellschaft dann zu einem Riesengeschäft.

Und danach: Himmel oder Hölle?
Die ewige Ruhe ist uns noch lange genug beschieden. Vor die Wahl gestellt, halte ich mich an das Tanzlied in Travens Totenschiff: »In euren Himmel will ich gar nicht rein, will lieber dann schon in der Hölle sein, ich pfeife auf das Weltgericht, an Auferstehung glaub ich nicht, ob’s Götter gibt, das weiß ich nicht, und Höllenstrafen fürcht ich nicht.« Eine Krankenschwester in der Palliativmedizin sagte mir, die Tiefgläubigen täten sich oft am schwersten, loszulassen. Zum Glück bin ich Agnostiker. Wäre ich gläubig, käme für mich noch am ehesten die Reinkarnationslehre in Frage, denn das wäre die einzig gerechte Schöpfungsidee.

Als was würden Sie dann gern wiedergeboren?
Wenn ich an diese Träume vom Fliegen denken: Warum nicht als Spatz? Das ist ohnehin eine bedrohte Tierart. Oder noch besser als Mauersegler. Die schwirren außerhalb ihrer Brutzeit fast dauerhaft in der Luft.

Fotos: Eva Baales