Michi Kern trägt graue Shorts und ein weißes T-Shirt, auf dem in sehr großen Buchstaben »Choose Life« steht. Er ist barfuß, auf die Zehen seines rechten Fußes ist das Wort »Sandy« tätowiert. Vor ihm auf dem Boden liegen vierzig Frauen und Männer, die gerade mal wieder versuchen, alles zu vergessen und sich nur auf ihren Atem zu konzentrieren. »Öffnet euch«, sagt Michi Kern, »spürt, wie sich euer Brustkorb weitet. Lasst los, lasst alles los.« Seine Stimme ist warm, ohne dabei weich zu sein. Sie erhebt sich etwas bayerisch knorrig und schwebt eine Weile im Raum. »Ccccchhhhhhhuuu uuhhh«, sagt Michi Kern, »ccccchhhhuuhh. Wie das Rauschen des Meeres.«Ccccchhhhhhhuuuuhhhhh. Alle atmen laut aus. Alle wollen werden wie das Meer. Es ist Montagabend in der Müllerstraße in München, und der Yogalehrer Michi Kern ist ein freundlicher, fast gütiger, geduldiger Mensch.
Aber gibt es nicht auch einen anderen Michi Kern? Wer ist der Mann, der um drei Uhr nachts an der Tür des »Pacha« steht und »Servus« sagt und »Schön, dass du da bist« und »Tut mir leid, nur für Stammgäste« und »Komm, geh weiter«, so wie er das seit zwanzig Jahren macht, vor dem »P1« oder dem »Babalu« oder dem »Tanzcafé Größenwahn«, lauter legendäre Münchner Nachtclubs? Wer ist der Mann, den alle nur Michi nennen, obwohl er jetzt auch schon 42 Jahre alt ist, und der das »Café Reitschule« betreibt und das »Kytaro« und das »Zoozie’z«, lauter legendäre Lokale? Wer ist der Mann, der mit den Leuten vom Kreisverwaltungsreferat so gut kann und mit den Brauereien und der eine Weile ganz ruhig in sein Handy spricht, und als er aufgelegt hat, nur sagt: »Da will uns mal wieder jemand verklagen.« Es muss auch einen anderen Michi Kern geben. Wie soll man zwanzig Jahre Nachtleben und Gastronomie überstehen ohne Feinde, Scherben, Wunden? Wie soll man überhaupt zwanzig Jahre ohne Feinde überstehen?
Nach der Yogastunde steht Kern noch in einem dunklen Hinterzimmer des »Café King« gleich neben dem Yogastudio und raucht eine Zigarette nach der anderen. Draußen schneit es. Kern spricht mit Sandra Forster und Andreas Zappe, ihnen zusammen gehört das »Café King«. Sandra Forster ist die »Sandy« seiner Zehen, aber schon lange nicht mehr seine Freundin. Sie hat vor Jahren aus Eifersucht das Wort »Stricher« auf sein Auto gesprüht.
»Es geht nicht ums Dogma, es geht um Sympathie«, hatte Kern bei einem unserer ersten Treffen gesagt und etwas anderes gemeint. Er meinte seine pragmatische Weltsicht und seinen wirtschaftlichen Erfolg, aber so genau lässt sich das bei ihm eben nicht trennen von Freundschaften und von Menschen.Kern und Forster und Zappe rauchen und reden, über ihnen dreht sich eine müde Discokugel, und schließlich sagt Kern: »Denkt dran, allen Bescheid zu sagen. Die Charity-Veranstaltung soll voll werden. Das Hadassah-Krankenhaus in Jerusalem ist ein tolles Projekt, die behandeln dort jeden, egal ob Jude oder Moslem.« Kern verbindet, so würde es das Privatradio sagen, das Beste der Neunziger- und der Nullerjahre. Die gute Laune und das gute Leben in Einklang zu bringen, das ist sein Plan.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: »Ausflippen, sich die Kleider vom Leib reißen und sich bankrott saufen.«)
Ein paar Wochen zuvor steht Michi Kern im Lenbachhaus vor einem Bild von Wassily Kandinsky und schaut betrübt. Oder gelangweilt. Oder enttäuscht. All die bunten Striche, das Kreiseln, das Auf und Ab der Farben. Kandinsky, könnte man sagen, ist Yoga für die Augen. Dehnung, bis es wehtut. Kern glaubt nicht an Schmerz, bei Yoga und auch sonst nicht. Etwas stört ihn an diesen Bildern. Sie tun nur so, als seien sie voller Leben, voller Energie.»Geh ma, oder?«
1891 wurde das Lenbachhaus gebaut, 1909 lebte Kandinsky in München: In dieser Zeit, sagt Kern, als wir über den Königsplatz mit seinen grellen, griechischen Steinen in Richtung Innenstadt laufen, war Yoga in Europa noch eine Geheimlehre. Erst in den Zwanzigerjahren wurde es bekannt, später entdeckten es die Hippies, seit Ende der Neunzigerjahre macht es auch die verspannte Großstadtboheme. »Entstaubt« haben sie Yoga, sagt Kern, und »entideologisiert«: »Das moderne Yoga gibt’s ja im Weltmaßstab erst seit fünf Minuten.« Mindestens 3000 Jahre ist Yoga alt. Kerns persönliche Krise kam um das Jahr 2000 herum. Vom eigenen Erfolg entmündigt fühlte er sich damals, ziellos, ohne Orientierung.
»Ich bin im Nachtleben versumpft, ich habe ziemlich brutal gefeiert und hätte mich wohl verloren, wenn nicht eine Freundin gesagt hätte, komm, Michi, mach was, probier mal Yoga. Es brauchte erst die Krise.«
Vielleicht kommen deshalb auch jetzt all die Frauen und Männer zu ihm, die sich auf ihre Isomatten legen und alles vergessen sollen und nur auf ihren Atem hören. Kern hat etwas von einem Gefallenen, von einem Retter, von einem, der die Dunkelheit gesehen hat und das Licht. Drei Yoga-Studios gehören ihm inzwischen, er betreibt ein veganes Restaurant, im April startet er den deutschen Ableger des Yoga Journals, das in Amerika eine Auflage von 380000 hat. Wenn Michi Kern etwas macht, dann richtig. Auch »das Feiern«, wie er das nennt, hart und intensiv, so war die Zeit: »Ausflippen, sich die Kleider vom Leib reißen und sich bankrott saufen.« Wer sich eine junge Freundin leistete, der wachte eines sonnigen Morgens auf und sein Erbe war weg, versoffen, verjuxt, verkokst.
Kern dagegen ist das Beispiel, wie man mit Feiern Karriere macht. Ein Freund von ihm verbrachte einen exzessiven Sommer in der Riesendisco »Pacha« auf Ibiza – und als er und sein Kumpel Kern auf die Idee kamen, in München einen Ableger aufzumachen, da war es eine Art Qualifikation, dass sie länger und härter und lustiger Party machen konnten als die meisten. Wir sind vom Königsplatz zehn Minuten gegangen und stehen vor dem »Pacha« am Maximiliansplatz. »Das Nachtleben hat mir immer Spaß gemacht«, sagt Kern. Angefangen hat er mit 19 als Spüler im »Iwan’s« am Stachus, da war er noch Zivildienstleistender im Rettungswagen. Als Student der Linguistik analysierte er 1988 tagsüber die Texte der RAF und verdiente nachts 350 Mark als Barmann. »Ich hab die Welle gesurft«, sagt er. Irgendwann ging das beides nicht mehr zusammen. Er engagierte den Techno-DJ Sven Väth, der in der Panzerhalle regelmäßig 2000 Menschen um den Verstand spielte. Es waren die Neunzigerjahre, alles wurde größer, greller, geiler.
»Ich habe lange gebraucht, bis ich verstanden habe, was da lief«, sagt Kern. »Zwischen sechs und neun Uhr früh habe ich mich oft in ein Hinterzimmer gelegt zum Schlafen. Um zehn Uhr tanzten die alle immer noch, ich habe dann manchmal einfach die Sicherungen rausgedreht, da sind die nur noch verrückter geworden. Natürlich waren das die Drogen. Ich fand Drogen immer uninteressant.«
Wenn das naiv ist, dann ist es wenigstens überraschend. Wenn Kern naiv schaut, dann lächelt er und die tiefen Falten um seinen Mund werden noch eine Spur tiefer.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: »Wir hatten uns da verschätzt, da wären wir fast pleitegegangen.«)
Michi Kern hat ein welpenhaftes Gesicht und auch ein welpenhaftes Wesen. Das eine kann man wahlweise auf das Nachtleben zurückführen oder auf seine vegane Ernährung. Das andere ist der Teil seiner Person, der ihn so anziehend macht, besonders für die vielen Frauen.»Er ist immer gut gelaunt«, sagt eine, die es wissen muss, »er ist gar nicht besonders attraktiv, aber er ist irre positiv, er ist witzig, charmant, und vor allem hat er diese innere Ruhe.« Er ist sanft und vorsichtig, wenn er spricht, er schaut einen direkt an und hört zu, wenn man etwas sagt, er ist auf eine Art und Weise gut drauf, die im Gut-drauf-München besonders angenehm ist, leise nämlich und nicht angeberhaft. Er strahlt fast von innen, könnte man sagen.
Vor allem aber ist er neugierig und unternehmungslustig. Wir stehen im Keller des Hotels »Vier Jahreszeiten« in der Maximilianstraße, ein Barraum mit edlem Steinboden und winzigen Fenstern. Kern will hier eine Sake-Bar aufmachen, »so etwas gibt es in Deutschland noch gar nicht«, sagt er und schaut durch den Raum, als seien da schon kleine Tische und schöne Menschen und all das Leben, das er immer sucht. Ein Angestellter des Hotels führt ihn herum. Kern bedankt sich bei ihm, in diesem heiteren Singsang und mit dem Lächeln, das sein Gesicht fast nie verlässt. Und als Wochen später klar wird, dass aus dem Projekt nichts wird, sagt er: »Passiert eben.«
Es scheint tatsächlich sein besonderes Talent zu sein, mit fast allen Menschen so zu reden, dass sie ihn mögen. Er spricht ihre Sprache, er ist nicht hochmütig oder ironisch, er macht sich nicht gemein und wird doch einer von ihnen. Er ist ein Volkswirt im eigentlichen Sinn des Wortes, und es ist schon fast erschreckend, mit welch sicherer Hand er weiß, was die Menschen wollen.
Ist das Instinkt? Da riskiert er 1993 alles und steigt für viel Geld im »Café Reitschule« ein, und die Stars und die Sternschnuppen kommen, und die ganze Mischpoke der frühen Mediengesellschaft rennt ihm die Tür ein. Da macht er 1995 in einem verlassenen Industrieareal seine Nachtkantine auf und verkauft Abend für Abend 600 Pizzen und 600 Hamburger an partywütige Edelstudenten. Da bringt er im Jahr 2000 das Ibiza-Konzept des »Pacha« nach München, mit Tänzerinnen und Glamour und Feiern, bis die Kreditkarte bricht, und die ganzen Börsenmillionäre und Bayern-Spieler und alle kommen, »diese ganzen Wahnsinnigen, das war schon geil«, sagt Kern, »was ich da gesehen habe, das war wie ein Breitwandgemälde von Frans Hals.
«Und die Zukunft des Nachtlebens? Er denkt kurz nach: »Die große Frage ist, was mit dem ›P1‹ passiert. Vor zehn Jahren gab es noch drei Clubs. Heute werden die Clubs immer mehr, immer kleiner, immer diversifizierter. Jeder macht was auf für seine spezielle kleine Gruppe.«
Es gab natürlich auch Pleiten im Leben des Michi Kern, das »Mondo« etwa, das schick und weiß war und fast immer leer. »Wir hatten uns da verschätzt, da wären wir fast pleitegegangen.« Wir, sagt er, so wie er fast immer »wir« sagt, wenn es um beruflichen Erfolg geht oder um Misserfolg. Er betreibt einen Club oder ein Lokal mit vier oder fünf Partnern. Das ist sein Erfolgsrezept, die Übertragung des Prinzips wechselnder Freundschaften aufs Geschäftsleben.
»Ein Schlitzohr mit einem gewissen Horizont«, so nennt ihn einer, der mal länger mit ihm zu tun hatte. »Selbst mit zehn Bier im Gesicht kann man sich mit ihm über philosophische Dinge unterhalten.«
Ein enger Freund ist der Schriftsteller Rainald Goetz, der in den Neunzigerjahren oft neben Kern an der Tür des »Babalu« stand und über ihn in seinem Roman Rave geschrieben hat. Es gibt viele Leute, die sofort sagen, »klar, den Kern kenne ich«, meistens sagen sie dann noch »von ganz früher« und fügen Worte hinzu, gehauchte Namen, »Größenwahn«, »Ultraschall«, das Nachtleben eben, seltsam sehnsuchtsvoll.
Aber wenn man sie dann fragt, wer dieser Michi Kern ist, dann bleiben sie vage. Es ist etwas, an das man nicht herankommt, mehr jedenfalls als bei den meisten anderen Menschen. Ein Kern, tatsächlich.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Der Nachtlebenmensch läuft und läuft, während andere nur sitzen.)
Die Sonne scheint auf die Sparkassenstraße, wo das alte Haus, das Zerwirk heißt, einen Schatten wirft, der älter ist als alles, was um das Haus herumsteht. 1264 wurde es gebaut, es war eine Raststätte für Kutscher, die nicht in die Stadtmauern hineingelassen wurden, es war einmal ein Badehaus und zuletzt ein Wildgeschäft. Natürlich der ideale Ort für ein veganes Restaurant.
Es ist früher Nachmittag, und Michi Kern sitzt vor dem Haus im Schatten und telefoniert. Er ist heute schon ein paar Stunden durch die Stadt gelaufen, so wie jeden Tag, von seiner Wohnung am Ungererbad in Schwabing zum »Café Reitschule«, zum »Zerwirk«, zum »Café King«, nachher muss er noch ins »Pacha«, ein paar Bücher vorbeibringen.
Der Nachtlebenmensch läuft und läuft, während andere nur sitzen. Sein Büro ist die Straße, sein Metier ist die Bewegung, sein Modus ist die Aufmerksamkeit. Was er macht, ist eine Stadtarchäologie der Gegenwart, er liest München, so wie es all die anderen großen Münchner Stadtspaziergänger vor ihm getan haben, Sigi Sommer zum Beispiel. Er legt auf.
»Geh ma«, sagt er und packt seine Trainingstasche und wirft sie sich über die Schulter. Michi Kern ist kein modischer Mensch, er trägt meistens etwas abgetragene Turnschuhe, ein altes T-Shirt und eine Art Bomberjacke zu Jeans. Sein Kopf ist kahl rasiert. Er geht nicht schnell und auch nicht langsam.
Im Plattenladen begrüßen sie ihn wie einen Sohn. Er kauft sich eine CD von Leonard Cohen, »das Konzert soll ja toll gewesen sein«. Im Buchladen liegt seine Bestellung schon bereit, eine Biografie von Fidel Castro, »für einen Freund«, und ein Sachbuch des Psychosomatikers Viktor von Weizsäcker, »für mich, ich will etwas mehr verstehen über die Verbindung von Körper und Geist, in medizinischer Sicht«.
Wir gehen weiter in Richtung »Pacha«. Am Altstadtring bleibt er stehen und schaut zur alten Börse hinüber. »Da wollten wir auch mal eine Bar reinbauen. Eigentlich wäre das vor allem ein toller Club, mit dem Tradingfloor als Tanzfläche. Und da drüben«, sagt er, »na, dort ist auch schon sehr lange nichts mehr los, ich wüsste schon, wie ich es machen würde.«
Man muss nur eine Weile hinter Michi Kern hergehen und sieht plötzlich, wie er, überall mögliches Leben, möglichen Spaß. »So habe ich alle meine Läden gefunden«, sagt er, »ich bin sicher hundertmal am Zerwirk vorbeigelaufen, bis ich wusste: Das ist es.« Inzwischen bieten ihm die Makler ihre Objekte von sich aus an, weil er als Erfolgsbringer gilt. Das »8Seasons« gegenüber der Oper, das »Peter und Paul« an der Sonnenstraße? Er steigt ein, er steigt aus, alle mögen ihn und niemand ist ihm böse? Einfach so?
Wir gehen durch die Blumenstraße. Hier hat Michi Kern als Kind gewohnt. In einem anderen München, in einer anderen Zeit. Es war eine harte Innenstadtkindheit, so klingt das, und als es seiner alleinerziehenden Mutter zu viel wurde, schickte sie ihren elfjährigen Sohn nach Feldkirchen, in ein Dorf vor der Stadt, wo Kern im Kinderheim der Inneren Mission aufwuchs. »Die haben mir dort das Leben gerettet«, sagt Kern, »ich bin denen ewig dankbar.«
Etwas von diesem Kind wird noch immer in Kern sein. Das steckt vielleicht hinter seinem sozialen Engagement: 2008 eröffnete er mit Sandra Forster das »Restaurant Roecklplatz«, das sozial benachteiligten Jugendlichen einen Ausbildungsplatz bietet. Das klingt wie »zurückgeben«, aber so kitschig denkt der Pragmatiker Kern nicht. Es ist etwas anderes, es ist komplizierter. Kern ist so offen und so ganz da, dass man vergisst, dass er etwas versteckt.
Ein paar Wochen später ruft er an und sagt, dass er das »Zerwirk« verkauft. Er lacht. »Wir sind dort als Pioniere gescheitert.« Von der Blumenstraße sind es nur ein paar Schritte zum »Café King« und zur Yogaschule. Michi Kern trägt heute ein T-Shirt, auf dem irgendetwas Verschlungenes zu sehen ist und »Jivamukti« steht, so heißt seine Yoga-Richtung, so heißt auch seine Yoga-Schule.
Sandra Forster und Andreas Zappe stehen hinter der Theke des »Café King« und unterhalten sich. Es gibt Red Curry Tofu oder Joghurt ohne Joghurt. Der Barraum ist karg und hoch. In einem anderen Raum, durch eine Glastür getrennt, wird Tischtennis gespielt. Auf dem Sofa liegt die Kellnerin und hört einem Jungen zu, wie der seinen Schauspieltext übt. Dann dreht jemand die Musik sehr laut.
»Komm«, sagt Michi Kern, »trink ma noch ein Bier.« Und bestellt sich ein alkoholfreies.
Fotos: Dieter Mayr