Um es gleich vorweg zu nehmen, damit der Rest dieses Textes nicht zu eingebildet klingt: Ich habe das beste Abitur in meiner Familie gemacht und noch nie in meinem Leben auch nur den kleinsten Rechtschreibfehler. In der Grundschule hatte ich einen Notendurchschnitt von 1,0, wenn man Schönschrift und Sport mal außen vor lässt. Und an der Uni, da war ich genauso super, wie ich es jetzt bin – also ziemlich.
Mein großer Bruder hingegen? Hat die Schulen gewechselt wie andere männliche Teenager ihre Unterwäsche (selten, aber eben doch ab und zu). Und meine noch größere Schwester? Hat nach 13 Uhr wütend das Klavier bearbeitet, wenn es in der Bildungsanstalt nicht so lief. Am liebsten hackte sie Edvard Grieg in das Holz – der Witz vom »totalen Grieg« fiel natürlich mir ein, dem Kleinsten. Weit hergeholt war er nicht. Meine beiden Geschwister sind sicher nicht doof (sie sind ja mit mir verwandt), aber seit ich im Sommer 1982 als krönender Abschluss den Stammbaum vorerst vervollständigte, stand fest: Der neue Fixstern am intellektuellen Firmament der Familie, der fraglos Klügste, Intelligenteste und Witzigste von uns dreien, das bin nunmal ich. Der Bescheidenste vielleicht nicht unbedingt, aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Seltsamerweise herrschte zu diesem Thema aber bislang eine ganz andere Überzeugung vor – also nicht bezüglich meiner ganz konkreten Familie, die kennt ja kaum jemand. Sondern, was die Verteilung von Intelligenz bei Kindern im Allgemeinen angeht: Die Erstgeborenen, so war man sich einig, seien intelligenter, gewissenhafter und verantwortungsbewusster als die Nachzügler. Weil sie zunächst mehr Aufmerksamkeit und Förderung von ihren Eltern erhielten, weil sie später die Kleineren mit erziehen (was denen wiederum zum Nachteil ausgelegt wurde. Weil – und das ist ja der Gipfel der Ungerechtigkeit – die Ansprache durch ihre intelligenteren großen Geschwister weniger schlau mache als die der dann doch noch klügeren Eltern). Schon Sigmund Freud vertrat diese These, kein Wunder, er war das Älteste von acht Kindern und seinerseits sicher auch nicht ganz uneitel.
Die University of Illinois hat nun mit diesem Humbug ein für alle mal aufgeräumt. Seit 1960 hat sie im sogenannten »Project Talent« die Daten von 377.000 Highschool-Schülern gesammelt und nun ausgewertet, nur um herauszufinden, was ich ihnen gleich hätte sagen können: Ältere Geschwister sind NICHT schlauer als die Jüngeren. Also nicht sehr viel, nur ganz ein bisschen, gerade mal einen einzigen Punkt ergattern sie bei IQ-Berechnungen mehr – was zwar auch noch verwunderlich ist, aber nicht mehr als eine winzig kleine Unebenheit im Graphen der Gesamtstatik.
Doch selbst wenn meine Schwester diesen einen Punkt vor mir liegen sollte (was ich mir – ganz objektiv betrachtet – kaum vorstellen kann): Ich würde ihn ihr gönnen. Absolut, soll sie mit dem Punkt glücklich werden, sie wird ja schon sehen, was sie von ihm hat. Wir Drittgeborenen, wir sind nämlich ganz eindeutig: Gelassen, offen und vor allem großzügig. Ganz anders als dieser verbohrte Erstgeborene Sigmund Freud, der seiner Schwester das Klavierspiel erst verbieten und dann das Instrument aus dem Hause tragen ließ, weil er, der Klassenprimus und Streber, sich nicht auf seine Hausaufgaben konzentrieren konnte.
Auf so eine Idee wäre ich nie gekommen – und das musste ich ja auch gar nicht: Meist drosch meine Schwester derart heftig und ausdauernd auf das Klavier ein, dass dem totalen Grieg bald eine bedingungslose Kapitulation wegen doppelseitiger Sehnenscheidenentzündung folgte. Und meine Hausaufgaben schrieb ich – trotzdem Klassenprimus – sowieso meist irgendwo auf dem Schulweg ab.
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