Wenn das Offensichtliche von höchster Stelle umgedeutet wird

Die Trump-Regierung sperrt einen unliebsamen Reporter aus – und rechtfertigt dies mit einem manipulativ geschnittenen Video. Die Versuche, unsere Wahrnehmung zu steuern, werden immer schamloser. Aber sind wir daran nicht – zum Teil – selbst Schuld? 

Die Pressesprecherin greift nach dem Mikro, der Reporter Jim Acosta dreht sich weg. Im Video, das später von der Trump-Administration verbreitet wird, entsteht der Eindruck, Acosta habe die Sprecherin mit einem Karateschlag abgewehrt.

Foto: dpa

Die Sache scheint eindeutig: Gestern hat Donald Trump eine Pressekonferenz gegeben. Der CNN-Reporter Jim Acosta stellte Fragen, die der Präsident nicht beantworten wollte. Acosta war nicht bereit, sich wieder hinzusetzen und die Klappe zu halten, worauf Trump ihn unter anderem einen »schrecklichen Menschen« nannte. Eine Mitarbeiterin von Trumps Pressesprecherin Sarah Huckabee Sanders versuchte, Acosta das Mikrofon aus der Hand zu nehmen, wogegen dieser sich mit Worten und durch Wegdrehen wehrte – eine vom Reporter vielleicht provozierte, aber relativ heroische Szene  (zumal im Vergleich zu dem, was sich manchmal auf Pressekonferenzen in der deutschen Hauptstadt abspielt, etwa, wenn ein türkischer Kollege ein T-Shirt mit Pressefreiheits-Slogan trägt, deshalb von Bewaffneten abgeführt wird, und niemand springt ihm bei).

Acosta brachte den US-Präsidenten zur Weißglut, wurde dafür von einem NBC-Kollegen verteidigt (und hörbar von einigen anderen ausgelacht), aber damit fängt die Geschichte erst so richtig an. Denn so einfach, wie es scheint, sind die Dinge eben nicht mehr: Donald Trumps Pressesprecherin Sarah Huckabee Sanders hat Acosta nun »bis auf weiteres« die Akkreditierung entzogen, mit der Begründung, er habe »Hand an eine junge Frau« gelegt – die Mitarbeiterin, die ihm das Mikro wegnehmen wollte, also geschlagen oder gestoßen.

Es ist verblüffend. Im Fußball hat sich der Videobeweis mühsam durchgesetzt, in der Zeitgeschichte würden die Handlangerinnen und Handlanger populistischer und autoritärer Führungsfiguren ihn am liebsten endlich abschaffen.

Schließlich geschah, was nun als Handgreiflichkeit ausgelegt wird, vor den sprichwörtlichen laufenden Kameras, und man braucht nur einen Klick, um zu sehen: Hier möchte einfach jemand seinem Beruf nachgehen, für den er ein Mikro braucht, und eine Frau, die das (in Verletzung der US-Verfassung) verhindern möchte, dringt in seine Körperzone ein, und als er sie in einer Abwärtsbewegung streift, bittet er ausdrücklich um Abstand und Entschuldigung. Aber diese Augenfälligkeit zählt nicht mehr: Bei den Anhängerinnen und Anhängern Trumps reichte augenblicklich das Wort der Pressesprecherin Sanders: Sofort gab es Stimmen, die sagten, Acosta habe der Frau aus der Pressestelle einen »Karateschlag« versetzt. Und als hätte die verbale Irreführung nicht gereicht, teilte Sanders dann auch noch eine fragwürdige und manipulativ geschnittene Version der Videosequenz*, die den Eindruck verstärken sollte, hier habe ein Reporter zugeschlagen.

Grotesk ist hieran nicht nur, dass diese US-Administration plötzlich vorgibt, sich für die Unversehrtheit einer Frau zu interessieren. Obwohl mehreren Männern im Weißen Haus bis hinauf zum Präsidenten die Misshandlung von Frauen vorgeworfen wird, von ihren vielen frauenfeindlichen politischen Zielen ganz zu schweigen (und der öffentlichen verbalen Misshandlung von Christine Blasey Ford nach ihrem Auftritt vor dem Senatsausschuss in Sachen Brett Kavanaugh).

Grotesk und alarmierend ist vor allem, dass die Öffentlichkeit wieder einmal aufgefordert wird, ihren Augen nicht zu trauen. Klar, es ist nicht das erste Mal, die Geschichte ist voll davon, und die letzten Jahre erst recht. Jan Böhmermanns Vexierspiel mit Yanis Varoufakis’ Mittelfinger war noch verblüffend und erhellend, und die sichtbar magere Zuschauerschar bei Trumps Vereidigung bekam etwas Tragikomisches, als das Weiße Haus sie zur größten aller Zeiten erklärte. Aber es wird immer schlimmer. Selbst wenn wir sehen, was wir sehen, sollen wir sehen, was wir sehen sollen. Es ist kein Zufall, dass sich auch die innenpolitische Krise der Großen Koalition an einem Video entzündete: Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen wollte, dass wir auf dem Video aus Chemnitz keine Hetzjadgen sehen, obwohl dort Hetzer einen Menschen jagten. Wir können mehr solcher Versuche erwarten, das offensichtliche umzudeuten, denn sie sind die nächste Stufe immer schamloserer Versuche, unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit zu kontrollieren.

Letztlich aber haben wir selber dazu eingeladen, so behandelt zu werden, als könnte man das, was wir sehen, auch ganz anders interpretieren oder einfach ignorieren. Und mit dem ominösen, weichen »wir« meine ich in dem Fall: alle, die es sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten viel zu einfach gemacht haben, wenn es darum ging hinzusehen. Wir sind vielleicht ein bisschen zu verblüfft und zu erschrocken, wenn Menschen von Sexismus- und Rassismus-Erfahrungen berichten. Weil wir es nicht gesehen haben, obwohl es vor unserer Nase war. Wir verdrängen die tier- und menschenfeindliche Herkunft unserer Lebensmittel und Kleidung, das Elend an unseren Urlaubsorten, unseren Anteil am Klimawandel, den auch erstmal die anderen ausbaden müssen. Wir sehen all das, aber wir sehen es auch nicht. Letztlich auch nicht anders als die Trump-Fans, die nur sehen, was sie sehen wollen.

Es ist kein Wunder, dass jene, die uns manipulieren wollen, längst gemerkt haben: Hey, da sind Millionen und Abermillionen Leute, die es sich angewöhnt haben, nicht so genau hinzuschauen; mal gucken, was man denen noch alles unterjubeln kann. Das Fall Acosta ist einfach ein weiteres Beispiel dafür, dass die Zahl derer, die gern mal ein oder zwei Augen zudrücken, wenn es ihnen in den Kram passt, immer größer wird.

*Nachdem mehrere US-Medien wie Vox.com oder Buzzfeed News recherchiert und dargelegt haben, wie genau das Video vor dem Upload verändert wurde, haben wir die entsprechende Formulierung von »manipuliert« auf »manipulativ geschnitten« geändert.