Selbst nach über zehn Jahren können mich meine Schmerzen noch überraschen: Ein Migräneanfall kann über Nacht unerwartet ausklingen, oder eine Folge schöner, schmerzarmer Tage kann plötzlich von einer heftigen Attacke abgewürgt werden.
Dabei, und das zeigt mein Tagebuch, ist ein schlechter Tag leider immer wahrscheinlicher als ein guter Tag. Da bin ich Realistin, und als solche fehlt mir eine Sache sehr: die Vorfreude.
Prickelnd, ein bisschen wie Verliebtsein fühlt es sich an, wenn man schon Wochen vorher weiß, dass bald der Flieger in den Urlaub geht. Dass ein Tisch in einem besonderen Restaurant reserviert ist. Dass man die Freundin über das Wochenende in einer anderen Stadt besucht oder die Nichte zu Besuch kommt und man den ganzen Tag gemeinsam verbringt. Gast auf einer Hochzeit sein.
Quasi alle Dinge, die mit einer gewissen Aktivität und einem festen Datum verbunden sind, die mir Freude bereiten und mir Spaß machen, sind für mich nicht planbar und meine Teilnahme reiner Willkür der Erkrankung unterworfen. Für vieles bräuchte man Tickets, verbindliche Reservierungen, gebuchte Flüge oder Züge, freigeschaufelte Wochenenden und lange Planung mit Familie oder Freunden im Voraus.
Manchmal riskiere ich es einfach und kaufe mir ein Ticket – doch zu oft werde ich enttäuscht. Schon zu viele Züge wurden von mir nie betreten, Konzerte fanden ohne mich statt, Urlaube mussten verschoben und schließlich ganz vergessen werden. Aber ich konnte auch schon verreisen, ich konnte Freunde in anderen Städten besuchen und ich konnte Zeit mit meiner Nichte verbringen.
Was für ein wichtiger Teil des Lebens Vorfreude ist, bemerkt man erst, wenn man sie nicht mehr oder nur noch in sehr eingeschränkter Form empfinden kann. Bei mir findet sie nur noch im Kleinen statt, auf Dinge, die noch sehr oft möglich sind. Ein gutes Buch zu Ende lesen, einen Spaziergang machen oder etwas Leckeres kochen. Aber auf das verplante Wochenende, das Wellnesshotel, eine Geburtstagsfeier, darauf, am Samstag in die Stadt zu fahren und mir etwas Schönes zu kaufen, kann ich mich nicht mehr freuen. Meinen Geburtstag feiere ich schon seit einigen Jahren nicht mehr – zu groß war die Frustration, in einem Jahr mit Migräne im Restaurant zu sitzen (das Essen war bestellt und hätte in jedem Fall bezahlt werden müssen) und die zwei Jahre darauf gleich ganz absagen zu müssen.
Für mich ist geteiltes Leid doppeltes Leid, und ich war schon immer jemand, der lieber allein gelitten hat
Während einer besonders schlechten Phase verstrichen einmal fünf Tage, bis ich in der Lage war, mit meinem Lebensgefährten einen kurzen Spaziergang zu unserem Teeladen zu machen um etwas zu besorgen. Fünf volle Tage konnte ich das Haus nicht verlassen, um einen fünfzehnminütigen Spaziergang zu machen. Das ist zum Glück nicht die Regel, aber es kommt immer wieder vor. Und was mir sehr leidtut, ist, dass auch mein Lebensgefährte auf viele Dinge keine oder nur gedämpfte Vorfreude empfindet, da wir nie sicher sein können, ob wir etwas zusammen unternehmen können.
Wir haben im Lauf der Jahre unseren eigenen Weg gefunden, damit umzugehen, aber es war nicht immer einfach – und das ist es manchmal auch heute nicht. An vielen Abenden ist er allein unter Paaren, muss immer wieder Fragen nach meinem Gesundheitszustand beantworten. Da man mir nichts ansieht, verstehen manche Menschen nicht, warum ich oft nicht dabei bin. Wenn wir vorhaben, einen Tag zusammen an einen See zu fahren, kann es Wochen dauern, bis es mir gut genug geht, das umzusetzen. Wollen wir etwas Bestimmtes unternehmen, was beispielsweise nur an einem Mittwoch möglich ist, tragen wir es jeden Mittwoch neu in den Kalender ein, blockieren also auch schon einmal wochenlang immer wieder diesen Mittwoch, bis ich irgendwann wage zu sagen: »Heute geht es.«
Durch diese ständigen Unwägbarkeiten war mein Lebensgefährte von Anfang an gezwungen, viel Zeit, viele Abende und viele Wochenenden weitestgehend ohne mich zu verbringen. Wir sind beide sehr autarke Menschen, die auch ohne den anderen mit sich selbst absolut zufrieden sind – anders würde es in unserem Fall überhaupt nicht funktionieren, und doch mussten wir das erst schrittweise herausfinden.
Und ich wünsche mir, dass er rausgeht, etwas unternimmt, wenn es mir schlecht geht. Nie käme ich dazu, mir zu wünschen, er ginge nicht und teilte mit mir den Schmerz. Für mich ist in diesem Fall geteiltes Leid doppeltes Leid, und ich war schon immer jemand, der lieber allein gelitten hat.
Manchmal, in einer guten Phase von mehreren schmerzarmen Tagen, werde ich ein bisschen übermütig. Ich komme dem Menschen, der ich wäre, wenn ich keine Schmerzen hätte, ganz nah, kann ihn fast berühren. Der Druck auf meiner Brust löst sich.
»Heute geht es dir wieder gut, oder?«, sagt dann mein Lebensgefährte. »Deine Augen sind nicht mehr trüb, du siehst so glücklich aus.« Was muss auch er alles erdulden, auf was muss auch er alles verzichten?
In diesen schmerzarmen Phasen plane ich Unternehmungen, sage Dinge wie »Lass uns morgen essen gehen« und nicht »Falls es mir morgen halbwegs gut geht, wollen wir dann vielleicht essen gehen?«.
Ich recherchiere Termine für Ausstellungen, die mich interessieren oder trage mir Wochenenden für theoretische Besuche bei Freunden ein. So schnell wie diese Leichtigkeit, diese Euphorie gekommen ist, so schnell vergeht sie auch wieder. Der starke Schmerz kommt zurück. Und manchmal trifft mich das sehr, denn etwas in mir hofft doch immer noch. Diese paar Tage hatte ich wieder Einblick in ein anderes Leben, das hätte sein können.
Diese Tage und das Organisieren von Dingen, die ich gern täte, auch wenn es dann gar nicht zur Ausführung kommt, sind für mich sehr wichtig, sie sind eine Verschnaufpause.
Wir planen jedoch keine Urlaube mit komplizierter Anreise in heißem Klima oder hoher Luftfeuchtigkeit. Ich buche keine Tickets für interessante Kongresse. Ich überrede meinen Lebensgefährten nicht mehr, Events mit mir zu besuchen, für die verbindlich teure Karten gekauft werden müssen. Aber Dinge, die nicht die Welt kosten, die man stornieren oder verfallen lassen kann oder bei denen sich leicht ein anderer Interessent fände, die möchte ich auch weiterhin planen und mir das nicht nehmen (Kinokarten, kleine Konzerte in kleinen Läden, eine Museumsführung).
Manchmal habe aber auch ich ein Gefühl, das Vorfreude vielleicht am nächsten kommt. Es ist 16 Uhr und noch kein Migräneanfall, der im Hintergrund lauert? Dann wird es um 19 Uhr sehr wahrscheinlich möglich sein, meine Freunde zu treffen und ich spüre die Freude, die sich in mir ausbreitet. Meine Schmerzen lassen es heute nicht zu, mit dem Auto zu fahren oder in einem Restaurant zu sitzen? Dann entscheidet sich meine Freundin spontan, mich später daheim zu besuchen und ich bin stolz, dass sie für mich durch die ganze Stadt fährt, nur um mit mir bei einem Tee zusammenzusitzen.
Das Wochenende war nicht wie erhofft, ich bin nur im Bett gelegen, aber ich merke Sonntagmorgen, dass wir uns abends zusammen einen Film werden ansehen können, denn endlich hat sich der schlimmste Schmerz verzogen.
Es ist traurig, mich nicht mehr mit vollem Herzen auf etwas freuen zu können, aber es lässt sich nicht ändern. Wenn spontan etwas möglich ist, macht mich das sehr glücklich. Am Tag der Geburtstagsfeier einer guten Freundin wachte ich nach einer starken und langen Migräne morgens auf und wusste, heute kann es wieder funktionieren. Die Erleichterung und Dankbarkeit waren unbeschreiblich.
Mein Schmuck liegt oft ungenutzt in seiner Schatulle, die Kleider, eigentlich gemacht für rauschende Nächte, hängen zu häufig nur auf ihren Bügeln und all die kleinen Taschen, die auf meinem Schoß gerne Theateraufführungen lauschen möchten, schlafen ihren Winterschlaf.
Und trotzdem gebe ich nicht auf, auch weiterhin eine Veranstaltung in Betracht zu ziehen – denn einige wenige Male klappt es dann doch. Und diese Gelegenheiten habe ich dann in besonderer Erinnerung, sie tragen mich oft noch Wochen später durch eine starke Schmerzphase und sorgen dafür, dass ich auch weiter ab und zu ein schönes Kleid kaufe – irgendwann wird es sicher gebraucht.