Ich wurde einmal gefragt, ob ich im Schlaf Schmerzen habe. Sicher weiß ich es nicht, doch ich gehe davon aus, denn ich träume davon und wache manchmal deswegen auf. Was ich mit Gewissheit sagen kann, ist, dass die Schmerzen in dem Augenblick, in dem ich nachts aufwache, bereits da sind – und sei es nur für Minuten, wenn ich nachts ins Bad muss oder mein Fenster schließe.
Doch selbst nach so vielen Jahren vergesse ich manchmal über Nacht noch, dass ich chronische Schmerzen habe. Ich wache morgens auf und für einen Atemzug lang bin ich gesund, verwundert über das Wummern im Kopf oder das Stechen im Unterleib. Dann aber fällt es mir wieder ein. Vielleicht entfährt mir dann ein kleiner Seufzer, oder es kommt ein Druck, tief im Magen, vielleicht auch nichts davon, es kommt ganz darauf an, ob ich gerade in der Stimmung bin, mich zu bedauern.
Da ich berufstätig bin muss ich morgens, im Bett, manchmal viel entscheiden – und das gerade an Tagen, an denen ich nur liegen bleiben und nichts mehr entscheiden möchte. Ich muss abwägen, ob ich es denn mit oder ohne Medikamente schaffen kann, einen beruflichen Termin wahrzunehmen. Denn die Schmerzen sind das eine, habe ich aber auch Kreislaufprobleme (Schwindel, Zittern, ein Flattern im Magen), Muskelschmerzen und Übelkeit, sinken die Chancen – Auto beispielsweise fahre ich schon lange nur noch kurze Strecken und auch die öffentlichen Verkehrsmittel sind in vielen Zuständen unmöglich für mich zu verwenden. Bei manchen Attacken weiß ich gar nicht recht was ich rede – das ist auch keine Form, in der man sich beruflich präsentieren möchte.
Ein Mensch mit chronischen Kopfschmerzen oder Migräne darf den Schmerz an maximal zehn Tagen im Monat mit Tabletten behandeln, da sich sonst eine eigene Kopfschmerzform zu entwickeln droht (von der ständigen Belastung für die Organe einmal ganz abgesehen). Und leider gehöre ich zusätzlich den Menschen an, bei denen Triptane (spezielle Medikamente für Migräne) überhaupt nicht wirken und Schmerzmittel nur mäßig. Ich kann also nicht immer dann behandeln, wenn ich Schmerzen habe, und wenn ich behandle, ist unklar, ob es mir überhaupt ausreichend hilft.
Wenn ich Tabletten nehme, ist eine von zehn Möglichkeiten unwiederbringlich verloren, diesen Monat noch eine Attacke zu behandeln. Und es gibt keine Garantie, dass meine Tabletten heute auch ausreichend wirken. Manchmal sinkt der Anfall auch ohne Medikamente auf ein erträgliches Maß, wenn ich einen starken Kaffee getrunken, eine große Menge Magnesium geschluckt und eine lange Dusche genommen habe. Tut er das aber nicht, habe ich wertvolle Zeit verschwendet, in der ich etwas hätte einnehmen können, was vielleicht noch halbwegs gewirkt hätte. Meine Erfahrung zeigt mir mittlerweile zunehmend, ob Medikamente bei einer bestimmten Schmerzarzt überhaupt eine Chance haben oder ich es genauso gut sein lassen kann.
Ich muss darüber nachdenken, wie oft ich diesem Kunden schon abgesagt habe, wie wichtig der Termin ist und wie dringend. Wie groß an diesem Tag mein Wille ist (meist sehr groß), wie groß meine Kraft (oft nicht so groß).
Ich saß schon mit Eisbeuteln auf dem Kopf in Kundengesprächen (was niemanden störte), ich war schon in Telefonkonferenzen, die ich mit fadenscheinigen Begründungen unterbrach, weil ich mich sonst übergeben hätte. Oder ich hab sie mit Headset auf dem Rücken liegend geführt, weil mir zu schwindelig zum Sitzen war. Die Erleichterung am Ende eines sehr anstrengenden Arbeitstages ist für mich groß: endlich der Computer heruntergefahren, der letzte Text geschrieben, die letzte Farbe ausgewählt, die letzte Schrift gesucht, der letzte Task angelegt, zugewiesen oder geschlossen.
Sehr viele Arbeitstage kosten mich körperlich und oft auch mental Überwindung und große Disziplin. Ich befinde mich in einem Kopfschmerz-Epizentrum und muss dennoch gewissenhaft entscheiden, ob ein rötlicher Farbton vielleicht zu sehr ins Orange geht – wie froh bin ich, dass ich nicht operieren oder Kinder unterrichten muss.
Tage, an denen es mir von Beginn an sehr schlecht geht, sind einfacher, denn ich muss nichts abwägen, die Situation stellt sich unmissverständlich dar: es wird heute kein Meeting, keinen Telefontermin und keinen Entwurf geben, der Tag wird ohne mich vergehen.
Oft sind die schwersten Tage die, an denen es mir nicht eindeutig elend aber auch nicht eindeutig gut genug geht. Die Tage mit mäßigen Schmerzen, an denen ich viele Pausen und Ruhe bräuchte, die ich mir aber gerade nicht oder leisten kann oder will, fordern mich besonders.
Ich bemühe mich daher, immer ausreichend Zeit einzuplanen für jeden Auftrag. Ich kann an vielen Tagen nur zwei, drei oder sechs Stunden arbeiten. Anders als gesunde Menschen kann ich nicht davon ausgehen, ein Projekt in einer bestimmten Zeit sicher durchführen zu können, denn auch sechs oder acht oder zehn Tage Migräne am Stück sind für mich normal, und an diesen Tagen kann ich nur bruchstückhaft arbeiten.
Dennoch stelle ich fest, dass ich trotz meiner ständigen Schmerzen bei der Arbeit konzentriert bin und selten Fehler mache. Hinzu kommt, dass ich schnell arbeite, selbst während eines Migräneanfalls (ich spreche hier jedoch von den leichteren und mittleren Anfällen, mit denen viele chronische Migräniker noch zur Arbeit gehen). So gleicht sich mein gesundheitliches Defizit wenigstens wieder aus.
Hätte ich einen anderen Beruf, wäre ich unflexibler, gebundener, eingeengter in meiner Form des Arbeitens, ich könnte wohl schon lange nicht mehr berufstätig sein. Ich bin froh, dass ich mich damals aufgrund meiner Beschwerden so früh für die Selbstständigkeit entschieden und zufällig den Beruf der Grafikerin gewählt habe. Langes Stehen, starre Arbeitszeiten, Lärm, starke Gerüche, große Hitze oder Schichtdienst wären für mich schlicht unmöglich.
Wenn ich also aufwache und arbeiten muss, gilt es all das zu bedenken: Dinge spontan abzusagen, zu verschieben, sich zu entschuldigen. Kräfte richtig einzuteilen, Schmerzmittel richtig einzuteilen.
Durch meine Schmerzen, die Kreislaufprobleme, die Übelkeit, ist mein Körper auf eine Weise präsent, wie es wohl nur andere Betroffene kennen. Manchmal ist man fast nichts mehr, nur noch Körper. Ich habe den Schmerz immer dabei, so ist das nun einmal, doch meine Arbeit lenkt mich auch davon ab. Es ist nicht so, dass ich lieber nicht arbeiten möchte. Ich bin sehr froh, dass es möglich ist.