Es gab in meiner langen Krankheitsgeschichte einen Wendepunkt, der mir ein grundsätzliches Problem vor Augen führte, von dem ich gerne erzählen würde.
Es war der Morgen des 24. Dezembers und ich saß zittrig und wie so oft mit pochendem Nacken mit meinem Lebensgefährten am Frühstückstisch. Warum das Zittern? Weil die Weihnachtsfeier an diesem Tag bei uns zu Hause stattfinden sollte (wie jedes Jahr) und es erst 10 Uhr morgens war und ich mit meinen Nerven bereits völlig am Ende. Der ganze Dezember war ein sehr harter Monat für mich gewesen. Ich testete ein neues Medikament, das aus mir eine Art Zombie machte. Ich hatte ständig Migräne und beruflich war es ebenfalls sehr anstrengend.
Ich wünschte mir für Weihnachten einen perfekten Abend mit stilvoller Dekoration, Vorspeise, Hauptgang mit raffinierten Beilagen, Nachspeise. Sogar handgemachte Pralinen hatte ich vorbereitet. Ich hatte kleine Schildchen für jedes Geschenk und Geschenkpapier, das jeweils zur beschenkten Person passen sollte. Ich hatte neue Dekoration für den Weihnachtsbaum gekauft und teure Kerzen. Ich hatte bereits eine Woche vorher eine Liste erstellt mit all den Kleinigkeiten, die noch zu tun waren und nervte meinen grundsätzlich tiefenentspannten Lebensgefährten mit ständigen neuen Aufträgen.
Man darf nicht vergessen, es ging hier nur um einen Weihnachtsabend im Kreis der engsten Familie mit Eltern, Tante und Geschwistern. Und man muss dazu sagen, dass meine Familie nicht sonderlich anspruchsvoll ist: Meine Mutter versucht seit Jahren die Geschenke abzuschaffen, die Mutter meines Freundes wäre auch mit Kartoffelsalat und Wiener restlos glücklich, meine Schwester freut sich einfach, wenn ihre Tochter strahlt. Es könnte alles sehr unkompliziert sein, wenn da nicht ich wäre, die den 24. Dezember in eine Werbespot-Idylle verwandeln möchte – und sich vor Stress schon am Weihnachtsmorgen nichts mehr wünscht, als dass der Tag endlich vorbei wäre. Dazu kam die berechtigte Angst, ich könnte einen Migräneanfall bekommen – in einer Wohnung voll mit einem tobenden Kleinkind, Hunden und dem Rest der Familie.
Vor lauter Nervosität war mir ganz flau – und als mein Freund meinte »es wird doch sicher trotzdem ganz schön, auch wenn es dir nicht gut geht machen wir uns einen schönen Tag«, da platzte es aus mir heraus, völlig untypisch für mich. »Für euch vielleicht, aber was soll für mich denn schön sein an diesem Tag, ich kann jetzt schon nicht mehr und ich bekomme wieder Migräne und will nur noch, dass es vorbei ist und ich meine Ruhe habe.«
Mein Freund war sprachlos, denn so direkt war ich selten, und nachdem wir uns eine Weile angeschwiegen hatten, wagte er vorsichtig den Vorschlag zu unterbreiten, meine Mutter anzurufen und zu fragen, ob wir nicht bei ihr feiern könnten. Das Essen brächten wir mit, das Haus hätte sie eh geputzt und ich könne gehen oder mich in mein altes Kinderzimmer zurückziehen wann immer ich wollte.
In dem Moment, als er diesen Vorschlag machte, spürte ich, dass alles in mir aufatmete. Dass bei dem Gedanken, einfach um 16 Uhr in ein Auto zu steigen und zu meiner Mutter zu fahren und für nichts mehr verantwortlich zu sein, alles leichter wurde und ich mir vorstellen konnte, doch noch einen schönen Tag zu haben.
Ich war erstmals bereit gewesen, anderen auch etwas Arbeit zuzumuten, um es mir selbst einfacher zu machen
Und, ebenfalls ganz untypisch für mich, rief ich meine Mutter auch wirklich an und erklärte ihr die Situation und fragte sie, ob es denn nicht zu viel Stress wäre für sie – aber ich hörte nicht den geringsten Zweifel aus ihrer Stimme, als sie sagte: »Natürlich machen wir es so, wir machen es genauso, wie du vorschlägst, wenn es dir dann besser geht.«
Als das geklärt war, hatte sich etwas gelöst in mir und in meinem Nacken und mein Freund bereitete ohne mich die Gans zu und belud ohne mich das Auto und wir fuhren zu meiner Mutter und ich hatte keinen Migräneanfall an diesem Abend.
Diese Erfahrung war für mich bahnbrechend: Ich war erstmals bereit gewesen, jemand anderem auch etwas Arbeit oder etwas Umstände zuzumuten, um es mir selbst einfacher zu machen. Ich hatte akzeptiert, dass dieser Tag auch schön werden konnte, wenn er anders verlief als von mir geplant. Dazu kam die Erkenntnis, dass ich mir viel zu viel zugemutet hatte für meine Verfassung und eigentlich nichts als Ruhe gebraucht hätte.
Für mich persönlich war dieses winzige Erlebnis so einschneidend, dass es in mir nachhaltige und tiefe Veränderungen bewirkte. Jahrelang hatte ich meine Schmerzen zunächst gehasst, dann geduldet – aber ich hatte sie als etwas von mir völlig Getrenntes betrachtet, das mich marterte, auf das ich keinerlei Einfluss hatte und gegen das ich unentwegt ankämpfte. Dieses Gefühl der sich lösenden Anspannung, die buchstäblich meinen Nacken hinabfiel, das Gefühl, etwas abgeben zu können, habe ich nicht mehr vergessen. Und ich begann nun infrage zu stellen, zu was ich mich alles in verschiedensten Lebensbereichen zwang und was davon wirklich notwendig war (wichtige berufliche Termine beispielsweise) und bei was ich mir nur einbildete, es hätte eine unbedingte Notwendigkeit.
So fand ich heraus: Ich war gar kein Mensch, der Massenaufläufe mochte, oder Spaßbäder, oder Verabredungen früh morgens oder sehr spät abends. Ich mochte es auch nicht, schon wochenlang im Voraus verplant zu sein. Ich gestand mir ein, dass ich nicht nur einfach gerne allein bin und es schätze, meine Ruhe zu haben, sondern dass ich es richtiggehend brauche – nicht nur, weil ich krank bin, sondern weil ich einfach so bin. Und dass es völlig in Ordnung ist, das auch zu kommunizieren. Dass es mir niemand krumm nimmt.
Die Abende oder Tage, an denen ich ganz allein bin, bedeuten für mich ein Auftanken. Ich lese, so lange ich will, ich sehe mir an, was ich will. Ich kann Migräne haben und keinen kümmert es, keiner ist deswegen betrübt – ich hatte ja sowieso nicht vor, etwas zu machen. Ich sehe gerne einfach eine halbe Stunde aus dem Fenster und denke dabei, was ich will und höre nicht einmal Musik. Ich hatte keine Ahnung, wie groß dieses Bedürfnis war. Und dann gehe ich auch wieder gerne vor die Tür und unternehme etwas und freue mich darauf, meinem Lebensgefährten von meinem Tag zu erzählen, wenn er spät abends nach Hause kommt.
Ich habe begonnen, mindestens eine halbe Stunde an jedem Tag, an dem es gesundheitlich möglich ist, spazieren zu gehen. Mal schleiche ich mehr, weil die Erschütterung schmerzt, mal gehe ich energisch und schnell. Ich wusste nicht, wie befreiend das sein kann. Und ist kein Mensch in der Nähe und ich fühle mich danach, brülle ich auch mal all meine Wut in den Himmel. Überhaupt brülle ich sehr viel mehr (wenn niemand zuhört, zum Beispiel beim Autofahren). Es ist wunderbar.
Ich muss natürlich arbeiten, daran führt kein Weg vorbei, aber ich muss (außer es geht nun gar nicht anders) in meinem Beruf keine Termine vor 11 Uhr wahrnehmen, weil früh aufstehen für mich eine Qual ist. So kann ich meinen Schlaf-Wach-Rhythmus am Wochenende genauso gut einhalten wie unter der Woche und damit geht es mir gesundheitlich besser.
Jahrelang habe ich immer wieder verschiedenste Entspannungstechniken ausprobiert, denn Entspannung, das erzählt einem jeder, ist das A und O. Bei Migräne wie überall sonst auch. Doch mit keiner Technik konnte ich mich dauerhaft anfreunden, bis ich die Meditation für mich entdeckte. Und ich vermute, es liegt daran, dass man dabei nichts muss. Keine Muskeln anspannen und entspannen, nichts imaginieren oder erwärmen oder ausdehnen oder mit Licht fluten. Man liegt oder sitzt einfach und atmet. Und im besten Fall denkt man nichts. Und es darf einem so gehen, wie es eben gerade geht, und geht es einem anschließend genauso schlecht oder sogar schlechter, dann ist das ok, denn es gibt kein Ziel und daher auch keinerlei Versagen. Und überall, wo es kein Versagen gibt, da fühle ich mich besonders wohl.
Ich lerne, auf mein Bauchgefühl zu vertrauen (was nicht so einfach ist, wenn man aufgrund seiner Situation Ängste kennt, die jedes Gefühl verfälschen). Und ich lerne, dass es ok ist, wenn man Dinge noch etwas liegen lässt, sie später macht oder auch gar nicht – denn manchmal erledigt sie in der Zwischenzeit auch einfach ein anderer, auf seine Art, und das ist nicht unbedingt schlechter, als man selbst es getan hätte.
Doch was hat mir das nun konkret für meine Schmerzen gebracht? Dadurch, dass ich mir viel mehr Zeit nehme für mich und die Erholung, regeneriere ich schneller und kann leichte Anfälle auch mal stoppen, wenn ich sofort alles stehen lasse, mich hinlege und die Augen schließe. Wenn ich mich aus allem herausnehmen kann, dauern sie auch nicht mehr den ganzen Tag oder sind nicht ganz so heftig. Durch weniger Termine und Verpflichtungen empfinde ich weniger Anspannung, denn es gibt weniger Gelegenheiten, an denen ich mich zwingen muss oder Angst habe, etwas körperlich nicht zu schaffen – und Stress ist für mich Gift. Ich mache weniger und schaffe doch mehr.
Anmerkung: Mit dieser Folge endet unsere Schmerz-Kolumne. Wir bedanken uns bei allen Lesern.