Vielleicht hilft es Christoph Englert, dass er ein leidenschaftlicher Läufer ist: Dem Mann geht die Puste nicht so schnell aus. Auch nicht bei einem zähen Geschäft wie der Altersforschung: Für die Experimente an Fischen, Hefen oder Nacktmullen braucht man viel Geduld. Der Genetiker Englert, 52, gilt als einer der besten seines Fachs. Am Leibniz-Institut für Altersforschung in Jena untersucht er an seltenen Fischarten, was genau beim Altern passiert, welche Gene dafür verantwortlich sind - und wie sich die gewonnenen Erkenntnisse möglicherweise auf den Menschen übertragen lassen.
SZ-Magazin: Herr Englert, können Sie uns bitte Helmut Schmidt erklären?
Christoph Englert: Was verstehen Sie an dem nicht?
Warum lebt der Mann noch? Er raucht eine halbe Zigarettenfabrik pro Tag.
Er hat offenbar gute Gene. Da sind Sie sofort bei der Grundsatzfrage: Wie viel am Altern ist umweltbedingt, wie viel ist genetisch bedingt? Es gab vor zwei, drei Jahren eine Familie in den USA, vier Geschwister, die alle über 100 wurden. Extrem selten. Das allein spricht schon dafür, dass es da eine starke genetische Komponente gibt. Und die haben Fast Food gegessen, geraucht bis zum Schluss - und trotzdem sind sie so alt geworden. Auch Schmidt muss eine Kombination von Genen geerbt haben, die ihm erlauben, entgegen seinem Verhalten älter zu werden als der Durchschnitt von uns allen.
Über die Wichtigkeit der Gene liest man völlig Unterschiedliches. Manche Artikel sprechen von gerade mal 20 Prozent.
Schon klar. Die Idee, dass ein einzelnes oder auch fünf Gene darüber entscheiden, wie alt wir werden, wäre naiv. Die Gene setzen uns einen Rahmen, einen maximalen Möglichkeitsraum des Alters, das wir erreichen können. Aber ob wir diesen Rahmen ausfüllen oder nicht, entscheiden wir durch unser Verhalten und durch die Umwelt, in die wir uns begeben.
Kann man bewerten, was wichtiger ist, Gene oder Umwelt?
Nein, es kommt immer auf das Zusammenspiel an. Ein Beispiel: Sie können Würmer herstellen, die isogen sind. Das heißt: Die haben alle die gleiche, fast identische genetische Konstitution. Wenn man diese Würmer unter identischen Umweltbedingungen hält, dann könnte man vermuten, dass sie alle am gleichen Tag sterben - tun sie aber nicht. Es gibt eine riesige Spanne. Obwohl sie die gleichen Gene haben. Damit ist übrigens auch klar, dass es nie möglich sein wird, sich sein Genom aufschlüsseln zu lassen und damit den eigenen Todeszeitpunkt vorauszusagen.
Ganz grundsätzlich: Was ist Altern?
Wir definieren Altern als einen kontinuierlichen und irreversiblen Prozess, der mit dem Nachlassen von Organfunktionen zu tun hat. Viel konkreter kann man nicht werden.
Warum nicht?
Weil es zu dem Thema etwa 300 Theorien gibt, und Sie bekommen von jedem Forscher eine andere Antwort. Es gibt aber im Wesentlichen zwei Aspekte, die alle Forscher gleichermaßen beschäftigen. Das eine ist der Versuch, die molekularen Grundlagen des Alterns an sich zu verstehen: Welche Gene spielen da eine Rolle? Der andere große Bereich sind altersassozierte Krankheiten. Herz- und Gefäßkrankheiten, neurologische Krankheiten, Demenz, Krebs.
Gehört dazu auch die Frage, warum wir altern? Warum alles altert?
Warum-Fragen sind Philosophie, die werden in der Biologie nicht so wirklich erforscht. Da stecken ja zwei Aspekte drin: Was hat das eigentlich für einen Sinn - und was sind die Gründe dafür? Zur Sinnfrage kann man sagen: Vermutlich ist unsere Verweildauer auf der Erde begrenzt, weil es nur begrenzte Ressourcen gibt, und weil es das Interesse der, tja, Natur oder Evolution ist, dass es weitergeht. Mein Interesse ist also, meine Gene weiterzugeben, und wenn ich meine Nachkommen großgezogen habe, kann ich eigentlich weg, dann bin ich nicht mehr von Nutzen.
Frauen kommen mit zirka 50 in die Menopause, können dann aber noch 100 werden. Das wäre nach dieser Theorie unsinnig, oder?
Untersuchungen zeigen, dass das Lebensalter von Frauen nicht nur in Zusammenhang steht mit der Anzahl der eigenen Kinder, sondern auch mit der der nächsten Generationen: Eine Aufgabe von uns Menschen besteht also nicht nur darin, unsere eigenen Kinder zu zeugen und großzuziehen, sondern auch darin, sich um die übernächste Generation zu kümmern.
Sozusagen ein Oma-Prinzip?
Genau.
Jetzt die andere Seite: Warum altern wir, technisch gesehen?
Dazu müsste man klären: Gibt es vielleicht eine Art Programm für das Altern? Man neigt heute dazu zu sagen, nein, gibt es nicht. Es gibt zwar ein genetisches Programm für Entwicklungen in jedem Organismus. Wie ein Herz angelegt, wie die Körperachsen definiert werden, folgt einem genetischen Programm. Für das Altern gibt es aber vermutlich kein definiertes genetisches Programm. Es hat eher etwas mit Vernachlässigung zu tun. Funktionen sind nicht mehr wichtig und werden abgebaut.
Klingt schlüssig, aber damit kann der Mensch sich offensichtlich nicht einfach abfinden.
Deshalb wollen es natürlich viele ändern. Viele Altersforscher betreiben Regenerationsforschung. Denn nur weil Altern irreversibel und kontinuierlich ist, bedeutet das nicht, dass man es nicht verlangsamen könnte. Das kann man sicher.
»Wir müssen mit diesen Klischees aufräumen, sie werden doch auch unserer Gesellschaft überhaupt nicht mehr gerecht«
Wäre es wünschenswert, dass der Mensch älter wird?
Es gibt diese schöne Rede von Steve Jobs, in der er sagt: Der Tod ist die beste Erfindung, die es jemals gegeben hat, nur angesichts unserer Endlichkeit, unserer Sterblichkeit machen wir überhaupt irgendetwas. Ich persönlich bin gar nicht überzeugt, dass wir noch älter werden sollten. Wir gehören als Menschen zu den langlebigsten Lebewesen auf der Erde, ungefähr Platz fünf. Nur ganz wenige Lebewesen werden überhaupt älter als wir.
Gibt es etwas am Altern, was gut ist?
Ich glaube, dass im Älterwerden jede Menge positive Dinge stecken - für einen persönlich, aber auch für die Gesellschaft. Firmen stellen mittlerweile Leute ein, die älter, erfahrener, abgeklärter, souveräner sind. Eigenschaften, die mit dem Alter kommen. Ich merke es ja an mir selbst. Meine pubertierende Tochter hätte mich vor 15 oder 20 Jahren auf die Palme gebracht. Jetzt sage ich: Ja mei.
Altern gilt dennoch vielen als negativ: schwächend, anstrengend, zermürbend.
Dieses Bild, dass alles notwendig schlechter wird, ist falsch. Das geht schon bei so negativen Begriffen wie dem von der »überalterten Gesellschaft« los. Das gibt es in anderen Kulturen nicht so. Als älterer Mensch ist man ohne weiteres in der Lage, eine Sprache oder Klavierspielen zu lernen. Wir müssen mit diesen Klischees aufräumen, sie werden doch auch unserer Gesellschaft überhaupt nicht mehr gerecht!
Die älteste Frau der Welt, Jeanne Calment, ist 122 Jahre alt geworden und hat mit 85 Jahren angefangen zu fechten.
Ja, warum auch nicht? Mit 100 fuhr sie noch Fahrrad!
Wann beginnt das Altern?
Mit dem Augenblick, in dem sich Samenzelle und Eizelle vereinigen. Altern kann man auch definieren als Verlust von Möglichkeiten. Und schon in den ersten Stunden unseres Lebens verlieren manche Zellen Fähigkeiten - das ist nichts anderes als Altern. Wir altern im Grunde ab der Zeugung.
Gibt es eine maximale Lebensspanne?
Ja, wenn man verschiedene Spezies anschaut, egal, ob Eichhörnchen oder Mensch, dann scheint es immer eine Maximalgrenze zu geben, die nicht überschritten wird. Für uns Menschen scheint die bei 120 Jahren zu liegen. Das steht sogar in der Bibel, Buch Genesis. Dieses Alter muss also damals schon vorgekommen sein.
Was ist dran an der Faustregel, dass die Lebenserwartung jedes Jahr um drei Monate steigt?
Die stimmt - im Augenblick scheint diese Kurve aber abzuknicken. Das liegt, vermutet man, vor allem an der zunehmenden Fettleibigkeit in den westlichen Ländern, die gab es so früher nicht.
Welche Wege geht die Wissenschaft, um das Altern zu verlangsamen?
Wir untersuchen etwa, wie sich das Altern einzelner Organe beeinflussen lassen könnte. In den meisten Organen sind die Stammzellen bereits identifiziert. Wir wissen, dass sich bei Tieren auch Organe regenerieren können, die das beim Menschen nicht können. Zum Beispiel die Niere. In Deutschland warten zurzeit viele Tausende Patienten auf eine Spenderniere. Bei Fischen kann die Niere sich selbst reparieren. Leider ist das nicht zu 100 Prozent übertragbar. Meine Theorie ist, dass die Regeneration beim Menschen aktiv unterdrückt wird.
Und warum?
Wenn wir ständig alles regenerieren könnten, würden wir noch mehr Tumore und unkontrollierbare Krankheiten kriegen. Wo sich Zellen neu aufbauen, kann auch viel falsch laufen. Wir müssten diese Unterdrückungsmechanismen verstehen lernen. Gibt es so etwas wie einen Schalter, den wir gezielt umlegen können? Es gibt Hinweise, aber wir sind von eindeutigen Antworten noch weit entfernt. Statistiken zeigen ganz klar: In jungen Jahren ist die Tumorhäufigkeit noch gering, mit den Jahren steigt sie dramatisch an. Besonders nachdem die reproduktive Phase vorüber ist. Dann kann der Körper offenbar machen, was er will.
Unser Körper wendet sich gegen uns selbst?
Eine Theorie ist, dass es sogenannte pleiotrope Effekte gibt: Dabei geht es um Gene, die in der Jugend eine positive Funktion haben - aber später eine negative Auswirkung. Beispiel: Ein Gen, das die Fruchtbarkeit erhöht, also eher positiv ist, kann aber Krebsarten wie Prostata- oder Brustkrebs fördern, wenn die reproduktive Phase vorbei ist. Ob es da Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, wie genau das abläuft - das ist noch Spekulation.
Wir sind geschützt, solange wir reproduktiv sein können - heißt das: Sexualität und Altern stehen in direktem Zusammenhang?
Ja, nehmen Sie die Hydra, ein Süßwasserpolyp. Pflanzt sich ungeschlechtlich fort. Und altert nicht! Wenn Sie das Tier jetzt stressen, Futter wegnehmen, Wasser kalt machen, dann entwickeln sich plötzlich Männchen und Weibchen. Dann bildet die Hydra Geschlechtsteile und Eizellen aus, vermehrt sich geschlechtlich - und dann altert sie plötzlich. So gesehen ist Altern der Preis für Sexualität. Übrigens auch Hefen: Die pflanzen sich ungeschlechtlich fort - und sind quasi unsterblich.
Bringt aber dem Menschen nichts.
Nein. Da kommt dann gern mal die Frage, ob Klosterbrüder, die sexlos leben, älter werden. Aber ich fürchte, das geben die Daten nicht her. Falls die älter werden, liegt's eher am gesunden Lebenswandel.
»Was die Alten mitbringen, ihre Erfahrung, sollten wir auch in die Mitte der Gesellschaft holen.«
Nein, das ist kein Altersforscher. Aber die echten Altersforscher arbeiten daran, dass dieser unbekannte Herr auch im Alter noch was vom Leben hat.
Warum altern Männer und Frauen unterschiedlich?
Ganz ehrlich: Das wissen wir nicht. Die schnelle Antwort ist: Irgendwas mit den Hormonen. Aber das ist ein ziemlich unterbelichtetes Forschungsgebiet. Es gibt da nur ein paar anekdotische Beobachtungen. Beim Fadenwurm zum Beispiel: Der hat eine exakte Anzahl an Körperzellen, 959, deshalb lässt er sich gut erforschen. Und von jeder Zelle kennt man genau das Zellschicksal: Wann ist sie entstanden, aus welcher Zelle, man kennt den zellulären Stammbaum exakt. Wenn Sie bei diesem Wurm die Geschlechtsteile mit einem Laser wegschießen, dann wird er plötzlich älter. Faszinierend!
War es über Jahrhunderte nicht so, dass die Männer wegen der Arbeit, wegen der Lebensbedingungen kürzer lebten als die Frauen?
Ach, das ist doch nur ein Argument, das Männer benutzen, um zu sagen: Schaut her, Frauen, wir arbeiten viel härter als ihr! Tatsächlich gibt es Daten, die zeigen, dass Frauen bei Krankheiten wie Schlaganfall oder Herzinfarkt längst zu den Männern aufgeschlossen haben. Bei den Tieren, mit denen wir forschen, machen wir keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen, wir halten sie unter identischen Bedingungen - und dennoch findet man auch dort Unterschiede, wie Männchen und Weibchen altern. Das spricht nicht dafür, dass Männer wegen des Jobs früher altern. Sondern dass dies im weitesten Sinne genetische Gründe hat.
Wird es irgendwann eine gute Antwort auf die Frage geben, warum Frauen älter werden als Männer?
Ich glaube schon, dass wir da mit den Hormonen weiterkommen. Männer und Frauen haben ja weitestgehend das gleiche genetische Muster, abgesehen von ein paar geschlechtsspezifischen Genen. Man kann durch sogenannte transgene Experimente, in denen man Männchen in Weibchen und Weibchen in Männchen verwandelt, in diese Richtung forschen. Klingt zwar jetzt komisch, ist aber bei einer Spezies wie der Fruchtfliege machbar. Dann aktiviert man bei einem Männchen ein Gen, das bei Weibchen eine Rolle spielt, und schaut: Wie altert es jetzt? Da wird in den nächsten Jahren viel passieren.
Die Medizin versucht Alterskrankheiten zu bekämpfen. Was dabei verlängert wird, ist allerdings die Phase des Altseins. Es wird also nicht die Lebenszeit mit 30 oder 40 verlängert, sondern mit 80 und 90, wo vieles schwieriger wird. Arbeitet die Wissenschaft da gegen sich selbst?
Das Problem sehe ich auch. Wenn wir die Lebensspanne erhöhen, und zum Beispiel Alzheimer ab einem bestimmten Alter einfach mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit losgeht, dann wird das Heer derer, die unter der Krankheit leiden, riesig werden. Die Politik muss sich darauf einstellen, dass in unserer Gesellschaft der Anteil derer, die an Alterserkrankungen leiden, größer wird.
Befassen Sie sich als Altersforscher auch mit den gesellschaftlichen Aspekten des Alters?
Ja - und ich glaube, dass wir unsere Gesellschaft verändern müssen. Nicht von heute auf morgen, aber langfristig. Das Problem, das wir »Überalterung« nennen, lässt sich nur lösen, wenn wir als Biomediziner uns zusammentun mit Soziologen, mit Psychologen, mit Architekten, mit Städtebauern. Wenn wir Biomediziner dazu beitragen, dass die Menschen immer älter werden - wollen wir die dann alle weiterhin in Altersheime irgendwo weit weg in der Peripherie stecken? Oder muss man nicht überlegen, wie man alte Menschen in das Zentrum der Städte integriert?
Das Wohnen in den Innenstädten ist teuer.
Das muss es uns wert sein! In Saalfeld wurde gerade ein Haus altersgerecht umgebaut, eine alte Kartonagen-Fabrik mitten in der Stadt - absolut beeindruckend. Oben ein Café mit einem super Ausblick über die Stadt, unten eine Pflegestation. Da würde jeder von uns gern drin wohnen. Über solche Sachen muss man auch nachdenken - ebenso wie über Modul-Bauweisen für Häuser: Wenn man drei Kinder hat, wird ein Stockwerk eines Hauses Kinderzimmer, wenn die Kinder aus dem Haus sind, kann das problemlos umgestaltet werden, bis hin zum Pflegezimmer im Alter.
Wenn Sie selbst eines Tages nach heutigem Verständnis alt sind, werden die Alten die größte Gruppe der Gesellschaft sein.
Das ist eine Transformation der Gesellschaft. Und die ist auch gar nicht negativ. Was die Alten mitbringen, ihre Erfahrung, sollten wir auch in die Mitte der Gesellschaft holen. Die Leute, vor denen wir Respekt haben, sind doch immer Alte. Da sind Sie wieder bei Helmut Schmidt.
Die Realität sieht so aus, dass eine ganze Anti-Aging-Industrie ihr Geld mit der Angst vor dem Alter verdient. Was ist dran an deren Versprechen?
Nichts. Alles Quatsch. Aber hundertprozentig!
Wirklich? Kein einziges sinnvolles Produkt auf dem Markt?
Nein. Es gibt Produkte, die vorübergehend kosmetische Effekte erzielen, ja, aber darüber hinaus ... In den USA kann man etwas kaufen, was verspricht, die Telomere - das sind die Enden unserer Chromosomen, die im Laufe des Lebens kürzer werden - zu verlängern. Aber Telomerase, ganz egal ob als Pille oder Saft, wird nie den Weg in den Zellkern finden, wo sie eigentlich arbeiten müsste, dafür bräuchten Sie hochkomplizierte medizinische Technik. Als Wissenschaftler sträuben sich einem da sämtliche Haare. Wie man auch nur einen Cent dafür ausgeben kann!
Also - was können wir tun, um alt zu werden?
Versuchen, alles irgendwie ins Gleichgewicht zu bringen. Jeden Tag zurückblicken zu können und sagen zu können: Hey, das war ein guter Tag. Du hast nicht zu viel Sachen gemacht, die du nicht magst, du musstest dich nicht am Morgen aus dem Bett quälen - ich bin überzeugt, das ist viel gesünder als alle Pillen.
Foto: FLI, Thomas Mailaender